CCS: Nicht optimal, aber unvermeidlich

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Es ist richtig, dass wir uns zunehmend ambitionierte und beherzte Ziele zur Klimaneutralität vornehmen. Eine große Herausforderung bleibt aber die kurzfristige Dekarbonisierung der Industrie. Wenn die Umstellung auf klimaneutrale Energieerzeugung über grüne Moleküle und erneuerbare Energien mit unseren Ambitionen nicht schritthält, erreichen wir unsere Ziele nur über die Deindustrialisierung des Landes. Daher müssen wir uns übergangsweise damit arrangieren, nicht alle Emissionen ursächlich verhindern zu können. Wir können sie aber teilweise über Nutzung oder Speicherung unschädlich zu machen.

Die unter den Kürzeln CCU und CCS bekannten Technologien basieren auf der Abscheidung von CO2 in industriellen Prozessen (carbon capture). Im darauffolgenden Schritt wird das CO2 entweder genutzt (usage – CCU) oder gespeichert (storage – CCS). Mit dem aktuellen Stand der Technik ist es relativ einfach, rund 90 Prozent der industriellen Emissionen einzufangen. Abscheidegrade jenseits von 90 Prozent sind theoretisch möglich, aber finanziell und technologisch herausfordernd. Einerseits bleibt es also trotz aller Carbon-Capture-Bemühungen bei einem Rückstand an entweichenden Restemissionen. Andererseits müssen die abgefangenen Emissionen irgendwo hin. Entweder speichert man sie langfristig etwa in leeren Gas- oder Ölfeldern oder man nutzt das CO2 zum Beispiel als Kohlenstofflieferant in der Kalkindustrie.

Was erst einmal gut klingt, trifft aber auch auf erhebliche Bedenken. Die erste häufig genannte Sorge beider Technologien ist der zusätzliche Energieaufwand. Abscheidung, Transport und Speicherung von CO2 könnten den Energieaufwand wohl um bis zu 40 Prozent steigern. Doch die Technologie macht rasante Fortschritte. Das norwegische Forschungsinstitut SINTEF kommt zum Teil auf 51 Prozent eingesparte Emissionen bei gerade einmal einem Prozent Kostensteigerung.[1] Energieintensive Industrien wie Stahl, Zement oder etwa Kalk erfahren auf diese Weise einen erheblichen Dekarbonisierungsschub mit überschaubarem finanziellem Aufwand.

Zweitens kann die Speicherung von CO2 nur dann einen effektiven Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels leisten, wenn das eingelagerte CO2 dauerhaft und vollständig in den Speichern verbleibt. Das setzt unter anderem voraus, dass der Speicherort dicht und tektonisch sicher ist. Denn bei einem Entweichen der Emissionen wäre für das Klima nichts gewonnen. Auch für die Gesundheit, das Grundwasser oder den Boden gibt es gewisse Risiken, wenn die Emissionen allmählich durch Leckagen oder plötzlich durch Unfälle entweichen würden. So könnte das freigesetzte CO2 Schadstoffe im Untergrund freisetzen sowie salziges Grundwasser aus tiefen Aquiferen verdrängen. CCS erfordert daher eine langfristige, generationsübergreifende Überwachung der Lagerstätten.

Ein drittes Risiko besteht in einem technologischen Lock-In-Effekt. Das heißt, dass es durch die Verbesserung fossiler Technologien weniger Anreiz gibt, um auf teurere, aber wirklich klimaneutrale umzusteigen. In einem solchen Fall laufen wir Gefahr, dass die Carbon-Capture-Technologie am Ende mehr schadet als nützt.

