„Mit den bisherigen Instrumenten wird die Transformation scheitern“

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Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie, im Interview mit Matthias Machnig.

 

Matthias Machnig: Herr Große Entrup, hat ein Deutschland ein Standort- und ein Wettbewerbsfähigkeitsproblem? Muss sich das Geschäftsmodell Deutschland, das über Jahre erfolgreich war, angesichts der Herausforderungen bewähren? Wie kann es zukunftssicher gemacht werden?

Wolfgang Große Entrup: Deutschland hat ein massives Standortproblem. Das wurde über die letzten Jahre – Stichwort Energiepreise, Fachkräftemangel, marode Infrastruktur oder überbordende Bürokratie – ja schon ein Stück weit erkennbar. Aber durch die massive Energiekrise ist das jetzt offensichtlich geworden. Bei den Rankings der internationalen Wettbewerbsfähigkeit sind wir zum Teil schon auf den Abstiegsplätzen. In der aktuellen Ausgabe des „Länderindex Familienunternehmen“ etwa belegt die Bundesrepublik den 18. Platz unter den 21 untersuchten Ländern. Das kann mit dem Anspruch einer führenden Industrienation nicht einhergehen. Das ist eine sehr schwierige Situation, die natürlich auch internationalen Investoren nicht verborgen bleibt, die den Standort Deutschland im Blick haben. Wir haben nicht nur ein Problem. Wir haben ein Klumpenrisiko.

Wir haben ja nicht nur eine Krise aufgrund der gestiegenen Energiepreise, wir stehen ja auch mitten in der Transformation. Mit enormen Herausforderungen für die Unternehmen, hohem Investitionsbedarf usw. Würden Sie mir zustimmen, dass Transformationspolitik im Bereich Digitales und beim Thema Nachhaltigkeit nur gelingen kann mit einem starken Standort und dass in den nächsten Jahren Standortpolitik betrieben werden muss, weil sie die Voraussetzung für erfolgreiche Transformationspolitik ist?

Nur starke und wettbewerbsfähige Unternehmen können Transformation leisten. Deswegen ist die Herausforderung im Moment auch so gewaltig. Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in Deutschland stärken, damit sie in der Lage sind, diese Transformationsanstrengungen erfolgreich zu meistern.

Das heißt aber auch: Wir brauchen andere Prioritäten in der politischen Diskussion. Wir diskutieren aktuell nicht über den Standort, sondern über das Gebäudeenergiegesetz. Brauchen wir nicht eine wirtschaftspolitische Agenda für den Standort?

Der Bundeswirtschaftsminister hat ja das Jahr der Industriepolitik ausgerufen. Das halte ich für richtig. Nur diesen hehren Ausrufen müssen jetzt auch Taten folgen. Wir brauchen konkrete Standortpolitik, müssen Unternehmen helfen und diesen Standort wieder wettbewerbsfähig machen. Und das ist nicht nur ein deutsches, sondern ein europäisches Thema. Ein Europa ohne den industriellen Kern in Deutschland ist für mich unvorstellbar. Das sehen viele europäische Mitgliedstaaten natürlich anders, aber aus meiner Sicht müssen wir den deutschen industriellen Kern stärken, um damit auch Europa weiterhin stark zu halten. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen.

Industriepolitik ist in aller Munde. Manchmal auch aus Bereichen, aus denen man es früher nicht vermutet hätte. Was sind für Sie die zentralen industriepolitischen Leitelemente und Leitinstrumente?

Ein zentraler Punkt ist die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Wir müssen mehr fördern als fordern und wir müssen den Unternehmen wieder die Freiheiten und Freiräume geben, unternehmerisch tätig zu werden und zu bleiben. Unternehmertum kommt von „unternehmen“. Wir geben im Moment politisch vor, dass wir zurück in die Champions League wollen. Das ist gut. Leider beschreiben wir auch den genauen Weg dorthin. Wir wollen, dass der Spieler Müller in der 83. Minute von links ins Tor zum 1:0 trifft – mit einem Fallrückzieher mit dem linken Fuß.  Das wird weder im Fußball noch im wahren Leben funktionieren. Wir regeln alles in einer Tiefe und Breite, die so nicht mehr zukunftsfähig ist.

