Aufbruch in eine neue europäische Industriepolitik für sozialen und ökologischen Fortschritt

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Krisen so scheint es, sind in den letzten anderthalb Dekaden von der Ausnahme zum Regelfall geworden. In immer kürzeren Abständen haben krisenhafte Ereignisse maßgeblich die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und Europa beeinflusst. Vor allem in der Corona- und Energiekrise hat die deutsche Bundesregierung im Zusammenspiel mit der europäischen Ebene als starker Krisenmanager agiert und beherzt in die Märkte eingegriffen. Dabei wurde zumindest zeitweilig das neoliberale Dogma des schlanken Staates überwunden, wodurch schlimmere Folgen bisher abgemindert werden konnten.

Die krisengebeutelte Entwicklung der letzten 15 Jahre trifft auf eine Generation, die nur noch eine schwindende Chance hat, die Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels auf ein erträgliches Maß zu begrenzen. Und das in einer Welt, in der 30 Jahre ungezügelter Neoliberalismus zu erheblichen sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen geführt hat: eine zügellose Globalisierung; soziale Polarisierung mit einer Prekarisierung von Arbeit, einem zunehmenden Abstieg der Mittelschicht, während die Anzahl der Superreichen stetig steigt; Aufstieg des Populismus sowie eine zunehmend dysfunktionale Daseinsvorsorge sind nur einige Folgen dieses Wirtschaftsmodells und faktisch das Gegenteil der nachhaltigen Entwicklungsziele der UN. Hinzu kommen neue geopolitische Risiken in Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine, die Verschiebung wirtschaftlicher Machtzentren und zunehmend fragile Wertschöpfungsketten.

Die Schattenseiten eines unkontrollierten wirtschaftlichen Wandels, der mit einer massiven Deindustrialisierung („rust belt“) und Verarmung ehemaliger Industrieregionen einherging, hat in den USA zu einer beispiellosen politischen Polarisierung geführt. Diese fand mit der Wahl Donald Trumps einen vorerst letzten Höhepunkt. Nicht zuletzt dieses Ergebnis einer Phase des spürbaren wirtschaftlichen Abstiegs breiter Bevölkerungsschichten hat den amtierenden Präsidenten Joe Biden zu einem wirtschaftspolitischen Kurswechsel veranlasst, der mit dem Motto „Build back better“ treffend beschrieben wurde.

Inflation Reduction Act als Katalysator des wirtschaftspolitischen Kurswechsels in den USA

Herz dieses Kurswechsels ist der Inflation Reduction Act (IRA), der im Kern aus einem 370 Milliarden US-Dollar schweren Investitionsprogramms besteht. Mit Hilfe des IRA soll die gegenwärtig hohe Inflation reduziert, Klimaschutz vorangetrieben sowie ein nachhaltiges Wohlstandsmodell mit neuen, guten Arbeitsplätzen geschaffen werden.

Die Biden-Administration hat erkannt, dass der Markt allein den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft nicht gewachsen ist, sondern dass es einer klaren Orientierung und einer beherzten Investitionspolitik des Staates bedarf, um im Angesicht der großen Herausforderungen der Transformation zukunftsfähige Wertschöpfungsketten aufzubauen und nachhaltigen Wohlstand in die Breite der Bevölkerung zu tragen.

Im Zentrum des IRA steht eine aktive Industriepolitik, die auf Infrastrukturinvestitionen und Investitionsanreize in klimaneutrale Zukunftstechnologien setzt. Ein Schwerpunkt liegt auf der Schaffung gut bezahlter Arbeitsplätze, die ausdrücklich auch gewerkschaftlich organisiert („Union Jobs“) sein sollen. Damit will die Biden-Administration wiederum einen Beitrag zur Stabilisierung der Mittelschicht und der Demokratie leisten. Über die Koppelung der öffentlichen Fördermittel für Unternehmen an beschäftigungspolitische Kriterien, soll sichergestellt werden, dass die geschaffenen Jobs auch gute sind. Diese offensive Verbindung von Klima- und Beschäftigungszielen ist für die USA ein Novum und wird von den amerikanischen Gewerkschaften ausdrücklich begrüßt.

