War da was? Die historische Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro ist wichtig, reicht aber nicht aus.

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Es war eines der zentralen Wahlkampfversprechen der SPD in der vergangenen Bundestagswahl: Die Erhöhung des 2015 eingeführten gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro. Geräuschlos und effizient wurde sie nach den gewonnenen Wahlen auf den Weg gebracht und trat bereits zum 1. Oktober 2022 in Kraft. Damit erhöhte sich der in Deutschland gültige gesetzliche Mindestlohn von zuletzt 10,45 Euro seit dem 1. Juli 2022 um über 14 Prozent.

Erstaunlich ist, wie wenig kritische Stimmen rund um diese Entscheidung zu hören waren. Liefen bei der Einführung noch viele Wirtschafsverbände, viele Unternehmer_innen und auch einzelne Wirtschaftsforschungsinstitute Sturm gegen die Einführung eines Mindestlohns in Deutschland, so wurde diesmal grundsätzlich nur wenig Kritik an der Erhöhung geübt. Kritisiert wurde diesmal zumeist nur das Zustandekommen der Erhöhung, nämlich durch eine politische Entscheidung und eben nicht durch die eigentlich für das Thema zuständige Mindestlohn-Kommission, die aus Vertreter_innen der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite sowie wissenschaftlicher Begleitung besteht. Das lässt sich zum einen natürlich dadurch erklären, dass seit dem Angriffskrieg durch Russland auf die Ukraine andere Themen im Vordergrund der politischen Debatten standen. Zum anderen dürfte sich aber mittlerweile bei allen betroffenen Akteur_innen auch die Erkenntnis eingestellt haben, dass der Mindestlohn eben nicht die desaströsen Auswirkungen auf die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt gehabt hat, die ihm von manchen – wenig geneigten Beobachtenden – zugeschrieben worden waren. Mittlerweile belegt dies eine ganze Reihe an wissenschaftlicher Literatur). Auch der Umstand, dass die massivste Mindestlohnerhöhung, die es bisher in Deutschland gegeben hat, in einen Kontext steiler Inflationsraten und dadurch ausgelöster scharfer Debatten um die sozialen Auswirkungen, vor allem auch auf finanziell schwach aufgestellte Haushalte, fiel, hat potenzieller Kritik sicherlich die Wucht genommen.

Und schließlich hat sich auch auf europäischer Ebene mittlerweile der Wind doch spürbar gedreht: Mit der Verabschiedung der europäischen Mindestlohnrichtlinie 2022/2041 im Oktober 2022 sind den Mitgliedsstaaten nun konkrete Orientierungswerte für die Bemessung von Mindestlöhnen in der EU an die Hand gegeben worden. Mit den aktuellen 12 Euro erfüllt Deutschland nun zwei der hier vorgeschlagenen Kriterien, nämlich 60 Prozent des Bruttomedian- und 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns. So lag der durchschnittliche  Bruttostundenlohn nach Daten des SOEP in 2020 bei 20,80 Euro für Vollzeitbeschäftigte und der Median bei 18,48 Euro. Rund 6,64 Millionen Beschäftigte erhalten damit endlich einen Mindestlohn, der einem als absolute Untergrenze für (nahezu) alle Beschäftigten in einem reichen Land wie Deutschland nicht mehr sofort die Schamesröte ins Gesicht treiben muss. Weitgehend analog zur Beschäftigtenstruktur im Niedriglohnsektor sind es auch beim Mindestlohn vor allem Frauen, Beschäftigte in den ostdeutschen Bundesländern, junge Arbeitnehmer_innen und Personen mit Migrationsgeschichte, die damit eine deutliche Lohnerhöhung erfahren.

Die EU-Mindestlohnrichtlinie führt außerdem eine Berichtspflicht zur Quote der Tarifbindung, zum Niveau der gesetzlichen Mindestlöhne und zum Anteil der Beschäftigten, die zum Mindestlohn arbeiten, ein. Zusätzlich sind die Mitgliedsstaaten aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, die sicherstellen, dass alle, die einen Anspruch auf den Mindestlohn haben, diesen auch erhalten. Das erfordert zum einen Kontrollen durch die Aufsichtsbehörden, zugängliche Informationen zum Mindestlohn für alle Beschäftigten sowie nach Artikel 8, Absatz b) der Richtlinie 2022/2041 den „Ausbau der Fähigkeit der Durchsetzungsbehörden […] proaktiv und gezielt gegen Arbeitgeber, welche die Vorschriften nicht einhalten, vorzugehen.“

Und wie gut ist die Fähigkeit der Durchsetzungsbehörden in Deutschland ausgebaut? Diese Frage ist rein rhetorischer Natur und lässt sich kurz mit „nicht sehr gut“ beantworten.