Sei es bei der Energiepolitik, der verschlafenen Digitalisierung und beim Thema Arbeitskräftemangel – ein ganz zentrales Ziel ist: raus aus dem bürokratischen Wahnsinn. Das treibt vor allem den Mittelstand um. Gut gemeinte Dinge – Stichwort Energiepreishilfen – werden nicht in Anspruch genommen, weil die Regulation zu hoch ist.

Die Wettbewerbsfähigkeit wird sich ja nur mit einem massiven Investitionsschub herstellen lassen. Wir haben jedoch eine schwache Investitionsentwicklung, was ich angesichts der Verunsicherung und der Preissignale auch verstehe. Was muss aus Ihrer Sicht getan werden, damit diese Investitionsdynamik kommt? Im Koalitionsvertrag stehen zum Beispiel Superabschreibungen oder Investitionsprämien. Das ist lange angekündigt, kommt jedoch nicht. Brauchen wir nicht auch einen europäischen Souveränitätsfonds, der in der Lage ist, politische Projekte zu unterstützen? Brauchen wir nicht eine andere, investitionsorientierte Finanzpolitik in Europa und in Deutschland?

Eindeutig ja. Wir müssen jetzt Geld in die Hand nehmen, damit wir nicht in 4 bis 5 Jahren die dreifache Menge brauchen, um damit Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Das ist ein ganz klares Petitum für eine starke Industriepolitik. Aber andersrum – Stichwort IRA in den USA – müssen wir natürlich auch in der Lage sein, diese Instrumente so auszugestalten, dass ein Unternehmer wieder Spaß hat, Geld in die Hand zu nehmen und zu investieren. Und genau das geht den Deutschen im Moment verloren. Der Mittelstand ist angesichts des regulatorischen Wahnsinns – und das ist leider das, worauf ich immer wieder zurückkomme – oft nicht mehr willens, hier in den Standort zu investieren. Planungs- und Genehmigungsverfahren, die 10 bis 15 Jahre dauern, schrecken jeden ab, der noch bereit ist, etwas zu tun. Da müssen wir ran. Ich glaube, es ist viel wichtiger, diese bürokratische Last zu entschlacken, als mit großen Finanztöpfen zu locken. Der IRA muss im Prinzip durch einen Regulation Reduction Act beantwortet werden.

Das ist richtig. Aber brauchen wir nicht beides? Im Rahmen der Transformation brauchen Unternehmen Unterstützung beim Thema Investitionen aber auch im Bereich Opex. Das muss dann finanziell auch hinterlegt sein. Brauchen wir nicht gezielte öffentliche Investitionen und Rahmenbedingungen etwa über Superabschreibungen, kombiniert mit einem Regulation Reduction Act? Sind das nicht zwei Seiten der gleichen Medaille und müssen wir nicht aufpassen, dass wir das eine nicht gegen das andere ausspielen?

Beides ist wichtig, beides ist möglich und beides ist notwendig, auch miteinander. Ich stimme Ihnen zu: Capex alleine reicht nicht. Wir brauchen auch Opex in bestimmten Fragestellungen. Die Amerikaner zeigen im Moment, wie erfolgreich das ist. Unternehmen in Deutschland und Europa werden im Moment umworben wie noch nie aus den USA heraus und sind bereit, diesen Weg zu gehen. Wir haben erste Familienunternehmer, die diesen Schritt machen. Ich war vor kurzem auf einer Tagung, wo mir Unternehmer gesagt haben, sie seien in der fünften Generation hier am Standort Deutschland, aber es ginge nicht mehr. Sie beschäftigen sich intensiv mit Auslandsdirektinvestitionen und die USA sind da ein großer Markt.

Wir dürfen Unternehmen nicht konkret vorschreiben, wo sie sich innerhalb von Leitmärkten und innerhalb von grünen Märkten hinbewegen sollen, so wie es in Europa jetzt wieder vorgesehen ist mit dem Net Zero Act. Das ist aus meiner Sicht der falsche Weg. Wir müssen Unternehmen unterstützen und ihnen helfen auf dem Weg. Und die Transformation ist beschrieben. Die Transformation wird von der Unternehmerschaft gegangen werden, aber dies komplett durchzuregulieren von der ersten bis zur letzten Minute – Beispiel Fußballspiel – wird nicht funktionieren. Dann werden wir 8:0 verlieren. Was mit dem Net Zero Act in Europa im Moment geplant ist, wird nicht fliegen.