Eine europäische Antwort auf den IRA

Lange galt Industriepolitik in der EU als verpönt. Mit dem IRA ist endlich eine Debatte in Gang gekommen, in welchem Verhältnis Staat und Markt bei der Transformation zueinanderstehen sollen. Mit dem Green Deal Industrial Plan hat die EU-Kommission vor Kurzem eine erste Antwort gegeben, verschiedene Gesetzesvorhaben angekündigt und damit die Rolle eines aktiven Staates unterstrichen.

Der Net Zero Industry Act definiert das Ziel, bis 2030 40 Prozent der transformationsrelevanten Technologiegüter, insbesondere auf Ebene des Energieanlagenbaus, in Europa zu produzieren. Der Critical Raw Materials Act soll die Versorgung mit kritischen und strategischen Rohstoffen verbessern, indem der heimische Abbau ermöglicht, internationale Partnerschaften geknüpft und die Kreislaufwirtschaft gestärkt werden. Außerdem sieht der Green Deal Industrial Plan eine Reform des europäischen Strommarktdesigns vor. Demnach sollen mit langfristigen Verträgen Preisspitzen geglättet, mit Festpreisverträgen Preisschwankungen verhindert und mit Differenzverträgen der Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigt werden.

Es ist zu begrüßen, dass die Kommission mit dem Green Deal Industrial Plan einen strategischen Gestaltungsansatz formuliert. Allerdings bleiben die Vorschläge bisher hinter den notwendigen Anforderungen zurück. Die einseitige Wettbewerbslogik des europäischen Beihilferechts steht einer gestaltenden Industrie- und Dienstleistungspolitik weiter im Weg. Ein konsistenter Fokus auf die Förderung von Guter Arbeit fehlt gänzlich und an vielen Stellen sind die im Kern richtigen Zielsetzungen nicht mit entsprechenden Maßnahmen und finanziellen Mitteln hinterlegt.

Eine fortschrittliche Europäische Transformationspolitik erfordert hingegen sechs zentrale Punkte:

1. Innovationspartnerschaft von Staat und Markt vorantreiben

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krisen und wirtschaftlichen Fehlentwicklungen muss eine neue wirtschaftspolitische Ära, wie sie Marianna Mazzucato oder Tom Krebs beschreiben, beginnen. Es braucht ein neues Verhältnis von Staat und Markt – eine Innovationspartnerschaft, die dem Wandel eine fortschrittliche Richtung gibt. Um Innovationsprozesse zu beschleunigen und wirtschaftlichen Wohlstand im Wandel zu sichern, muss ein strategisch agierender Staat stärker den Takt vorgeben.

Transformationspolitik darf nicht bei der Förderung von Forschung und Entwicklung enden, sondern muss über gezielte Investitionen und Anreize die Marktentwicklung von Zukunftstechnologien vorantreiben und zur Marktdurchdringung verhelfen. Ziel dieser aktiven Transformationspolitik ist es, strategisch wichtige Wirtschaftsbereiche langfristig in Europa anzusiedeln und damit Wertschöpfungspotentiale zu erschließen. Im Gegensatz zum Net Zero Industry Plan sollten vollständige Wertschöpfungsketten beginnend bei den Grundstoffindustrien bis hin zu den angeschlossenen Dienstleistungen betrachtet und wo nötig, durch gezielte Anreize gemeinsam gestärkt werden.

Einhergehen muss damit auch eine Investitionsoffensive in die öffentliche Infrastruktur, die Daseinsvorsorge und den Sozialstaat. Wichtig zu beachten ist, dass öffentliche Investitionen neben der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts ganz wesentlich zur Ausweitung der privaten Investitionstätigkeit beitragen. Sie sind der Schlüssel, um die Voraussetzungen für das Gelingen der Transformation beispielsweise durch den Ausbau des Schienennetzes oder der Ladesäuleninfrastruktur zu schaffen.

