Sparen allein ist noch kein gesundheitspolitisches Konzept

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Han Steutel, Präsident des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller e.V. (vfa), im Interview mit Matthias Machnig

 

Matthias Machnig: Herr Steutel, lassen Sie mich mit einer persönlichen Erfahrung aus dem Dezember letzten Jahres beginnen. Ich hatte ein Darmproblem und brauchte Medikamente. In der vierten Apotheke bin ich endlich fündig geworden und konnte entsprechende Medikamente bekommen. Das gleiche lesen wir beim Thema Hustensäfte und an der deutsch-niederländischen Grenze gibt es geradezu Pharma-Tourismus in die Niederlande, weil bestimmte Produkte nicht vorherrschen. Wie geht es der Apotheke der Welt? Ist die deutsche Pharmaindustrie nicht mehr in der Lage, die Grundversorgung sicherzustellen?

Han Steutel: Da müssen wir differenzieren. Zu Beginn der Corona-Pandemie, als die Grenzen geschlossen waren und Lieferketten direkt unterbrochen wurden, haben wir gesagt, dass es bei den patentgeschützten Arzneimitteln keine Lieferengpässe gibt. Das hat sich auch bewahrheitet.

Bei den generischen Medikamenten ist die Lage eine andere. Das Medikament, das Sie brauchten, war sicherlich generisch, und da haben wir in Deutschland ein großes Problem. Und das ist nicht neu. Es ist über die Jahre gekommen und es hat einen ganz einfachen Hintergrund: Bei manchen generischen Produkten sind die Margen so gering geworden, dass Hersteller im Laufe der Jahre ausgestiegen sind, da eine Produktion einfach nicht mehr wirtschaftlich war. Für uns als ehemalige Apotheke der Welt ist das sehr peinlich, denn diese Industrie war einmal hier vor Ort und wurde aus Kostengründen vertrieben.

Diese Entwicklung zurückzudrehen ist eigentlich ausgeschlossen. Aber es gibt Maßnahmen, die man treffen kann, um unsere Verletzlichkeit zu verringern. Das macht im Interesse der Patientinnen und Patienten auch Sinn. Die Politik kann aber dafür sorgen, dass die Forschung und Entwicklung neuer Arzneien, die ja gerade auch in Deutschland in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich war, nicht auch noch abwandern.

Eines der großen Stichworte, das im Nachgang des 24.2.2022 diskutiert wird, heißt „Resilienz“. Wie wird der europäische Standort resilienter? Wie schaffen wir es, Souveränität aufrechtzuerhalten? Brauchen wir Investitions- und Preisrahmenbedingungen, damit das Zurückbringen von Produktion nach Europa (Friend-Shoring) möglich ist, oder halten Sie das für ausgeschlossen?

Die Generikaproduktion einfach zurückzuholen wird nicht funktionieren. Warum sollten wir auf einmal mit Asien, wo die Produktionskosten deutlich niedriger sind, konkurrieren können? Die Resilienz sollten wir dadurch erreichen, dass wir nicht mehr von ein paar wenigen Herstellern je Wirkstoff abhängig sind. Die Basis sollte breiter werden. Aber diese Produktion muss nicht unbedingt in Europa stattfinden.

Wie schätzen Sie die Investitions- und Innovationspotentiale der Pharmaindustrie hier in Deutschland ein?

Was die patentgeschützten Arzneien angeht, sehen wir, dass sich Deutschland anders als viele andere europäische Länder in den vergangenen Jahren innovationsfreundlich gezeigt hat. Das AMNOG-System hat sich bewährt und dazu geführt, dass Investitionen erhöht wurden – sowohl von deutschen als auch von ausländischen Firmen.

Dieser guten Entwicklung zuwider läuft jedoch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz von Bundesminister Lauterbach, das sehr negative Auswirkungen für die innovative Pharmaindustrie hat. Das Gesetz ist ein verheerendes Signal an die Unternehmen, die global investieren. Da wird gerade großer Schaden angerichtet.

Was sind ihre größten Kritikpunkte an den Vorschlägen von Herrn Lauterbach? Kann man quantifizieren, was das für Einnahmeausfälle aufseiten der Pharma-Branche bringt und was das dann auch für die Investitionsbereitschaft am Standort Deutschland bedeutet?

Das Kernproblem ist, dass wir auf höchster politischer Ebene ausschließlich als Kostenverursacher gesehen werden und nicht als eine Industrie mit hoher Wertschöpfung in einer Zeit, in der unser Industriestandort gewaltig unter Druck steht.

Was das konkret bedeutet: Die Erhöhung der Zwangsrabatte von sechs auf 16 Prozent im GKV-Änderungsgesetz hat 2010 dazu geführt, dass die Investitionen der Unternehmen in der Folge in Deutschland um zwei Milliarden Euro gesunken sind. Nach Auslaufen der Erhöhung stiegen die Investitionen wieder an. Aber die zwei Milliarden Euro wurden nicht nachgeholt. Die erneute Erhöhung der Zwangsrabatte wird uns schätzungsweise 1,5 Milliarden Euro pro Jahr kosten – Geld, das für Investitionen nicht zur Verfügung steht.

