Prof. Marcel Fratzscher, PhD. und Prof. Dr. Jens Südekum im Interview mit Matthias Machnig
Matthias Machnig: Das Wachstum in Deutschland ist schwach, die Investitionen und die industrielle Wertschöpfung sind rückläufig. Wie schätzen Sie die Lage der deutschen Wirtschaft ein? Haben wir ein Standortproblem, Herr Fratzscher?
Marcel Fratzscher: Die Lage ist deutlich besser als die Stimmung. Die Auftragsbücher in vielen Industriebereichen sind gut gefüllt, nicht übervoll, aber ordentlich gefüllt. Die Ertragslage vieler Industrieunternehmen ist gut, es wurden im vergangenen Jahr zum Teil dicke Gewinne gemacht. Punktuell gibt es in einzelnen Branchen durchaus erhebliche Probleme, aber angesichts der Größe des Schocks, den wir erlebt haben, ist die wirtschaftliche Stagnation in diesem Jahr ein großer Erfolg.
Vor einem halben bis dreiviertel Jahr haben wir eigentlich alle in unseren Prognosen mit einer tiefen Rezession gerechnet. Die Bewältigung dieses Schocks ist deutlich besser verlaufen, als wir es erwarten konnten.
Das hat mit den starken Wirtschaftshilfen zu tun und dass die Energiesicherheit gewährleistet werden konnte, was die Politik sehr gut und richtig gemacht hat. Das hatte auch ein bisschen mit Glück zu tun, da die Weltwirtschaft durch die Entwicklung in China doch etwas besser läuft als erwartet.
Im internationalen Vergleich ist die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland jedoch schwach, insbesondere die Investitionsquote. Hinzu kommen die Herausforderungen durch den IRA. Wie ist Deine Einschätzung, Jens? Sind wir gut durch die Krise gekommen? Oder ist das der Beginn einer wirtschaftlich schwachen Entwicklung für die nächsten Jahre?
Jens Südekum: Ich würde kurz- und mittelfristige Themen trennen. Bei der kurzfristigen Beurteilung stimme ich Marcel Fratzscher zu. Es ist deutlich besser gelaufen, als man es bis vor acht Monaten dachte. Alle gingen davon aus, dass es auf jeden Fall eine Rezession geben würde, es sei nur die Frage, wie schlimm sie wird. Jetzt ist die Rezession abgesagt. Das ist erstmal ein Erfolg.
Aber jetzt tauchen die mittelfristigen Probleme auf, von denen es eine ganze Reihe gibt: Das China-Thema, was in einem Worst Case aufkommen könnte, und insbesondere die Konstellation bei den Energiepreisen. Wir haben eine Chance, auf das Vorkrisenniveau bei den Preisen zurückzukommen, aber im Standortvergleich mit den USA ist es so, dass die USA deutlich günstigere Energiepreise bieten und jetzt zudem gezielte Förderungen für nachhaltige neue Geschäftsmodelle, grüne Industrie. Beim IRA sehe ich mittelfristig die Gefahr, dass die Standortqualität im Vergleich in Europa abnehmen wird und die industrielle Wertschöpfung unter Druck gerät. Auf diese anstehenden mittelfristigen Herausforderungen müssen wir heute schon antworten.
Eines der Stichworte ist die Gefahr der Deindustrialisierung. Das heißt, dass Produktionsentscheidungen kurzfristig verlagert werden, dass es in Deutschland im industriellen Sektor nur noch Ersatzinvestitionen, aber keine Wachstumsinvestitionen mehr gibt. Ist diese Gefahr begründet, oder ist sie eher politisch motiviert?
Marcel Fratzscher: Es ist eine Mischung von beidem. Es ist einerseits ein Klagen auf hohem Niveau, das wir seit Jahrzehnten immer wieder hören. Das Thema der Deindustrialisierung gibt es schon seit Jahrzehnten. Wir hatten in den 1970er Jahren den Weggang der Textilindustrie und in den 1980er Jahren den der Unterhaltungselektronik. Immer wieder sind viele Branchen abgewandert. Bei manchen, wenn ich beispielsweise auf die Solartechnik in 2000er Jahren schaue, war es wahrscheinlich nachteilig. Bei der Textilindustrie war es, denke ich, verkraftbar.