2. Investitionen steigern und gerecht finanzieren

Eine aktive Investitionspolitik erfordert ausreichend Mittel. Mit Austerität wird dies nicht gelingen. Einerseits werden zusätzliche europäische Investitionsmittel benötigt, damit auch wirtschaftlich schwächere Staaten eine Entwicklungsperspektive haben. Nach dem Scheitern des Souveränitätsfonds braucht es für die Zeit nach der EP-Wahl einen neuen Anlauf. Ein groß angelegter europäischer Transformationsfonds, der als strategischer und gemeinwohlorientierter Investor agiert, könnte hierfür wegweisend sein. Andererseits braucht das Beihilferecht nicht nur kosmetische oder befristete Anpassungen, sondern eine langfristige Reform hin zu einem Transformationsbeihilferecht, damit die Mitgliedsstaaten notwendige Maßnahmen vor Ort umsetzen können.

Eine Finanzierung der Transformation alleine über den CO2-Preis greift aus vielerlei Hinsicht zu kurz. Es ist ein Gebot der Fairness, dass insbesondere die größten Einkommen und Vermögen, die durch den neoliberalen Entwicklungspfad sprunghaft gewachsen sind, stärker besteuert werden. Zudem sollten Europas Schuldenregeln investitionsfreundlicher ausgestaltet werden, um angemessene Spielräume in allen Mitgliedsstaaten zu schaffen. Ein Nichthandeln würde uns in der Perspektive deutlich teurer zu stehen kommen, als Zukunftsinvestitionen, die das Erreichen der Klimaziele, die Wettbewerbsfähigkeit und den nachhaltigen Wohlstand von morgen sichern.

3. Energiewende vorantreiben, günstige Strompreise sichern

Basis für ein Gelingen der Transformation ist der beschleunigte Ausbau der Erneuerbaren Energien. Das sichert mittel- bis langfristig bezahlbare Strompreise. Denn ohne günstigen Strom wird es keine schnelle Transformation aller Wirtschafts- und Lebensbereiche geben. Deshalb müssen wir mit der Lebenslüge aufräumen, dass Strom zwingend teuer sein muss, um die Transformation voranzutreiben. Im Gegenteil: Bleibt Strom in Europa teuer, wird die notwendige Transformation verlangsamt, da die Investitionsmittel dann nicht in die notwendige Elektrifizierung und damit in die Dekarbonisierung, sondern in die Energierechnung fließen.

Insbesondere die energieintensiven Industrien sind in der Transformationsphase auf einen konstanten und international wettbewerbsfähigen Industriestrompreis angewiesen. Dieser muss gelten, bis ein dauerhaft wettbewerbsfähiges Preisniveau durch den Ausbau erneuerbarer Energien sichergestellt wird. Auch für Gewerbe, Handwerk, Daseinsvorsorge und Haushalte brauchen wir bezahlbare und verlässliche Strompreise, um übermäßige Belastungen zu vermeiden. Denn nur so werden sich neue strombasierte Technologien wie etwa Wärmepumpen durchsetzen.

4. Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen

Aufwendige Planungs- und Genehmigungsverfahren auf nationaler und europäischer Ebene hemmen die Transformation. Es ist dringend notwendig, Verfahren zu beschleunigen, insbesondere bei transformationsdienlichen Projekten. Vor allem Mehrfachprüfungen und Doppelzuständigkeiten sollten vermieden und die Möglichkeiten digitaler Technologien für effizientere Verfahren genutzt werden.

Zudem braucht es mehr Harmonisierung innerhalb der europäischen Gesetzgebung. Dabei ist es zentral, Beteiligungsmöglichkeiten von Betroffenen nicht einzuschränken und die hohen Sozial- und Umweltstandards zu wahren und weiter auszubauen. Eine wesentliche Voraussetzung für die Beschleunigung ist eine angemessene und verbesserte personelle und technische Ausstattung im öffentlichen Dienst. Denkbar ist zudem, dass tarifgebundene Unternehmen von bestimmten bürokratischen Vorgaben entlastet werden, um ihnen einen besonderen Vorteil bei der Beschleunigung einzuräumen.

