09.12.2022Beitrag

Deutschlands Resilienz stärken. Europas Souveränität sichern.

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Der menschenverachtende, völkerrechtswidrige Angriff Russlands jährt sich bald zum ersten Mal und richtet fortwährend unvorstellbare Verwüstungen in der Ukraine an. Mehr als 15 Millionen Ukrainer befinden sich seit dem 24. Februar 2022 auf der Flucht; mehr als 17.000 Zivilisten sind bis dato gestorben; Schulen, Universitäten, Parks und Krankenhäuser mutwillig zerstört; Familien unwiderruflich zerrissen. Ein schnelles Ende des Konfliktes ist nicht in Sicht.

In Städten wie Kherson, Kiew und Butscha wächst eine ganze Generation unter dem zermalmenden Eindruck des Terrors auf. Aktuell zielt Russland mit seinen Angriffen bewusst auf die kritische Infrastruktur seines Nachbarlandes. Fehlende Wärme, abgeschnittene Wasserversorgung und Stromausfälle im Winter sollen erreichen, was die systematischen Kriegsverbrechen zuvor nicht vermocht haben: das Brechen des Widerstandswillens der Ukrainer, um so die mindestens faktische Anerkennung Russlands illegaler territorialer Ansprüche durchzusetzen und somit quasi die Akzeptanz des Rechts des Stärkeren statt des Völkerrechts in den internationalen Beziehungen zu verankern. Es gibt Politiker in unserem Land, die das – natürlich mit Friedensappellen verbrämt – immer noch direkt oder indirekt unterstützen, indem sie der Ukraine militärische Hilfe versagen wollen.

Unter der erdrückenden Realität dieses Krieges hat ein politisches und industrielles Umdenken in Europa stattgefunden. Bereits wenige Tage nach Beginn des Krieges hat Bundeskanzler Olaf Scholz eine „Zeitenwende“ im deutschen Umgang mit Sicherheits- und Außenpolitik ausgerufen. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil hat in einer viel beachteten Grundsatzrede blinde Flecken im Umgang mit Russland in der Vergangenheit benannt.

Rückblickend wäre es denkbar bequem, die deutsche Russland-Politik der vergangenen Jahrzehnte kategorisch als aussichtslos oder naiv anzuprangern. Dabei ist es wichtig, genauer hinzusehen: Der Ansatz, weitere russische Aggressionen durch eine Mischung von diplomatischen und wirtschaftlichen Maßnahmen zu verhindern, war von guter Absicht geprägt und nicht per se beziehungsweise a priori unrealistisch. Er wurde jedoch weder konsequent umgesetzt, noch wurde genug für eine glaubhafte militärische Abschreckungsfähigkeit unternommen.

Das Hinwegsehen über Russlands wiederholte Feindseligkeiten wurde – vor allem in Deutschland – außerdem von einem Appeasement begleitet, das bei ehrlicher Betrachtung eher am Erhalt der Friedensdividende und der günstigen Rohstoffversorgung als an Risikomanagement und der strategischen Prävention von Konflikten interessiert war: Hätten sich Deutschland, Frankreich und Großbritannien schon 1990 auf ein verbindliches Niveau der Verteidigungsausgaben von 2 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes geeinigt und seither daran gehalten, dann hätte Frankreich bis heute etwa 80 Milliarden US-Dollar und das Vereinigte Königreich zirka 180 Milliarden US-Dollar einsparen können, weil sie das Ziel übererfüllten. Deutschland hingegen hätte um die 600 Milliarden US-Dollar zusätzlich aufwenden müssen.

Dieses Desinteresse an der eigenen Verantwortung – für die eigenen Streitkräfte, für eine gesicherte, diversifizierte Rohstoff- und Energieversorgung aber auch bezogen auf die Rolle Deutschlands in Europa – ist ein definierendes Merkmal unserer Entscheidungsfindung der letzten Dekaden.

Selbstverständlich darf die Antwort auf russischen Revanchismus nicht der Rückfall in nationales Denken sein, sondern muss in verstärkter europäischer Zusammenarbeit liegen. Natürlich ist es unerlässlich, dabei stets auch auf gegenseitige Handelsbeziehungen und kulturelle Annäherung zu setzen. Aber diplomatische Verhandlungen mit Autokratien haben nur dann eine Chance auf Wirkung, wenn sie mit hinreichenden militärischen Mitteln und dem Willen, seine Werte zu verteidigen, hinterlegt sind. Dazu waren wir – zumindest bisher – jedoch weder gesellschaftlich noch politisch oder ökonomisch bereit.

