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Der demografische Wandel ist Realität. Um nachhaltigen Wohlstand am Innovations- und Wirtschaftsstandort Deutschland bewahren und mehren zu können, müssen inländische und ausländische Erwerbspersonenpotenziale jetzt ausgeschöpft und das schleppende Wachstum der Arbeitsproduktivität gezielt angekurbelt werden. Doch das wird nicht ohne Veränderungsbereitschaft auf allen Ebenen gelingen. Denn es gilt, gewachsene Strukturen und Prozesse grundsätzlich zu hinterfragen, von der Frage der Erwerbstätigkeit im Alter, über die Steuerung von Zuwanderung bis hin zu Reformen im Bildungssystem.

Fachkräftesicherung als unverzichtbare Wohlstandsbasis

Innovation und technischer Fortschritt bleiben die unverzichtbare Basis für den erfolgreichen Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft. Deshalb stellt acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften Deutschland als Technologie- und Innovationsstandort immer wieder in den Mittelpunkt ihrer Analysen. Innovation ist nur als Ergebnis menschlichen Schaffens denkbar – im Verbund mit Technologien, aber niemals losgelöst davon. Daher brauchen wir Menschen, die mit Begeisterung und technischem Verständnis neue Wege verfolgen, die neue Geschäftsmodelle entwerfen, um innovative Produkte herzustellen sowie Dienstleistungen wie Beratung, Betreuung oder Pflege besser bereitstellen zu können, und die den Nachwuchs qualifizieren. Vor diesem Hintergrund sind die zunehmenden Fachkräfteengpässe eine der zentralen Herausforderungen für unsere Volkswirtschaft, insbesondere für den Mittelstand.

Aktuelle Engpässe nur Spitze des Eisbergs

Die aktuell beobachteten Engpässe sind dabei lediglich die Spitze des Eisbergs: Aktuell ist das Erwerbspersonenpotenzial zwar auf einem Höchststand angelangt, doch es ist in den kommenden Jahren mit einem deutlichen Rückgang zu rechnen, wenn die Generation der Babyboomer nach und nach in den Ruhestand eintreten wird. Neue Knappheiten werden entstehen, der Arbeitsmarkt wird mehr und mehr zum Anbietermarkt: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelangen zunehmend in eine günstige Verhandlungsposition, um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Dadurch wird der Druck steigen, Arbeitskraft ihrer jeweils produktivsten Verwendung zuzuführen, und vor allem in Engpassberufen entstehen Anreize für Weiterbildungen und Umschulen, um Produktivitätssteigerungen zu ermöglichen.

Doch obschon das damit verbundene Wachstum der Arbeitsproduktivität dem demographischen Wandel am Arbeitsmarkt entgegenwirken wird, ist dennoch nicht damit zu rechnen, dass dies auch nur ansatzweise ausreichen wird, um den Rückgang an Arbeitskraft zu kompensieren. Zudem ist neben einem deutlichen Rückgang an Innovations- und Wirtschaftskraft eine erhebliche Belastung der sozialen Sicherungssysteme zu erwarten, deren Tragfähigkeit perspektivisch massiv herausgefordert werden wird. Angesichts dieser gewaltigen Bedrohung wird es entscheidend darauf ankommen, alle verfügbaren Hebel zur Sicherung der Fachkräftebasis entschieden zu nutzen. acatech sieht dabei vor allem die folgenden vier zentralen Handlungsfelder.

Inländische Potenziale noch weiter ausschöpfen

In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten ist die Zahl der Erwerbstätigen auf einen Höchststand geklettert, während die Arbeitslosigkeit auf einen Tiefststand gesunken ist. An dieser erfreulichen Entwicklung hatten politische Weichenstellungen einen erheblichen Anteil, die auf ein friktionsärmeres Funktionieren des deutschen Arbeitsmarkts abzielten. Eine Kehrseite dieser Entwicklung ist jedoch, dass inländische Arbeitsmarktpotenziale nunmehr weitgehend ausgeschöpft sind und kaum mehr stille Reserven mobilisiert werden können. Dennoch fordert die Fachkräftesicherung alle Anstrengungen, um diese verbliebenen Reserven zu heben. So sind insbesondere die Möglichkeiten, Teilzeitstellen insbesondere von Frauen aufzustocken, keineswegs ausgereizt. Doch dazu bedarf es eines entschiedenen Ausbaus der Betreuungs- und Pflegeinfrastruktur sowie eines Abbaus der steuerlichen Anreize zur Teilzeitarbeit.

