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Die industrielle Revolution hatte ihren Preis: Wer zuvor im Handwerk oder meist in der Landwirtschaft tätig gewesen war, arbeitete nun in den neuen Maschinenhallen, im Rauch und Schmutz der Dampfmaschinen, arbeitete mit glühendem Eisen oder dem giftigen Bleiweiß. Die neue Arbeit machte den Fortschritt aus. Sie machte aber auch krank.

Tatsächlich waren es einzelne Konzerne, die einen neuen Bedarf erkannten: In ländlichen Kommunen hatten Nachbarn und Familien oder kirchliche Hospize sich kostenlos um Kranke gekümmert, in der Stadt aber verlangten die Spitäler Geld. Und noch im Zeitalter der Manufakturen, im späten 18. Jahrhundert, regelte das preußische Landrecht erstmals die rechtlichen Grundlagen einer finanziellen Absicherung für den Krankheitsfall – schlicht, um eine Versorgung sicherzustellen.

Es dauerte über 100 Jahre, ehe der Staat aus der Freiwilligkeit der Fortschrittlichen den Maßstab für alle formte: Das „Gesetz betreffend der Krankenversicherung der Arbeiter“ von 1883/84 gilt heute als älteste Säule der staatlichen sozialen Sicherung. Und das noch ganz junge deutsche Kaiserreich war das erste Land, das eine Sozialversicherung auf nationaler Ebene einführte.

Über viele Jahrzehnte ihrer Geschichte blieben die Krankenkassen allein ihrem ursprünglichen Ziel verpflichtet: Im Krankheitsfall Geld bereitzustellen, das man zuvor von Arbeitgebern und Arbeitnehmern eingenommen hatte. Doch mit dem Wachstum der Kassen, mit immer mehr Versicherten und immer höheren Umsätzen stellten die ersten Krankenkassen schon in den 1920er Jahren nicht mehr nur Buchhalter, sondern auch Volkswirte ein. Und bereits kurz nach dem ersten Weltkrieg kam es zu ersten Beispielen einer neuen Strategie: Krankenkassen warteten nicht darauf, dass ihre Versicherten erkrankten, sondern sie wurden präventiv tätig. Um Erkrankungen vorzubeugen, sie frühzeitig zu erkennen oder ihren Verlauf zumindest abzumildern.

Es ist also mehr als ein Marketinggag, dass sich die Allgemeinen Ortskrankenkassen seit Jahrzehnten nicht mehr als Krankenkassen, sondern als „Gesundheitskassen“ bezeichnen. Denn tatsächlich fließt inzwischen ein nicht unbedeutender Anteil der Ausgaben in Prävention, Aufklärung und Beratung. Und mit dem Präventionsgesetz wurde 2015 erstmals ein verbindlicher Rahmen für die Gesundheitsvorsorge abgesteckt. Damit sollen die Gesundheitsförderung und Prävention weiter gestärkt, die Leistungen der Krankenkassen zur Früherkennung von Krankheiten weiterentwickelt und das Zusammenwirken von Betrieblicher Gesundheitsförderung und Arbeitsschutz verbessert werden.

Ein langer Prolog für eine lange Vorgeschichte, die man aber ganz kompakt zusammenfassen kann: Die Geschichte der Krankenkasse ist die Geschichte einer wachsenden Erkenntnis, dass man statt der Symptome besser die Ursachen angehen sollte. Und dass der Mensch dann am gesündesten ist, wenn er erst gar nicht krank wird.

Mehr als 200 Jahre nach den ersten Anläufen zu einer Krankenversicherung stehen wir heute in einer neuen industriellen Revolution, deren Dimensionen und Auswirkungen man in diesem Blog sicher nicht weiter ausführen muss. Klar ist: Auch diese industrielle Revolution hat ihren Preis. Besonders in meinem Heimatland Baden-Württemberg wird immer deutlicher absehbar, wie schnell alleine die Elektromobilität ein Jahrhundert des Ottomotors beenden wird, so wie der Ottomotor einst ein Jahrhundert der Dampfmaschine beendete. Und wir erleben, wie radikal die Digitalisierung bis weit in den „klassischen“ Maschinenbau wirkt. Die Transformation schafft unbestreitbar neue Arbeitsplätze, aber sie wird unbestreitbar alte Arbeitsplätze vernichten. Was heute noch gefragt ist wird morgen nicht mehr gefragt sein. Das gilt sowohl für die Produkte wie auch für die Kompetenzen der Beschäftigten. Und was übermorgen gefragt sein wird, wissen wir heute noch nicht.

Vor diesem Hintergrund einer Transformation, die auch eine gewaltige Transformation am Arbeitsmarkt bedeuten wird, hat die Ampelkoalition zu Recht den Begriff der Weiterbildungsrepublik geprägt. Die Idee, Weiterbildung so zu organisieren, dass Menschen trotz dieser Transformation nicht arbeitslos werden.