Strukturen zu zementieren, darf nicht das Ziel einer Wirtschaftspolitik sein. Sie muss Veränderungen zulassen und Märkte zu einem gewissen Maße wirken lassen. Eine gewisse Veränderung ist notwendig, unausweichlich und auch gut.
Gleichzeitig mache ich mir schon Sorgen, dass wir in wichtigen Zukunftsbereichen eine Deindustrialisierung sehen könnten, also einen Verlust an Wertschöpfung. Wir wissen, dass die Industrie generell für Volkswirtschaften aber gerade für Deutschland eine enorme Bedeutung hat, weil dort sehr viel Innovation stattfindet, weil Spillover in andere Sektoren gesamtwirtschaftlich immer eine große Rolle für Produktivität gespielt haben. Deshalb muss man dieses Risiko ernst nehmen.
Meine Sorge einer Deindustriealisierung, auch von Sektoren, Unternehmen und Innovationen, die wir eigentlich gerne halten würden, beruht jedoch nicht darauf, dass wir zu hohe Energiekosten haben, sondern darauf, dass die Unternehmen die ökologische und die digitale Transformation und die Neuaufstellung globaler Lieferketten verschlafen. Das ist meine Hauptsorge. Nicht die hohen Energiekosten.
Das Geschäftsmodell Deutschland hatte mehrere Facetten. Eins der entscheidenden Elemente war der hohe Anteil an industrieller Wertschöpfung, der auch ein wichtiger Bestandteil für den Exporterfolg war. Gerät das unter Druck, auch angesichts hoher Energiepreise, oder wie beurteilst Du das, Jens?
Ich mach mir tatsächlich weniger Gedanken darum, dass jemand versuchen sollte, alte Geschäftsmodelle am Leben zu erhalten. Diese Diskussion haben wir vor zehn Jahren geführt. Viele haben über Transformation geredet, aber de facto das Gegenteil gemacht. Da schaue ich insbesondere auf die Automobilindustrie. Das hat sich wirklich verändert. Allen ist klar, dass Strukturerhalt und Erhalt von Industrie in Deutschland und in Europa überhaupt nur gelingen kann, wenn die Geschäftsmodelle komplett umkrempelt werden. Bei der Autoindustrie ist es mittlerweile wirklich auch dem Letzten klargeworden.
Worüber ich mir Sorgen mache, ist die Frage, wo diese Prozesse jetzt stattfinden. Wenn die USA jetzt ganz dezidiert Tax-Credits, Steuergutschriften von drei Dollar pro Kilogramm grünem Wasserstoff, machen, was dafür sorgen wird, dass die Grenzkosten der grünen Wasserstoffproduktion für die Produzenten sogar in den negativen Bereich rutschen können, ist doch ganz klar, wo sich diese Wasserstoff-Produktion ansiedeln wird. Und dann ist die Frage: Wo wird dann zum Beispiel die Stahlindustrie hingehen? Ich sehe keine Probleme, dass die sich nach Nigeria verlagern könnte, wo die Wasserstoff-Produktion auch sehr günstig ist. Aber bei den USA ist es eine andere Frage. Und wenn dann die Stahlproduktion geht, ist die nächste Frage, wo dann am Ende die Wertschöpfung etwa im Automobilbereich oder im Bereich Halbleiter stattfinden wird. Wollen wir das wirklich zulassen?
Ich habe kein Problem damit, die Ammoniak-Produktion auszulagern, die sehr energieintensiv ist und eine geringe Wertschöpfung hat. Aber wollen wir jetzt nonchalant sagen: Wenn die Autoindustrie geht, das ist dann halt so? Wenn die Halbleiterproduktion geht – gerade wo wir noch das Problem mit China haben – dann ist das einfach so? Ich glaube, das können wir uns nicht leisten. Die Spillover, die es in andere Wirtschaftsbereiche gibt, sind sehr evident, gerade auf einer lokalen Ebene. Die Industrie ist in Deutschland regional sehr gut verteilt. Das ist ein Kern des deutschen Wirtschaftsmodells, dass gute Jobs eben nicht nur in den Metropolen sind, sondern breit verteilt im Land. Und wenn die Industrie vor Ort den Bach runtergeht, dann wird das auch die Dienstleistungsbranche merken, die Rechtsanwälte, die Unternehmensberater, die Gastronomie.