Zu den inländischen Potenzialen gehört zwingend auch die im Zuge des demographischen Wandels wachsende Zahl älterer Menschen, die in ihrem Lebensverlauf erhebliche Kompetenzen aufgebaut haben, nun jedoch kurz vor dem Renteneintritt stehen. Es könnte der verfügbaren Fachkräftebasis erheblichen Rückenwind verleihen, diese Menschen länger für die Erwerbsarbeit zu gewinnen und zugleich deren Lebensentwürfe bereichern. Dies kann zum einen durch attraktive Möglichkeiten zum Zuverdienst während des Rentenbezugs geschehen.

Zum anderen werden wir kaum darum herumkommen, Möglichkeiten des vorzeitigen Renteneintritts für langjährige Versicherte kritisch auf den Prüfstand zu stellen, selbstverständlich ohne denjenigen die Möglichkeiten zum Eintritt in den Ruhestand zu verwehren, die ihre Tätigkeiten aus gesundheitlicher Einschränkung heraus nicht mehr verrichten können. Doch eine Vielzahl an Tätigkeiten kann auch im höheren Alter produktiv und sinnstiftend erbracht werden. Hier gilt es nicht zuletzt im Sinne der Generationengerechtigkeit, Lösungen zu finden, um Erwerbsarbeit mit der individuellen Lebenssituation zu verbinden.

Internationale Fachkräfte für Deutschland gewinnen

Deutschland ist ganz offensichtlich seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland. Inzwischen hat mehr als jede vierte in Deutschland lebende Person einen Migrationshintergrund. Es führt auch kein Weg an der Einsicht vorbei, dass unsere Volkswirtschaft im demographischen Wandel auf weitere Zuwanderung angewiesen ist. Das aktuelle Migrationsgeschehen aus nicht-EU-Staaten wird jedoch maßgeblich durch Asylsuchende und Familiennachzüge bestimmt. Um den wachsenden Fachkräftebedarf zu decken, bräuchte Deutschland aber mehr Zuwanderer aus Drittstaaten, die zum Zweck von Arbeit oder Ausbildung einreisen.

Vor diesem Hintergrund wurde die Zuwanderungsgesetzgebung zwar in den vergangenen Jahren deutlich liberalisiert. Ein deutlicher Anstieg der Erwerbsmigration wird jedoch durch träge bürokratische Prozesse verhindert: Insbesondere die Prozesse der Visavergabe und Berufsanerkennung müssen dringend verschlankt, beschleunigt, digitalisiert und transparent gestaltet werden. Dazu gilt es, verkrustete Strukturen in der Verwaltung aufzubrechen und in den beteiligten Behörden eine Willkommens- und Dienstleistungskultur zu etablieren.

Digitalisierung als Teil der Lösung verstehen

Anders als es die Bundesregierung in ihrer Fachkräftestrategie anklingen lässt, sieht acatech Digitalisierung und Automatisierung eher als Teil der Lösung und weniger als Teil des Problems. Insbesondere steigt mit dem technologischen Fortschritt die Menge an Aufgaben, die durch technische Lösungen erledigt oder stark unterstützt werden können. Somit können Investitionen in Digitalisierung und Automatisierung dabei helfen, Fachkräfteengpässen entgegenzuwirken. Die zentrale Aufgabe liegt in der partizipativen Gestaltung dieser Optionen, um deren Vorteile tatkräftig zur verwirklichen und etwaige Nachteile von vornherein einzuhegen. Dies wird nur mit Technologieoffenheit und Experimentierfreude gelingen können.

Der Einsatz von Technologien und die Umstellung von Produktionsprozessen obliegt dabei den einzelnen Unternehmen – im Zusammenspiel mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Der Staat sollte hier jedoch die Funktion eines Ermöglichers einnehmen, erforderliche Infrastruktur schaffen, Standards und Schnittstellen definieren sowie durch digitale Verwaltungsprozesse Digitalisierungsimpulse setzen. Gerade dabei gibt es in Deutschland noch großen Nachholbedarf.