Um aus dieser selbstverschuldeten Wehrlosigkeit auszubrechen, ist es zunächst unerlässlich, dass wir uns konkret mit den Lektionen des aktuellen Konfliktes beschäftigen. Dies gilt zum einen für die politischen und militärischen Entscheidungsträger hierzulande; aber auch für uns als Vertreter der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Wer sich mit Analysten der NATO oder der Streitkräfte unterhält, kann einen ersten Eindruck davon gewinnen, welch fundamentale Rolle moderne Technologie in diesem immer noch so archaischen Krieg spielt: Der russische Aufmarsch wurde mit Satelliten in Echtzeit überwacht, die USA teilten aktiv Geheimdienst-Bilder, um Russlands Narrativ einer ukrainischen Provokation zu delegitimieren. Die Ukraine nutzt westliche Satellitentechnik, um über soziale Medien die Familien der russischen Soldaten anzusprechen und sie aufzufordern, ihre Regierung zur Beendigung des Krieges zu bewegen. Vor allem nutzen die ukrainischen Streitkräfte umfänglich Drohnen, um versteckte feindliche Truppen und Fahrzeuge aufzuspüren und auszuschalten.

Was unsere Industrie betrifft, so sehen wir uns seit Kriegsbeginn einer sprunghaft angestiegenen Anzahl und Qualität von Cyber-Attacken ausgesetzt. Nichts hiervon geschieht isoliert – es gibt ein nahtloses Zusammenspiel neuer und bestehender Angriffe über sämtliche Domänen der Kriegführung („Multi Domain Operations“) hinweg; also der vernetzten Operationsführung mit hohen Ansprüchen an Sicherheit, Resilienz und Latenzzeiten.

Kein europäisches Land verfügt heute über derlei Ressourcen, alleine, adäquat und technologisch auf diese Form der Kriegführung zu reagieren. Deswegen sind die Zeiten großer nationaler Entwicklungsprogramme mit hohem Anspruch an Vernetzung unwiederbringlich vorüber. Programme wie das 2017 von Deutschland und Frankreich initiierte und inzwischen gemeinsam mit Spanien weiter verfolgte „Future Combat Air System“ (FCAS) – ein vernetztes Luftkampfsystem inklusive eines neuen Kampfflugzeugs – oder das deutsch-französische „Main Ground Combat System“ (MGCS), die Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Kampfpanzers, sind der einzige Weg, um mittelfristig nicht in eine erneute strategische Abhängigkeit zu gelangen.

Dies muss die zweite Lektion aus dem aktuellen Konflikt sein. Mehr noch als die Wiederentdeckung unserer Verteidigungsfähigkeit brauchen wir eine ernsthafte Rückbesinnung auf unsere strategische Autonomie.

Mit Beginn des russischen Angriffskrieges war es der Bundesrepublik nur unter großen Beschwernissen möglich, sich aus ihrer einseitigen Abhängigkeit von russischen Energieträgern zu lösen. Die Folgen dürften Lesern eines Blogs zur politischen Ökonomie zur Genüge bekannt sein: steigende Kraftstoffpreise, tägliche Diskussionen um die Füllstände deutscher Gasspeicher, zähe Verhandlungen zur Errichtung von LNG-Terminals in der Nordsee, eine drohende Deindustrialisierung und anhaltende Bemühungen, in wenigen Tagen über Jahrzehnte gewachsene Dependenzen zu entknüpfen.

Genau solche Abhängigkeiten schaffen wir aber zunehmend im Bereich der Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit. Es ist geradezu paradox. Auch hier versuchen wir in Europa seit Jahren, unter dem Leitbegriff der strategischen Autonomie, unsere Abhängigkeit von globalen Supermächten zu lösen. Dennoch war es bis vor kurzem geradezu populär, Europa den souveränen Zugang zu Schlüsseltechnologien im Verteidigungsbereich im Namen falsch verstandener Nachhaltigkeit systematisch abzusprechen.