Man sollte Ziele haben, aber wenn ich die Ziele erreichen will, muss ich sie auch mit Instrumenten ausfüllen, damit die Ziele erreichbar sind. Sonst sind das fiktive Ziele, die aber am Ende des Tages nicht dazu führen, dass sie realisiert werden können.

Robert Habeck hat jetzt ein Konzept für einen Industriestrompreis vorgelegt. Wie ist Ihre Einschätzung dazu? Brauchen energieintensive Unternehmen einen Industriestrompreis?

Ein eindeutiges, unmissverständliches: Ja. Wir begrüßen die Pläne von Robert Habeck. Wichtig ist jetzt, dass der Industriestrompreis schnell und unbürokratisch kommt und bei der Umsetzung die Geburtsfehler der Strompreisbremse vermieden werden. Das wäre für unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit ein klarer Gamechanger. Der Industriestrompreis hilft uns, die Produktion und industrielle Wertschöpfung zu sichern und die Transformation zur Klimaneutralität noch besser zu meistern. Davon profitiert ganz Deutschland und Europa. Der Industriestrompreis darf aber keine Dauerlösung sein, sondern nur eine Brücke in die Zukunft. Wir stehen einhundert Prozent zur Marktwirtschaft und sind keine Freunde von Subventionen. Aber in dieser Ausnahmesituation sehen wir keine andere Lösung.

Das ist ein gewaltiges Investment, ohne jede Frage. Und das wird den Staatshaushalt natürlich auch fordern. Aber wenn wir jetzt der energieintensiven Industrie nicht helfen, dann brechen Wertschöpfungsketten in Deutschland zusammen. Wir stecken als Chemie am Anfang von 90% aller Wertschöpfungsketten. Wenn die zusammenbrechen, wenn nach uns auch andere das Land verlassen, dann werden wir in 4 bis 5 Jahren mit ganz anderen Ausgaben konfrontiert werden. Deswegen ist das jetzt ein gutes Investment, um den Industriestandort Deutschland zu erhalten.

Gibt es von Ihrer Seite auch Kritikpunkte?

Ja. Sehr kritisch sehen wir, dass unsere Mittelständler weitgehend raus sind aus dem Empfängerkreis. Genauso wie die Chemieparks. Das darf nicht sein. Sie leiden ebenfalls stark unter den hohen Energiepreisen und wachsenden Standortproblemen. Hier muss die Bundesregierung noch nachbessern.

Das Wirtschaftsministerium fordert, den „Brückenstrompreis“ aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) zu finanzieren. Was halten Sie davon, die Kreditermächtigungen aus dem WSF zu nutzen, um den Industriestrompreis zu finanzieren?

Wenn es möglich ist, die zum Zwecke der Unterstützung der Unternehmen bereits beschlossenen, aber nicht abgerufenen Mittel auf die aktuelle Problemlage anzupassen, halten wir das für richtig und gut.

Wichtig ist jedoch, dass wir das Thema auch europäisch denken. Die Bundesregierung muss sich intensiver in Brüssel einmischen. Wir hatten mal einen Altkanzler aus Ihrer Partei, der sich intensiv in Europa um derartige Dinge gekümmert hat.

Ein Industriestrompreis in Deutschland ist in europäischem Interesse. Und es wird sicher andere Nationalstaaten geben, die sich dem  anschließen wollen. Die Franzosen haben ein Instrument und würden es gerne verlängern – hier lassen sich Allianzen schmieden. Ein Industriestrompreis nur für Deutschland wird am Ende beihilferechtlich wahrscheinlich nicht funktionieren, deswegen müssen wir hier den europäischen Approach suchen.

Es besteht die Sorge, dass wenn das Beihilferecht weiter flexibilisiert würde, vor allem Deutschland profitiert, weil wir die entsprechenden Finanzreserven haben. Muss Deutschland vor dem Hintergrund nicht bereit sein, frische Mittel für den Souveränitätsfonds zur Verfügung zu stellen, weil ansonsten andere Länder nicht mitgehen werden?

Das ist genau der Punkt. Die Begeisterung in Europa ob der Industriepolitik in Deutschland ist übersichtlich. Hier müssen wir werben und wir müssen deutlicher als bisher zum Ausdruck bringen, dass deutsche Unterstützung im europäischen Interesse ist. Das wird aber natürlich nicht reichen. Wir werden in europäische Töpfe einzahlen müssen. Das wird ein Geben und Nehmen sein, um zu erreichen, dass der Standort Deutschland gestärkt wird.