Und deswegen tun wir glaube ich sehr gut daran, den Industriekern zu erhalten, was nicht heißt, alte Strukturen zu zementieren, sondern die Transformation am Standort zu ermöglichen. Das ist letztendlich für die Gesamtwirtschaft unverzichtbar.
Eines der Stichworte der Debatte, die aus Brüssel und Berlin zu hören sind, heißt: Wir müssen resilienter werden, wir brauchen technologische Souveränität, wir müssen darüber nachdenken, wie ein intelligentes Decoupling aussehen kann. Wenn dem so ist, dann muss es doch eigentlich darum gehen, in Kernsegmenten industrielle Wertschöpfung in Deutschland und in Europa zu sichern, um resilienter zu werden und gesicherte Lieferketten und integrierte Wertschöpfungsketten zu haben?
Hinzu kommt, dass die Kommission auf bestimmten Zukunftsfeldern ja entsprechende Ziele ausgegeben hat, zum Beispiel die Verdopplung der Chipproduktion, Wiederaufbau der Solarproduktion in Europa usw. Muss es nicht gezielte Maßnahmen geben, um diese Ziele zu erreichen und damit auch industrielle Wertschöpfung in Europa und in Deutschland zu sichern? Ich sehe das Problem, dass wir schöne Ziele haben, aber keine Politiken, um diese zu erreichen.
Marcel Fratzscher: Was sind denn unsere Ziele? Wer legt denn die Ziele fest? Ich zweifle an den Zielen sowie auch an den Instrumenten. Wenn wir die Automobilindustrie schützen wollen, dann ist das eine Zementierung. Das geht auch auf Ihre Frage nach der Abhängigkeit von China ein. Häufig fällt der Begriff der „strategischen Souveränität“. Davon müssen wir uns verabschieden. Wir werden keine strategische Souveränität über eine gesamte Wertschöpfungskette haben. Das ist völlig illusorisch. Das würde Deutschland wirklich ins Abseits schießen, wenn wir das versuchen würden, weil das viel zu teuer und technisch gar nicht möglich wäre. Das gleiche gilt für die Automobilindustrie.
Souveränität heißt ja nicht Autarkie.
Marcel Fratzscher: Die Frage ist, wie man das definiert. Viele definieren strategische Souveränität so, dass man in jedem Schritt der Wertschöpfungskette entweder selber produziert oder zumindest ein hohes Maß an Kontrolle darüber hat. Das halte ich für illusorisch. Das ist keine Autarkie, natürlich benötigt man Vorleistungen usw., aber in jedem Schritt der Wertschöpfungskette führend zu sein, ist nicht möglich und das wäre für eine offene Volkswirtschaft wie Deutschland, die ein derart hohes Maß als Spezialisierung hat, extremst schädlich. Auch bei der Automobilwirtschaft, wenn man sich ganz ehrlich macht, werden viele Unternehmen, gerade bei den Zulieferern, verschwinden oder müssen sich komplett neu erfinden. Man braucht nun mal keine Kupplung mehr für ein Elektroauto und viele andere Dinge auch nicht. Viele Unternehmen werden den Umstieg schaffen, weil sie daran arbeiten und innovativ sind, aber es wird auch Unternehmen geben, die es nicht schaffen werden. Die Automobilwirtschaft wird sich grundlegend verändern und ich befürchte, dass viele Unternehmen immer noch meinen, dass der deutsche Staat ihnen dort unter die Arme greift, was dazu führt, dass sie die Transformation nicht schnell genug angehen.
Ich verstehe den Punkt, dass man sehr, sehr selektiv Bereiche festlegt, wo wir wirklich führend sein wollen und die Produktion in Europa halten wollen. Aber nicht für ganze Wertschöpfungsketten und Sektoren. Also nicht das, was jetzt der Industriestrompreis macht. Das halte ich für falsch und deshalb muss man sehr selektiv sein und bei der Förderung starke Prioritäten setzen.
Und zweitens: Man darf nicht versuchen, alte Strukturen zu zementieren. Das ist genau das, was im Augenblick in der Diskussion ist.