Und es gibt weitere Parallelen zur Geburt der Krankenversicherung: Erneut sind es einzelne, meist größere Konzerne, die den Bedarf an Weiterbildung, lebenslangem Lernen und ständiger Qualifizierung im Berufsleben längst erkannt haben. Firmen, die ihre Einrichtungen zur Berufsausbildung längst in Zentren der Berufsbildung umgebaut haben, in denen nicht nur Auszubildende, sondern auch Mitarbeiter bis hart an die Rentengrenze Kurse besuchen, in neuen Verfahren eingearbeitet werden oder einfach nur jene Fähigkeiten erwerben, die man heute gerne als „digitale Alphabetisierung“ beschreibt. Denn wer heute in einem Hochregallager arbeitet, sollte ein Tablet so sicher beherrschen wie einen Stapler.

Doch wie bei der Krankenversicherung im 19. Jahrhundert wird sich herausstellen, dass die Weiterbildung zu existenziell ist, um eine freiwillige Investition in die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu bleiben. Wie bei der Krankenversicherung wird der Staat aus der Freiwilligkeit der Fortschrittlichen den Maßstab für alle formen müssen.

Die Erkenntnis ist nicht neu: Bereits im Jahr 2008 hat der Berliner Ökonom Günther Schmid bei der Friedrich-Ebert-Stiftung die Skizze einer Transformation der Arbeitsmarktpolitik vorgelegt, deren Titel Programm ist: „Von der Arbeitslosen- zur Beschäftigungsversicherung“. Schmid beschriebt dabei gerade auch jene „Übergangsrisiken“, die eine neue Art der Beschäftigungsversicherung erfolgreich minimieren könnte. Insbesondere sein Konzept des persönlichen Bildungsvermögens hat es in dem folgenden Jahrzehnt aus der Wissenschaft in die Politik geschafft: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat klar das Ziel formuliert, in Deutschland ein System von Bildungszeiten und Bildungsteilzeiten nach österreichischem Vorbild zu schaffen: Mit bis zu zwei Jahren währenden Bildungsteilzeiten oder bis zu einjährigen Bildungszeiten. Dieses Modell, so Heil müsse in Deutschland „so selbstverständlich werden wie die Elternzeit.“

Weitere Modelle, die Heil bereits klar formuliert hat, sind das Transformationskurzarbeitergeld als Verbindung von Kurzarbeit und Qualifizierung für komplette Belegschaften, sozusagen eine präventive Verwandte der Transfergesellschaften, die erst nach dem Wegfall bestehender Arbeitsplätze greifen. Zusätzlich existiert das Modell der Weiterbildungsprämie für Menschen in Arbeitslosigkeit und der Grundsatz, bei Langzeitarbeitslosen ohne abgeschlossene Berufsausbildung das Nachholen dieser Ausbildung höher zu priorisieren als die Vermittlung in (unsichere) Arbeit.

All das sind wichtige und richtige Schritte auf dem Weg in eine Weiterbildungsrepublik. Die klassische Arbeitslosenversicherung sichert nur das Risiko des vollständigen Einkommensverlustes bei Arbeitslosigkeit, wobei wir wieder beim Vergleich zu der klassischen Krankenversicherung ankommen, die das Risiko der Versorgung im Krankheitsfall abdeckt. Eine aktivere, präventive Arbeitsmarktpolitik kann und muss deutlich weiter reichen und vielfältiger ansetzen. Schon Günther Schmid bemängelte 2008 einen Mangel an „intelligenten Antizipationssystemen zur Ermittlung und zur Umsetzung eines regional differenzierbaren Qualifikationsbedarfs“ – umso mehr, da Erwerbsverhältnisse und Erwerbspräferenzen gerade im Zuge der Transformation absehbar immer vielfältiger werden. Die immer wahrscheinlicheren kritischen Übergänge werden aber weder vom aktuellen System der Arbeitslosenversicherung noch von anderen sozialen Sicherungen wie dem Rentensystem ausreichend abgedeckt.

Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, Schmids Titel von 2008 wortwörtlich zu nehmen. Und sich an die Geschichte der Krankenversicherungen zu erinnern. Sie haben erkannt, dass der Solidargemeinschaft durch mehr Prävention insgesamt nicht mehr Kosten entstehen. Und sie haben erkannt, dass die individuelle Beratung und Betreuung der Versicherten den geringsten Mehraufwand an genau der Stelle verursacht, an der die Versicherten schon bisher betreut werden – nämlich in den Kassen selbst.

Dieser Vergleich legt die Strategie nahe, die Umsetzung der Weiterbildungsrepublik weitgehend in die Hände der Arbeitslosenversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit zu legen. Seit der Einführung der Arbeitslosenversicherung (1927 und damit deutlich später als die Krankenversicherung) wurde die staatliche Arbeitsverwaltung im Grundsatz über ihre Funktion als Anlaufstelle für bedürftige Erwerbslose deutlich erweitert. Hier liegen vollständige Erwerbsbiographien vor, hier beobachtet man den Arbeitsmarkt bis in regionale Besonderheiten hinein. Seit bald 100 Jahren wurde eine Infrastruktur geschaffen, die eine ideales Fundament für eine neue „Governance“ bietet, eine auf die Herausforderungen der neuen Arbeitsmärkte angepasste, aktive Arbeitspolitik.