Der Bundeswirtschaftsminister hat angekündigt, bis Mitte des Jahres eine Industriestrategie vorzustellen. Was wären für Sie die wichtigsten Punkte, die in einer solchen Industriestrategie niedergelegt sein sollten und zwar nicht auf der Zielebene sondern vor allem auf der Instrumentenebene?

Die Energieversorgung macht uns im Moment die größten Sorgen. Durch die Transformation haben wir einen immensen – Industriestrombedarf allein in unserer Branche. Dies alles wird mit den bisherigen Instrumenten und Vorgehensweisen jämmerlich scheitern. Wir brauchen den Faktor 4 bis Faktor 5 im Hochlauf der regenerativen Energie in Deutschland. Das muss im Vordergrund stehen, denn ohne Energie ist alles nichts in der Industrie. Wenn wir den Transformationsweg gehen wollen, ist das das Kernthema.

Das wird nur zu lösen sein, wenn wir den Fachkräftemangel bewerkstelligen. Hier brauchen wir ein intelligentes Integrationsgesetz, das uns ermöglicht, Fachkräfte zu generieren. Damit eng verbunden ist das Thema der jämmerlichen Digitalisierung, wo wir nicht weiterkommen. Und last but not least natürlich das Thema Infrastruktur. Das sind Herausforderungen, die wir mit  einer Industriestrategie lösen müssen.

Dann brauchen wir eine Entfesselung von Innovationskraft und Ingenieurskraft, die wir in Deutschland haben. Wir haben doch alle Fähigkeiten; wir bremsen uns im Moment nur selbst aus durch Regulationen und vieles andere. Diese Themen inklusive der Beschleunigung der Planungs-und Genehmigungsverfahren müssen gelöst werden. Und wenn wir diese Bremsen lösen, bin ich zuversichtlich, dass wir die Herausforderungen bestehen werden.

Letzte Frage: Die Herausforderungen sind enorm. Die Prioritäten der Regierung häufig nicht diejenigen, die der Standort bräuchte. Die Entscheidungsfindungsprozesse sind extrem schwierig und langsam. Warum ist die Industrie und warum sind die Verbände eigentlich so ruhig? Müssten sie nicht viel stärker und deutlicher von der Bundesregierung eine wirtschafts- und industriepolitische Agenda einfordern? Wer Transformationspolitik will, braucht Standortpolitik. Wer keine Standortpolitik macht, wird die ökologische Transformation nicht erfolgreich gestalten. Auf der politischen Agenda diskutieren wir jedoch über Heizungen. Wir diskutieren aber nicht über Strompreise, Investitionen und Fachkräfte in der gebotenen Form. Man müsste eigentlich eine andere Agenda und andere Prioritäten in der Debatte setzen.

Wir haben in den letzten Wochen und Monaten in einer Deutlichkeit und in einer Vehemenz auf diese industriepolitischen Belange hingewiesen und auch das Thema De-Industrialisierung nicht gescheut, dass wir erheblichen Gegenwind aus vielen Fraktionen bekommen haben.

Wir mahnen und machen gleichzeitig konkrete Vorschläge.

Ja, es könnte mehr sein. Wir haben auch einen engen Schulterschluss mit unserer Industriegewerkschaft, mit der wir in diesen Fragestellungen partnerschaftlich unterwegs sind. Michael Vassiliadis stößt ins  gleiche Horn. Wir sind in den großen Prozessen im BMWK und im Kanzleramt massiv involviert.

Wir haben große Sorgen hier an diesem Standort. Wir haben aber Vorschläge und wollen diesen Standort mitgestalten und ihm eine Zukunft geben. Mehr geht immer, aber ich denke, die Themen sind angekommen. Weite Teile der Politik haben den Ernst der Lage erkannt. Jetzt gilt es, zügig zu debattieren und dann den richtigen Weg einzuschlagen. Hier können wir nur beraten und zu mehr Tempo mahnen. Entscheiden muss am Ende die Politik.

Das stimmt, Koalitionen dürfen nicht nach einer Binnen-Logik funktionieren, sondern müssen nach einer Sach-Logik funktionieren. Da gebe ich Ihnen ausdrücklich recht. Herzlichen Dank für das Gespräch und offenen Worte. Alles Gute.

Alles Gute.