Grundkompetenzen als Basis für Lebenslanges Lernen vermitteln

Kaum eine andere Facette des volkswirtschaftlichen Potenzials hat Deutschland bislang im internationalen Wettbewerb so zum Vorteil gereicht, wie das durch Bildung und Ausbildung aufgebaute Humanvermögen. Das schlechte Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich und insbesondere der hohe Anteil derer, welche die Mindeststandards verfehlen, ist vor diesem Hintergrund alarmierend. Ebenso bedrückend ist mittlerweile der hohe Anteil Erwachsener ohne Berufsausbildung. Zudem wandeln sich die Anforderungen stetig im Zuge des unaufhörlichen Strukturwandels, nicht nur im Bereich der Digitalisierung und Automatisierung. Somit kommt der Vermittlung der benötigten Fähigkeiten eine Schlüsselrolle zu.

Es wird angesichts der Dynamik der anstehenden Veränderungsprozesse nicht gelingen, konkrete Ausbildungsbedarfe zentral zu steuern. Doch ohnehin sollte die Vermittlung von Grundkompetenzen im Bildungssystem angesichts der geschilderten Defizite sowie als Basis für Lernerfolge im gesamten Lebensverlauf oberste Priorität genießen. Gepaart mit einem transparenten Arbeitsmarkt und angemessener Unterstützung von lebenslanger Weiterbildung würden Arbeitnehmende ermächtigt, aktiv und zum eignen Vorteil auf Knappheiten zu reagieren und Fachkräfteengpässen mit gezieltem Kompetenzerwerb zu begegnen.

Alle Hebel zugleich in Bewegung setzen

Angesichts des Umfangs, mit dem der demographische Wandel in den kommenden Jahren seine Wirkung entfalten wird, wird es nicht reichen, sich auf einzelne Maßnahmen zu beschränken. Vielmehr gilt es, alle Hebel in Bewegung zu setzen: Inländische Potenziale müssen noch weiter gehoben, Erwerbsmigration offensiver gefördert, Digitalisierung freimütiger ermöglicht und Bildung weit stärker priorisiert werden. Nur im Zusammenspiel dieser Bereiche lassen sich Rahmenbedingungen für die Fachkräftesicherung in Deutschland schaffen, die auch zukünftig Innovation und, darauf basierend, nachhaltigen Wohlstand ermöglichen.

 

Prof. Dr. Dr. h. c. Christoph M. Schmidt ist Präsident des RWI — Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und Professor für Wirtschaftspolitik und angewandte Ökonometrie an der Ruhr-Universität Bochum. Er war Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und ist Vizepräsident von acatech — Deutsche Akademie der Technikwissenschaften.

 


acatech Spitzendialog am 20. Juni 2023 in Berlin:

„Innovationssystem Deutschland: Die Fachkräftesicherung unterstützen“

Die in diesem Beitrag skizzierten Handlungsoptionen zur Fachkräftesicherung hat acatech in einer umfangreichen Studie im Projekt Innovationssystem Deutschland zusammengetragen und tiefer diskutiert. Aufbauend auf aktuellen Daten wurden die Perspektiven von unterschiedlichen Akteuren aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft auf die Herausforderungen der Fachkräftesicherung gebündelt und Handlungsoptionen erarbeitet. Die acatech Studie „Die Fachkräftesicherung in Deutschland unterstützen“ ist ab dem 20. Juni 2023 auf der acatech Internetseite verfügbar.

Beim acatech Spitzendialog am 20. Juni 2023 in Berlin werde ich die neue acatech Studie vorstellen und die Handlungsoptionen mit Gunilla Fincke, Abteilungsleiterin Qualifizierung, Aus- und Weiterbildung, Fachkräftesicherung im BMAS, Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer des BDA sowie Anja Piel, Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstands des DGB, diskutieren. acatech Präsident Thomas Weber wird die Runde moderieren. Sie sind herzlich eingeladen, mitzudiskutieren. Sie können sich hier zur Veranstaltung anmelden.