Alle reden über Industriepolitik, gerade aus dem Resilienz- und Souveränitätsargument. Herr Fratzscher sieht das anders. Wie siehst Du das, Jens? Brauchen wir eine gezielte Industriepolitik in bestimmten Sektoren? Brauchen wir in Schlüsselbereichen auch so etwas wie Souveränität, was nicht Autarkie heißt, aber wo man zumindest ein bestimmtes Know-how und Produktionskompetenz und Strukturen in Europa und in Deutschland sichert? So verstehe ich zumindest die Politik aus Brüssel und aus Berlin.
Jens Südekum: Wir müssen einfach mal zur Kenntnis nehmen, was die beiden anderen großen Spieler auf der Welt tun, nämlich genau das. China sowieso seit 2006, die USA spätestens jetzt seit Joe Biden auch. Und ich glaube nicht, dass das unter einem republikanischen Präsidenten anders aussähe. Da wird ganz gezielt definiert, was eine Schlüsselbranche ist, und diese wird dann mit allen Mitteln unterstützt.
Wir können nicht ernsthaft in Europa und in Deutschland sagen, das interessiere uns alles nicht und versuchen, das alte Modell der Globalisierung weiter aufrechterhalten, weil wir damit gut gefahren sind, wenn die beiden anderen großen Spieler uns dezidiert die Botschaft aussenden, dass sie dabei nicht mehr mitspielen werden.
Es gibt ja das Szenario, was in China passieren könnte, wenn wir plötzlich ohne die Halbleiter aus Taiwan dastehen, ohne die weiteren Vorprodukte und Rohstoffe aus China. Dann wird es hier sowieso sehr schlimm in Europa. Von daher geht es jetzt darum, die Zeit noch zu nutzen, gewisse Strukturen aufzubauen, um sich dagegen abzusichern. Wenn jetzt aus den USA die klare Ansage kommt, dass alle Instrumente in Bewegung gesetzt werden, um die Industrie von morgen in den USA anzusiedeln, also insbesondere auch Bereiche, die momentan ja noch eine ziemliche Domäne der europäischen Industrie sind, dann können wir das nicht einfach so geschehen lassen und hinnehmen, dass sich dann eben alle möglichen Industriezweige anderswo hin verlagern und wir dann irgendwas anderes machen. Mir fehlt auch ein bisschen die Fantasie, was das denn dann sein soll, wenn diese Branchen sich alle aufgrund der Politik der USA und China verlagern werden. Das ist mir ein bisschen zu nonchalant.
Und nochmal: Es geht wirklich nicht darum, Industriepolitik des alten Stils zu fahren, also Subventionen einzusetzen, um den Steinkohlebergbau im Ruhrgebiet noch irgendwie am Leben zu erhalten. So war Industriepolitik früher, darüber redet aber wirklich niemand mehr.
Es geht darum, industriepolitische Instrumente einzusetzen, die dafür sorgen, dass die Transformation in Richtung Klimaneutralität und Digitalisierung am Standort Europa stattfindet und nicht irgendwo anders. Das ist die Frage, über die wir reden. Und da sollten wir auch ganz klar sein. Es stand der Vorwurf im Raum, hier wolle jemand alte Strukturen zementieren. Denjenigen sehe ich nicht.
Marcel Fratzscher: Hinter dem Industriestrompreis steht, ganzen Branchen Blanko-Subventionen von vielen Milliarden Euro zu gewährleisten, was alte Strukturen zementiert. Ich halte es für richtig, einzelne wichtige Produkte und Bereiche zu fördern. Hier muss man jedoch erstens sehr selektiv sein und zweitens muss man sich sehr genau überlegen, was die richtigen Instrumente sind. Und der dritte Punkt: Wir sollten mit China nicht auf Konfrontation gehen. Wir sollten klare rote Linien definieren, aber nicht den amerikanischen Weg gehen.