5. Fairen Handel stärken

Multilaterale Ansätze zur Ausgestaltung des internationalen Handels sind bilateralen Ansätzen vorzuziehen. Vor dem Hintergrund der Transformationsherausforderungen braucht es eine Reform der Welthandelsorganisation WTO genauso wie ein neues Verständnis von internationalem Handel. Grundsätzlich gilt, dass Wettbewerbsvorteile nicht zu Lasten von Beschäftigten und Umwelt gehen dürfen, sondern auf hoher Qualität beruhen müssen. Internationale Übereinkommen wie die Standards der ILO, die Agenda 2030 der UN, das Pariser Klimaabkommen sowie die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte müssen die Basis für eine Reform der WTO ebenso wie für Entscheidungen im Rahmen von Handelsstreitigkeiten sein.

Klare, durchsetzbare und auf vertraglicher Grundlage sanktionierbare Regelungen im Bereich der Menschenrechte sowie zum Schutz der Beschäftigten und der Umwelt müssen auch bei bilateralen Kooperationsformen umgesetzt werden. Bilaterale Kooperationsformen sind insbesondere dann begrüßenswert, wenn sie demokratisch und transparent verhandelt werden, soziale und ökologische Schutzstandards setzen und damit gegenüber bestehenden Regeln zu einer Verbesserung des Status Quo führen. Diese Bedingungen gelten für alle Formen des internationalen Zusammenarbeitens – seien es Handelsabkommen oder andere Partnerschaften.

6. Gute Arbeit stärken, Qualifizierung ermöglichen, Fachkräfte sichern

Genau wie der IRA muss sich die deutsche und europäische Transformationspolitik konsequent auf den Erhalt und die Entwicklung von guter Arbeit ausrichten. Tarifvertraglich abgesicherte und mitbestimmte Arbeitsplätze leisten einen relevanten Beitrag dafür, breite Bevölkerungsschichten an der wirtschaftlichen Entwicklung zu beteiligen und an der Gestaltung des Wandels teilhaben zu lassen. Neben technologischen Innovationen kann so auch das Innovationspotential von Beschäftigten aktiviert und öffentliche Gelder noch effektiver eingesetzt werden. Deshalb ist eine Konditionierung öffentlicher Mittel an Standortentwicklung, Beschäftigungssicherung und Tarifbindung zwingend notwendig.

Schon heute bremst der nicht gedeckte Arbeits- und Fachkräftebedarf die Transformation. Hier sind Politik und die Arbeitgeber in der Pflicht. Der effektivste Weg gegen diesen Mangel vorzugehen, ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Gerade das Handwerk und die Betriebe im Bereich der Erneuerbaren Energien weisen im Branchenvergleich eine der niedrigsten Tarifbindungen auf. Darüber hinaus können mehr Teilhabe von Frauen, der Blick auf Menschen ohne formale Ausbildung und eine gezielte Arbeitskräfteeinwanderung wichtige Beiträge leisten.

Zudem muss vor dem Hintergrund des Fachkräftebedarfs, aber auch wegen des Strukturwandels der Qualifizierung und Weiterbildung mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Ein stärkeres Engagement der EU zur Förderung von Weiterbildung und Qualifizierung in Form von finanziellen Mitteln und einer Vergleichbarkeit von Bildungsabschlüssen ist deshalb notwendig.

Fazit und Ausblick

Europa steht am Scheideweg. Ohne eine massive – vor allem finanzielle – Kraftanstrengung in den kommenden Jahren werden wir Wohlstand und Zusammenhalt in einer sich wandelnden Welt nicht sichern können. Ein sich verschärfender globaler Wettbewerb in einer komplexen Welt erfordert einen strategischen Ansatz, der weit über die bisherigen Überlegungen der EU-Kommission hinaus geht. Um gesellschaftliche Akzeptanz und Teilhabe sicherzustellen, wird es entscheidend sein herauszuarbeiten, welchen Beitrag einzelne Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen beitragen. Oder um es mit Willy Brandt zu sagen: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“