Der Gesundheitssektor steht vor enormen Herausforderungen. Die Bundesregierung musste gerade GKV-Defizite in Höhe von 17 Milliarden Euro durch unterschiedliche Maßnahmen kompensieren. Insgesamt wird der Kostendruck in den nächsten Jahren anwachsen. Wir haben insolvenzgefährdete Krankenhäuser. Auch die Demografie ist ein Faktor, der die Krankenkassen insgesamt belasten wird. Ist aus Ihrer Sicht eine Grenze erreicht, dessen, was die Pharmabranche als Beitrag zur Kosteneinhegung leisten kann?

Das größte Problem ist, dass das Wirtschaftswachstum im Vergleich zu anderen europäischen Ländern nachlässt. Das ist neu. Das war in der Vergangenheit umgekehrt und das hat damit zu tun, dass wir insgesamt im globalen Wettbewerb nicht innovativ genug sind. Dafür, dass es anders geht, liefert die forschende Pharma-Branche ein gutes Beispiel. Sie erneuert sich laufend, was daran liegt, dass der Patentschutz für neue Medikamente zeitlich beschränkt ist. Zudem gelingen unserer Industrie technologische Durchbrüche wie bei den mRNA-Impfstoffen gegen das Corona-Virus. Was jetzt jedoch passiert, ist, dass wir quasi missbraucht werden, um ein Defizit auszugleichen, obwohl wir für dieses Defizit nicht verantwortlich sind.

Welche Rahmenbedingungen würden Sie sich jenseits der Kostenfragen bei der GKV wünschen, um zwei Dinge voranzubringen: Investitionen und Innovationen. Was wären da die wichtigsten Hebel? War die Einführung der steuerlichen Forschungsförderung aus Ihrer Sicht hilfreich? Was halten Sie von den im Koalitionsvertrag vorgesehenen Superabschreibungen?

Zehn Prozent aller F&E-Ausgaben in Deutschland kommen von der Pharmaindustrie. Die Unternehmen investieren also bereits ohne steuerliche Forschungsförderung. Unser größtes Problem ist, dass jeder unsere Forschung und Entwicklung liebt, aber wenn die Produkte auf den Markt gebracht werden, es häufig heißt, diese seien zu teuer. Die Preise werden vom AMNOG und von Preisverhandlungen mit der GKV gebildet. Was wir brauchen, sind zuverlässige Rahmenbedingungen. Hier geht es um das Klima für neue Produkte und nicht um steuerliche Forschungsförderung.

Warum gibt es eigentlich keine gemeinsam geführte Debatte aus den einzelnen Bereichen der Gesundheitswirtschaft (neben der Pharmaindustrie z.B. auch die Krankenhäuser) heraus, in der die Bedeutung der Gesundheitswirtschaft nicht nur als Kostenfaktor sondern als Daseinsvorsorge, als Beschäftigungsfaktor, als Innovationsfaktor stärker betont wird? Das könnte eine Chance sein, das Bild der Branche zu verändern. Warum gibt es nicht mehr Solidarität in der Branche und wäre mehr Solidarität nicht dringend notwendig, weil es in den nächsten Jahren um die Kosten im Gesamtsystem gehen wird?

Warum gibt es da keinen Schulterschluss bei dem gesagt wird: „Wir stehen vor einer großen Transformation im Gesundheitsbereich und es geht jetzt darum, dass das Gesamtsystem funktionstüchtig bleibt und gezeigt wird: Was ist die Leistungsfähigkeit in einzelnen Bereichen? Wie hoch der Beschäftigungsgrad? Wie hoch sind Selbstfinanzierungseffekte durch Steuereinnahmen?“ Warum kämpft jeder für sich allein? Wenn man alleine kämpft, kann man leichter verlieren.

Das Thema der industriellen Gesundheitswirtschaft haben wir vor Jahren auf der Agenda des BDI platziert und das funktioniert sehr gut. Dort sprechen wir über die ganze Breite der Industrie – also neben Pharma auch über Telemedizin Maschinenbau und Med-Tech.

Das BMWK hat die Relevanz der industriellen Gesundheitswirtschaft für Wertschöpfung und Wirtschaftswachstum erkannt und mit einem Round Table ein Format für einen Austausch mit allen Beteiligten gefunden. Diese Initiative begrüßen wir ausdrücklich.

Von welchem Thema würden Sie sich wünschen, dass wir in 2023 intensiver darüber reden?

Der größte Wunsch für mich ist, dass wir davon wegkommen, nur als Kostenfaktor gesehen zu werden. Alle Beteiligten sollten erkennen, welche wichtige Rolle wir für die Volkswirtschaft und den Wohlstand in Deutschland spielen.

Ich bedanke mich für das Gespräch. Alles Gute.

Ich danke Ihnen.