Die zentrale Durchsetzungsbehörde in Sachen Mindestlohn in Deutschland ist nach dem Mindestlohngesetz der Zoll mit der bei ihm angesiedelten Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS). Dabei kontrolliert diese neben der Einhaltung des Mindestlohns auch die Beachtung sozialversicherungsrechtlicher sowie aufenthaltsrechtlicher Vorschriften und greift Verdachtsfälle von Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung auf. Da diese verschiedenen Problematiken in der Lebensrealität meist eng miteinander verwoben sind, gibt es in der Praxis eigentlich keine isoliert auf die Einhaltung des Mindestlohns ausgerichteten Kontrollen.

Vor diesem Hintergrund werden einige der Problemlagen, die in Deutschland in den nächsten zwei Jahren aufgelöst werden müssen, um effektive Kontrollen zu ermöglichen, besser verständlich. In den nächsten zwei Jahren deswegen, weil nun mit Verabschiedung und Inkrafttreten der Richtlinie eine zweijährige Frist für die Mitgliedsstaaten läuft, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen.

Einen Überblick über diese Problemlagen gab die Fachtagung „12 Euro-Mindestlohn: Viel erreicht und jetzt geht es weiter!“ von DGB und FES im November 2022. In ihrem Input bei der Fachtagung und in ihrer themengleichen Publikation zeigten Prof. Gerhard Bosch und Frederic Hüttenhoff auf, wie unbefriedigend die aktuelle Lage in Sachen Kontrolle der Mindestlohneinhaltung ist und was helfen kann, die bestehenden Probleme abzubauen.

Die „silver bullet“, mit der sich auf einen Schlag alle Probleme lösen lassen, gibt es dabei leider nicht. Vielmehr müssen mehrere Dinge gleichzeitig angegangen werden:

  • Eine Strukturreform der kontrollierenden Behörden (Generalzolldirektion mit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, FKS und Zollkriminalamt sowie örtliche FKS-Einheiten in den 41 Hauptzollämtern und den acht Zollfahndungsämtern), die aktuell organisatorisch nicht gut aufgestellt sind, um Mindestlohnbetrug aufzudecken und konsequent zu ahnden.
  • Ausreichend qualifiziertes Personal für die kontrollierenden Behörden, denn weiterhin sind rund 2500 Stellen im operativen Bereich des Zolls unbesetzt. In diesem Kontext ist über konkrete Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung des Zolls, insbesondere im mittleren Dienst, der das Gros der eigentlichen Kontrollarbeit leistet, nachzudenken.
  • Die gesetzliche Regelung einer zugänglichen, transparenten und objektiven Erfassung der täglich geleisteten Arbeitszeiten auf Bundesebene im Sinne des EuGH-Urteils von 2019 und dem darauf Bezug nehmenden BAG-Urteils von 2022.
  • Die konstruktive und effektive Zusammenarbeit der kontrollierenden Behörden mit den arbeitsrechtlichen Beratungsstellen, insbesondere auch für die Zielgruppe der auf dem Arbeitsmarkt aktiven Migrant_innen, denn konkret sind es überproportional viele von ihnen, die zum Mindestlohn arbeiten, ihn aber oft nicht bekommen. In diesem Zusammenhang: Eine automatische Information von Beschäftigten, die um den Mindestlohn betrogen wurden, wenn die kontrollierenden Behörden den Betrug feststellen. Diese erfolgt bisher nämlich nicht.
  • Mehrsprachige und zielgruppenadäquate Informationskampagnen zum Mindestlohn und was der/die Einzelne tun kann, wenn dieser nicht ausbezahlt wird.
  • Die Ermöglichung eines Verbandsklagerechts, um entgangene Lohnsummen nicht individuell einklagen zu müssen.
  • Und schließlich: Maßnahmen zur Erhöhung der Tarifbindung und Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung in Unternehmen aller Größen, denn diese ist ein ganz wesentlicher Faktor dafür, dass geltende Normen, seien es Mindest- oder im besseren Falle sogar Tariflöhne etc., in der Fläche eingehalten werden. Schließlich kann und soll nicht permanent von Seiten der Behörden kontrolliert werden.

Das sind (einige der) wesentlichen Schritte, die jetzt gegangen werden müssen, damit der erhöhte Mindestlohn am Ende auch bei allen in diesem Bereich Beschäftigten ankommt und damit auch die wesentlichen Anforderungen der EU-Mindestlohnrichtlinie erfüllt werden. Ansonsten heißt es am Ende: 12 Euro Mindestlohn? Nette Geste, aber war da wirklich was?

Susan Javad ist seit Februar 2022 Referentin für Arbeit, Qualifizierung und Mitbestimmung in der Abteilung Analyse, Planung und Beratung der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Dieser Text spiegelt keine offizielle Positionierung der FES in dieser Thematik wider.