Robert Habeck hat jetzt einen Vorschlag für einen Industriestrompreis vorgelegt. Es gibt Vorschläge von Herrn Weil und anderen. Aus der Industrie kommt viel Zustimmung. Es geht um die Frage, ob ein Industriestrompreis wichtig ist, um die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Im Übrigen: Ich sehe nicht, dass die Branchen, die den Industriestrompreis erhalten würden, ihre Strukturen zementieren würden. Es ist völlig klar, dass der Stahl sich dekarbonisiert und Milliarden-Investitionen in den nächsten Jahren auf den Weg gebracht werden, um die Transformation zu schaffen. Das Gleiche gilt für den Bereich der Chemie-Industrie. Deswegen: Brauchen wir nicht einen Industriestrompreis, damit wir zwei Dinge erreichen: Industrielle Wertschöpfung und Resilienz zu erhalten und auch den Weg zu eröffnen, die Zeit zu kaufen, bis genügend erneuerbarer Strom zur Verfügung steht, der dann auch wieder wettbewerbsfähige Industriestrompreise ermöglicht?
Marcel Fratzscher: Es ist das falsche Instrument. Es ist ein schädliches Instrument. Es ist ein völliger Irrweg, Strom zu subventionieren, weil es eben nicht per se bedeutet, dass die Investitionen in neue Technologien und Innovationen stattfinden. Produktion – und auch „alte“ Investitionen – über den Industriestrompreis zu subventionieren, bedeutet nicht unbedingt, wie Sie das jetzt beschrieben haben, dass dann die Unternehmen endlich die Elektrifizierung vornehmen können.
Es ist das falsche Instrument, über einen gedeckelten Strompreis zu versuchen, die Transformation voranzubringen. Der richtige und viel effizientere Weg, und das zeigen ja auch viele wissenschaftliche Studien im I/O Bereich ist es, erstens, Investitionen zu fördern. Das machen übrigens auch die Amerikaner. Die stellen nicht einfach billige Energie zur Verfügung, sondern fördern gezielt Produktion in Richtung grüner Technologien.
Es geht darum, private Investitionen in neue Technologien, neue Produktionsprozesse und in Elektrifizierung zu fördern. Und da sollte man Investitionen unterstützen. Und zweitens vor allem spezifisch Forschung und Entwicklung, also den Innovationsprozess.
Das Investitionsproblem haben wir schon lange. Um das zu beheben, brauchen wir deutlich mehr und deutlich andere Dinge als einen gedeckelten Strompreis.
Dass wir höhere Investitionen brauchen, teile ich. Gerade in der Transformation sind höhere Investitionsquoten entscheidend, um die Transformation im digitalen und Energie-Bereich zu schaffen. Die Frage lautet nur: Brauche ich nicht Rahmenbedingungen, auch bei den Energieintensiven, damit Investitionen überhaupt noch getätigt werden und nicht Verlagerungseffekte stattfinden? Deswegen an Jens Südekum die Frage: Wie wichtig ist ein Industriestrompreis – als ein Element von Industriepolitik?
Jens Südekum: Das ist das große Missverständnis in der Diskussion. Wenn es irgendjemand gäbe, der einen Industrie-Gaspreis vorschlagen würde, dann wäre ich bei Marcel Fratzscher. Das wäre ein Instrument, das ich ablehnen würde, weil das die Transformation verzögert.
Aber Transformation in der Industrie ist ein Prozess der Elektrifizierung. Das ist völlig klar. Bis 2030 80 Prozent grüner Strom und bis 2045 eine komplette Dekarbonisierung der Industrie. Das kann nur gehen durch eine Elektrifizierung. Die Industrie wird immer Energie brauchen, aber die Energie soll eben künftig aus grünem Strom kommen und nicht mehr aus fossilen Energien.
Insofern beschleunigt doch der Industriestrompreis diese Transformation. Warum? Weil er die Rahmenbedingungen für Investitionsentscheidungen verändert. Nehmen wir den Stahl. Es gibt zwei Probleme. Einerseits benötigt man Geld für die Investitionen für den Aufbau eines Direktreduktions-Hochofens – sogenanntes Capex. Da könnten jetzt Investitionsförderungen, Superabschreibungen usw. helfen. Aber diese Investitionen werden nicht stattfinden, wenn das Geschäftsmodell dahinter unsicher und unklar ist. Und das Geschäftsmodell hängt an den sogenannten Opex-Kosten, an operating expenditures. Also: wie teuer ist Strom? Wie teuer ist es am Ende, mit Strom – meinetwegen auch dezentral über Elektrolyseure – Wasserstoff zu produzieren?