Der direkte Übergang zu erneuerbaren und klimaneutralen Industrieprozessen ist und bleibt daher die beste und vorzugswürdige Lösung. Aber wenn die Elektrifizierung mit erneuerbarem Strom oder der Umstieg auf grüne Moleküle nicht schnell genug und in ausreichendem Ausmaß zur Verfügung stehen, müssen wir, zumindest übergangsweise, auch zweitbeste Lösungen in Betracht ziehen. Dazu zählt die Carbon-Capture-Technologie. Denn um kurz- und mittelfristig in signifikantem Umfang industrielle Emissionen zu reduzieren, gibt es auch mit den ambitioniertesten Transformationsplänen absehbar nur zwei Wege: Abschaltung oder Abscheidung.

Im Sinne der Gesellschaft kommt das Erste nicht in Betracht, also ist im Sinne des Klimas das Zweite notwendig. Der Gesetzgeber muss aber die richtigen Leitplanken setzen, um den angesprochenen Risiken zu begegnen.

Der energetische Mehraufwand wird sich durch flächendeckenden Einsatz und technologischer Skalierung zunehmend reduzieren. Der Pfad dorthin lässt sich etwa über einen intelligenten Zertifikatehandel beschleunigen. Die Lagerstättenrisiken müssen über eine sorgfältige topografische Analyse und entsprechende Überwachung minimiert werden. Norwegen macht seit mehreren Jahrzehnten gute Erfahrungen mit seinen Speichern und hat bereits angeboten, auch deutsches CO2 zu importieren. Die beiden norwegischen Projekte Sleipner[2] und Snohvit räumen auch viele der Langzeitbedenken aus. So werden in Sleipnir bereits seit 1996 eine Millionen Tonnen CO2 jährlich eingespeichert. Die Exportoption sollten wir dringend prüfen, bevor wir eine Neuauflage von Atommüll-Endlager-Kommissionen erwarten. Auch wenn die theoretische Einspeicherung in Deutschland bereits durch den Pilotspeicher Ketzin der GFZ[3] nachgewiesen wurde.

Die aus klimapolitischer Erfahrung gut begründeten Lock-in-Risiken müssen politisch beantwortet werden. Über klare Ausstiegs- und Verbotspfade fossiler Technologien kann der Gesetzgeber verhindern, dass CCU und CCS die klimaneutrale Transformation verzögern. Dazu gehört auch ein Ablaufdatum für die Carbon-Capture-Technologie selbst. Nur dort, wo selbst bei hundertprozentiger Umstellung auf erneuerbare Energien klimaschädliche Emissionen aus physikalischen Gründen entstehen, darf sie langfristig eingesetzt werden. Deswegen brauchen wir klar definierte Kriterien.

Sicher ist, dass die Verbesserung fossiler Produktionsprozesse weder die optimale noch die finale Lösung sein kann. Viel lieber wäre mir, wir könnten alle unsere Prozesse auf grünen Strom und grüne Moleküle umstellen. Solange die erstbeste Lösung aber nicht flächendeckend umsetzbar ist, müssen wir die zweitbeste in Erwägung ziehen. Wenn wir die Klimaneutralität ernst nehmen und unser Land nicht deindustrialisieren wollen, kommen wir an den Carbon-Capture-Technologien nicht vorbei. Damit unsere langfristigen klimapolitischen Ziele trotzdem nicht unterminieren werden, braucht es strenge und mutige Leitplanken durch den Gesetzgeber.

Wenn ich also gefragt werde, warum eine Technologie mit einer historisch so klimaschwarzen Weste im Übergang eine Rolle spielen soll, dann antworte ich: Weil wir erstens das Wissen und den Mut haben, eine Regulatorik zu entwerfen, die Vorteile nutzt und Missbrauch verhindert. Und weil wir zweitens nur einen Versuch haben, den menschengemachten Klimawandel einzuschränken.

 

Markus Hümpfer, MdB

[1] https://www.sintef.no/en/latest-news/2023/new-research-from-sintef-and-tu-delft-shows-that-ccs-can-result-in-significant-co2-reductions-at-a-marginal-cost/

[2] Furre, Anne-Kari, et al. „20 years of monitoring CO2-injection at Sleipner.“ Energy procedia 114 (2017): 3916-3926.

[3] https://www.co2ketzin.de/startseite