Wenn das Gemeinwesen die Idee der Solidargemeinschaft am Arbeitsmarkt in ähnlicher Weise präventiv erweitern will, wie es in der Krankenversicherung bereits geschehen ist, dann muss in ähnlicher Weise individuell vorgegangen werden. Gesundheitsvorsorge findet nicht nur bei Erkrankten statt und nimmt keine Rücksicht darauf, ob sich Versicherte bestimmte Angebote auch privat leisten könnten oder sie von ihrem Arbeitgeber gestellt bekommen. In gleichem Maße muss Weiterqualifizierung davon unabhängig werden, ob es in einem Betrieb zu Kurzarbeit oder Arbeitsplatzabbau kommt, ob Arbeitnehmer in großen oder kleinen Betrieben beschäftigt sind oder ob sie angestellt, selbstständig oder freiberuflich arbeiten. Eine Organisation der Weiterbildungsrepublik über die Arbeitslosenversicherung, die dann in der Tat besser Arbeitsversicherung oder Beschäftigungsversicherung hieße, würde all diese Maßnahmen nicht von der Leistungsfähigkeit eines Arbeitgebers abhängig machen. Dass ein Betrieb mit 20 Beschäftigten selbst keine Fachkraft für betriebliche Weiterbildungen vorhalten kann, ist offensichtlich.

Die Organisation der Weiterbildungsrepublik über die Arbeitsverwaltung hätte also den Vorteil, dass jede Beschäftigte und jeder Beschäftigte auf gleiche Chancen solidarisch organisierter Weiterbildungschancen vertrauen kann. Ganz nebenbei wäre dies auch ein wichtiges Signal gegen das als „Gebührenfrust“ bekannte Ungerechtigkeitsgefühl. Wieder bietet sich der Vergleich mit den Krankenkassen an: Wer gesund lebt, hat den (nicht falschen) Eindruck, Gebühren zu bezahlen, für die er ohne Krankheitsfall keine Gegenleistung erhält. Wird dem Versicherten aber auch nur der Besuch eines Sportstudios bezuschusst, steigt die Akzeptanz weit über den tatsächlichen Geldwert an. Nicht anders würde sich das Bild wohl darstellen, wenn Weiterbildungen zumindest zu Teilen aus der Arbeitsversicherung beglichen würden.

Das Tempo der Transformation gibt den nötigen Takt bei der Umgestaltung unserer Arbeitswelt vor, sie bestimmt auch das nötige Tempo bei der Anpassung unserer Arbeitsmarktpolitik. Auch dies ist ein fast schon zwingender Grund, beim Start in die Weiterbildungsrepublik auf bestehende Strukturen wie die Bundesanstalt für Arbeit zu setzen. Vielfalt bei den Weiterbildungsangeboten ist gegeben und ist nötig, doch eine umfassende Governance der neuen Selbstverständlichkeit der Weiterbildung scheint nur aus einer Hand möglich.

Erste Schritte könnten in der Tat Konzepte wie ein Bildungszeitkonto sein, mit dem ein Tag im Monat für Fortbildungen möglich wird. Für alle und als Teil einer neuen Normalität in der Arbeitswelt. Als Standard einer gesetzlichen Vorsorge nicht nur für den Fall der Arbeitslosigkeit, sondern einer Vorsorge für beste Chancen auf dem Arbeitsmarkt und ungebrochener Erwerbsbiographien auch und gerade in der Transformation.

Die Idee, eine lebenslange Weiterbildung ebenso zu einer selbstverständlichen Verpflichtung zu machen wie die Schulbildung, wird nicht überall auf Jubel stoßen. Der notwendige und richtige Impuls von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil sorgte wie zu erwarten für Kritik aus manchen Unternehmerkreisen. Umso mehr lohnt es sich daran zu erinnern, dass ähnliche Kreise, also der konservativ denkendere Teil der Unternehmer, einst auch gegen längere Schulbildung eingestellt war. Auch damals war es den nachhaltiger denkenden Arbeitgebern vorbehalten, in mehr Bildung nicht hinderliche Kosten zu erkennen, sondern Investitionen, die sich mehr als auszahlen.

Tatsächlich können wir es uns als Gesellschaft schlicht nicht mehr leisten, Menschen erst arbeitslos werden zu lassen, ehe wir uns Gedanken über Weiterbildungen und Umschulungen machen. Nicht angesichts der Herausforderungen in der Transformation, nicht angesichts des immer drastischer spürbaren Mangels an Arbeitskräften, der längst mehr ist als ein reiner Fachkräftemangel. Nicht angesichts der sozialen Auswirkungen für die Betroffenen. Wir brauchen den Wechsel von der „Arbeitslosenversicherung“ zur „Arbeitsversicherung“. Wir brauchen ein neues Modell.

Und um ein letztes Mal den Vergleich mit der Entwicklung der Krankenversicherung zu ziehen: Es wäre ein Modell mit gesunden Vorbildern.