Und hier setzt jetzt der Industriestrompreis an. In dem Moment, in dem ein Stahlwerk weiß, dass der Strompreis bis 2030 bei maximal sechs Cent liegen wird, ändert sich die Investitionsrechnung und genau diese Strukturen werden plötzlich interessant und die Investitionen finden statt. Und sie finden nicht statt, wenn Unsicherheit über das Geschäftsmodell existiert. Dann können wir noch so viele Superabschreibungen oder Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen anbieten, die erst in zehn Jahren greifen. Das hilft alles überhaupt nichts. Die Investition hängt an den Grenzosten und da setzt der Industriestrompreis an.
Was die Ausgestaltung des Industriestrompreises angeht, da finde ich das Konzept des BMWK im Prinzip schlüssig, die Sparanreize dadurch zu erhalten, dass es den Industriestrompreis nicht für unbegrenzte Mengen, sondern für ein Kontingent gibt, das sich an 80 Prozent des Vorjahres aufhängt. Zudem wird es gekoppelt mit der ersten Säule, also mit dem massiven Ausbau der Erneuerbaren, sodass die Marktpreise irgendwann wahrscheinlich unter diese sechs Cent rutschen. So ist es bei der Strompreisbremse in diesem Jahr auch passiert.
Muss man nicht aus der GEG-Debatte lernen, dass Ziele, die richtig sein mögen, die zum Teil aber keine Instrumentierung haben und zu Verunsicherung führen, zu massiven Akzeptanzverlust einer notwendigen Transformation führen? Und könnte es nicht auch sein, dass wenn es, und es wird Strukturveränderungen geben, zum Beispiel im Bereich der Automobilzulieferer, wenn dies etwa im industriellen Bereich mit hoher Wertschöpfung, hohen Löhnen und ähnlichem verbunden ist, dass dies auch zu Akzeptanzverlusten der Transformation insgesamt führen kann? Ist es deswegen nicht notwendig, Industriepolitik und Industriestrompreise einzusetzen, um die Transformation nachvollziehbar, sozialverträglich und wettbewerbsfähig zu gestalten?
Marcel Fratzscher: Dass wir weiterhin eine starke Industrie in Deutschland haben wollen, die sich transformiert, die zukunftsfähig wird, steht außer Frage. Sie schafft viele gute Arbeitsplätze, viele Innovationen.
Aus meiner Sicht reduziert der Industriestrompreis jedoch die soziale Akzeptanz für Veränderungen, weil dies letztlich nichts anderes als eine Umverteilung von den Menschen und den Branchen und Unternehmen, die ihn nicht bekommen, hin zu den Branchen, die davon profitieren, ist.
Wir müssen uns bewusst machen, dass ein Industriestrompreis mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen wird, dass die Strompreise für andere, die diesen nicht erhalten, höher sein werden. Bei einem Markt mit einem begrenzten Angebot werden die profitieren, die die Subvention erhalten, da sie ihre Nachfrage erhöhen, wodurch der Preis für die anderen wahrscheinlich steigt.
Und hier werden 35 Milliarden Euro an Unternehmen ausgeschüttet, während Bürgerinnen und Bürger, vor allem Menschen mit geringen Einkommen, die in dieser Krise besonders stark leiden und individuell eine viel höhere Inflation haben, ihn nicht bekommen.
Ich habe gerade aus der Perspektive auch große Zweifel, dass das der sozialen Akzeptanz helfen soll. Ganz im Gegenteil. Ich glaube, viele Menschen werden sich fragen: „Moment mal, ich bin hier am Kämpfen, aber es werden jetzt nochmal 35 Milliarden Euro für gewisse Branchen ausgegeben?“ Ich sehe die soziale Akzeptanz als ein wichtiges Element, sehe sie aber eher geschmälert dadurch.
Der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) hat ja versucht, für die Industrie sowie für Privathaushalte den Strompreis zu deckeln und in dem Konzept über das diskutiert wird, redet niemand über 100 Prozent, sondern über 80 Prozent. Von daher bleibt für die Industrie ein Anreiz, energieeffizienter zu werden.
Nochmal die Frage an Jens Südekum: Ist ein Industriestrompreis notwendig, um Berechenbarkeit und Sicherheit in der Transformation zu schaffen, gerade in Kernbereichen des deutschen Geschäftsmodells, und ist das nicht auch ein Beitrag zur Akzeptanz der Transformation der deutschen Wirtschaft?