 

Eine A400M der Luftwaffe auf dem Fliegerhorst Neuburg/Donau bei der Rückkehr von der Verlegeoperation „Rapid Pacific“ Anfang Oktober 2022, Copyright: Martin Agüera / Airbus

 

Noch 2021 hat eine schwedische Bank Aktien unserer Industrie auf eine Stufe mit Pornographie und Tabak gestellt und aus ihren Fonds ausgeschlossen. Auf EU-Ebene definierte die Arbeitsgruppe zur sozialen Taxonomie uns als gesellschaftsschädigend und schlug vor, dass Verteidigung grundsätzlich nicht als nachhaltig gelten sollte. Vor allem mittelständische Unternehmen sahen sich zunehmend mit Schwierigkeiten konfrontiert: Landesbanken wollten Lieferungen von „Kriegswaffen“ selbst dann nicht finanzieren, wenn sie vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle genehmigt wurden. Auch bei Airbus erging es uns nicht viel besser: Bei der Evakuierung Kabuls nutzte die Bundeswehr unser Transportflugzeug A400M, um mehr als 5.000 Menschen nach Deutschland zu retten. Zeitgleich verweigerte ein weltweit führendes Logistikunternehmen den Transport von dringend benötigten Ersatzteilen für diese Maschinen – aus „moralischen“ Gründen.

Die gute Nachricht ist, dass die Versuche, unsere Industrie zunehmend zu stigmatisieren, seit Kriegsbeginn merklich weniger geworden sind. Mehr noch, es ist ein klares und aktives Umdenken erkennbar – verbunden mit der bereits erwähnten Zeitenwende und dem dafür in Aussicht gestellten Sondervermögen für die Bundeswehr.

Um den unmittelbaren Bedarf der Streitkräfte zu decken, plant die Bundesregierung die Ausgabe zweistelliger Milliardenbeträge für die Beschaffung US-amerikanischer Waffensysteme, wie dem Kampfflugzeug F-35 oder dem Schweren Transporthubschrauber CH-47. Diese sind auch deshalb quasi unumgänglich und so dringlich geworden, weil politische Entscheidungen über die Zertifizierung oder Planung zur eigenen Herstellung solcher Systeme konsequent und über Jahrzehnte auf die lange Bank geschoben wurden.

Genau hier liegt aber das große Dilemma für Europas strategische Autonomie: Wenn wir über die Entscheidung, bestehende Systeme „off-the-shelf“ im Ausland zu kaufen, die Entwicklung und Beschaffung europäischer Lösungen vernachlässigen, dann werden wir in Zukunft unsere Abhängigkeit von russischer Energie und chinesischen Exportmärkten um die von amerikanischer Verteidigungstechnologie erweitern. Die aktuelle Präferenz für US-Systeme wird darüber hinaus auch noch durch die evidenten Vorteile des Foreign Military Sales (FMS) Prozesses gefördert, der als Government-to-Government-Geschäft am mühsamen deutschen Beschaffungs- und Zulassungsprozess vorbeigeleitet wird und damit zu einem systematischen Nachteil für die heimische Verteidigungsindustrie wird.

 

Von Mitte August bis Ende September 2022 nahm die Luftwaffe im Rahmen der Verlegeübung „Rapid Pacific“ mit sechs Eurofightern an einer internationalen Militärübung in Australien teil. Copyright: Airbus

 

Auch deshalb kämpft die deutsche Sicherheits- und Verteidigungsindustrie so sehr darum, neben der Weiterentwicklung eigener Plattformen und Systeme bei der Betreuung US-amerikanischer Technologien involviert zu werden. Dadurch soll nicht nur die materielle Einsatzbereitschaft gesichert sowie ein Rückfluss der investierten Steuergelder in die eigene Wirtschaft gewährleistet werden. Es geht darum, über das nötige industrielle Wissen und die dazu notwendigen Mitarbeiter zu verfügen, um unser militärisches Gerät selbstständig und autonom bedienen zu können. Denn genau dort fängt die Souveränität an: bei der Unabhängigkeit der wichtigsten eigenen Fähigkeiten – selbst gegenüber Verbündeten.

Schließlich bleibt zu hoffen, dass wir die aktuelle Debatte über eine Zeitenwende nutzen, um einen ebenso gesamtheitlichen Ansatz für die garantiert kommenden Herausforderungen und Krisen zu entwickeln, statt den Ukraine-Krieg als isoliertes Problem zu betrachten. Anders ausgedrückt: Was muss denn noch geschehen, damit wir Europäer endlich einen konkreten strategischen Plan für ein sicheres, souveränes, verteidigungsfähiges, technologisch führendes und starkes Europa entwickeln, das seine Werte, seine Freiheit und seine Interessen konsequent und glaubhaft verteidigen kann?

 

Dr. Michael Schöllhorn ist seit dem 1. Juli 2021 Chief Executive Officer (CEO) von Airbus Defence and Space und als Mitglied des Executive Committee von Airbus verantwortlich für die Bereiche Verteidigung, Raumfahrt, Unmanned Air Services und Connected Intelligence.