Jens Südekum: Wenn wir statisch denken und der Industriestrompreis eine statische Subvention wäre, die dann finanziert wird durch zusätzliche Netzentgelte bei den Privatkunden, dann würde ich das Argument akzeptieren. Dann würden die Strompreise tatsächlich für andere steigen, um die Industrien zu subventionieren.
Wir haben aber eine dynamische Situation. Erstens redet keiner über eine Finanzierung durch Netzentgelte. Zweitens ist das Ganze eingebettet in ein Konzept, wo die Erneuerbaren massiv ausgebaut werden, wo absehbar bis 2030 und darüber hinaus die Strompreise sinken werden.
Es geht jetzt nur um die Frage: Wollen wir in dieser Brückenphase die Industrie und den Kern der Industrie am Standort halten? Und ich glaube nicht, dass eine Finanzierung über WSF-Gelder zu massiv höheren Strompreisen bei den anderen führen wird, weil ja parallel das Angebot ausgeweitet wird.
Dann ist die Frage: Selbst wenn jetzt die Strompreise etwas steigen sollten, was ich bezweifle, ist es wirklich so eine gute Rechnung, den Industriestrompreis sein zu lassen, aber dafür den industriellen Kern und die Arbeitsplätze in Gefahr zu bringen?
Ich glaube auch aus Perspektive von Haushalten könnte ein höheres Interesse daran bestehen, den Kern der industriellen Substanz zu erhalten und parallel über den Industriestrompreis eine gewisse Brücke bis 2030 zu schlagen – aber eben bezahlt aus den Mitteln des Wirtschaftsstabilisierungsfonds und natürlich eingebettet in ein Konzept, in dem die Kapazitäten massiv ausgeweitet werden und die Strompreise auf absehbare Zeit sinken werden und nicht steigen.
Der WSF ist jetzt mehrfach genannt worden. Die einen sagen, der Industriestrompreis könnte darüber finanziert werden und andere sagen, das sei rechtlich nicht möglich – so argumentiert etwa das Bundesfinanzministerium. Wäre der WSF ein rechtlich zulässiges Finanzierungsinstrument für den Industriestrompreis?
Marcel Fratzscher: Ich bin kein Jurist, deshalb kann ich darauf nicht antworten. Ich kann nur nochmal sagen: Ich halte den Industriestrompreis für einen Irrweg, der vielleicht kurzfristig ein paar Jobs erhält, aber langfristig die Deindustrialisierung eher schneller voranbringen wird. Meine Befürchtung ist, dass es kontraproduktiv sein wird, weil es eben nicht die Transformation beschleunigt, sondern eher verlangsamt.
Jens Südekum: Ich bin auch kein Jurist, insofern kann ich nur konstatieren, dass es offensichtlich ja möglich war, im Rahmen des „Doppel-Wumms“ im WSF, die Strompreisbremse für die Industrie bis 2024 zu organisieren. Dann sehe ich ehrlich gesagt nicht, warum es nicht möglich sein soll, das bis 2030 zu tun. Es ist keine Umwidmung der „Doppel-Wumms“-Mittel, sondern lediglich eine zeitliche Streckung.
Ich möchte abschließend nochmal festhalten, dass es für mich ökonomisch nicht plausibel ist, durch welchen Kanal dieses Instrument die Transformation verschleppen sollte. Es kann sie eigentlich nur beschleunigen, im schlimmsten Fall keinen Einfluss haben, aber eine Verschleppung der Transformation durch dieses Instrument kann ich mir wirklich nicht vorstellen.
Es gibt ja auch Beschlüsse auf europäischer Ebene, wie z.B. die Kürzung der Freizuteilung beim ETS, von daher wird der Druck in Richtung Elektrifizierung mit Investitionen in mehr Energieeffizienz weiter aufrechterhalten.
Wie auch immer die Debatte um den Industriestrompreis ausgehen wird: Wir brauchen Entscheidungen für den Investitionsstandort. Es muss Klarheit geschaffen werden, um zu vermeiden, dass es zu einem Investitionsattentismus kommt. Das können wir uns nicht erlauben.
Herzlichen Dank für das Gespräch und Glück auf.