26.07.2023Beitrag

Selfie ohne Beauty-Filter: Wo Deutschlands Wirtschaft wirklich steht

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Um zu wissen, wer man sein könnte, sollte man wissen, wer man ist – warum Deutschland schleunigst ein ehrliches Bild von sich machen sollte.

Sie streckt den Arm aus, um sich schräg von oben zu fotografieren. Neigt den Kopf leicht. Lächelt entspannt. Schaut souverän in die Linse ihrer Smartphone-Kamera. Dann drückt sie den Auslöse-Button. Wann immer Deutschlands Volkswirtschaft ein Selfie von sich macht, ist sie eine großartige Poserin. Sieht gut aus. Oder?

Von wegen. Wer genau hinsieht, erkennt ein Land, das unter einer bedenklichen Selbstgefälligkeit leidet. Nach der Finanzkrise hat die Bundesrepublik fast ein Jahrzehnt lang einen vermeintlichen Daueraufschwung erlebt und dabei allerhand hübsche Momentaufnahmen von sich gemacht: Bruttoinlandsprodukt. Knips. Öffentliche Finanzen. Knips. Arbeitslosenquote. Erwerbstätige. Exporte. Knips. Knips. Knips.

Ein großartiger Boom war das ohnehin nicht. Nachdem die Finanzkrise überwunden war, hat die deutsche Volkswirtschaft bis zum Beginn der Corona-Pandemie pro Kopf nur um durchschnittlich 1,1 Prozent zugelegt, die Produktivität um 0,8 Prozent. Aber das war egal. Andere europäische Länder kämpften noch heftig mit den Auswirkungen der globalen Finanzkrise und der Eurokrise. Das ließ uns überzogen gut aussehen. Deutschland fühlte sich zufrieden. Selbstzufrieden.

Dann kam alles anders und unser Selbstbild ist erst recht durcheinandergeraten.

Das Problem sind nicht die geschliffenen Selfies der vergangenen Jahre. Sondern, dass wir immer noch denken: Sieht doch gut aus. Auffällig wird das, wenn sich Deutschland erzählt, es sei wirtschaftlich gut durch die Energiekrise gekommen. Schließlich sei man trotz der starken Preisanstiege von Gas und Strom und der weggefallenen Gaslieferungen via Pipeline aus Russland nicht einmal in eine Rezession gerutscht. Erfreut wird dann von »Resilienz« gesprochen; davon, wie »anpassungs- und widerstandsfähig« die deutsche Wirtschaft doch sei. Selbst mit dem jüngsten Wissen, dass wir rechnerisch in eine Rezession gerutscht sind, behaupten viele dies noch. Ende 2023 werden wir wohl auf vier Jahre komplett ohne Wachstum zurückblicken müssen.

Die Fakten zeigen in Sachen Energiekrise schon lange ein anderes Bild. In Wirklichkeit zog und zieht die deutsche Konjunktur die europäische herunter. Fast überall um uns herum lagen die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2022 höher. So legte das BIP im übrigen Euroraum um 4,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu, für Deutschland werden dagegen nur 1,8 Prozent gemeldet. Nichts gegen wohldosierten Zweckoptimismus – aber: Seit wann sind wir mit unserer Wirtschaftsentwicklung zufrieden, nur weil es hätte noch schlimmer kommen können? Und das aus einer Lage heraus, in der wir uns Anfang 2022 noch im Post-Corona-Aufschwung wähnten und die Prognosen mit bis zu 4 Prozent Wachstum ins Kraut schossen?

Nein, es geht hier nicht um Schwarzmalen. Es geht um das unrealistische Selbstbild, das Deutschland hat und um die dazugehörigen Irrtümer, die uns den Weg in eine bessere Zukunft verbauen. Der Veränderungsdruck ist hoch. Der vernebelte Blick macht das Wichtigste unmöglich: Verbesserung. Kurz- und langfristig.

Tatsächlich geht es Deutschland sogar schlechter als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zeigt. Denn als Indikator berücksichtigt es nicht, dass ein Teil der erwirtschafteten Einkommen ins Ausland fließt, um die stark gestiegenen Rechnungen für importierte Energie zu begleichen. Wer sehen will, wie etwa die höheren Preise für Erdgas und Erdöl dafür sorgen, dass wir uns von unseren Einkommen weniger leisten können, muss einen Blick darauf werfen, was wir uns für unsere Produktion wirklich leisten können (für Feinschmecker: den sogenannten Realwert des BIP). Dieser ging um 0,2 Prozent zurück. Von wegen nicht einmal eine Rezession. Die Differenz von 2 Prozentpunkten zum preisbereinigten BIP zeigt so nüchtern wie ernüchternd was wir wegen der hohen Importpreise an das Ausland transferiert haben Das entspricht fast 80 Mrd. Euro.

Fazit: Die Energiekrise hat die Konjunktur in Deutschland stark belastet. Wir sind alles andere als wirtschaftlich unbeschadet durch die Krise gekommen. Das zeigen auch die mauen Aussichten für 2023. Und das, obwohl der Winter eher mild war. Bei einem bitterkalten Winter und ohne »Doppelwumms« sähe das Wirtschaftswachstum noch kläglicher aus.

Im Rückblick wäre es daher fatal gewesen, hätte sich Bundeskanzler Olaf Scholz nach der beschwichtigenden Studie einer Gruppe von Ökonomen gerichtet, die sich bereits kurz nach Kriegsbeginn als Erste mit einem Szenario hervorgewagt hatten, als sich Europa noch im Schockzustand befand. Dieser Studie zufolge hätte Deutschland einen sofortigen Stopp von Energieimporten aus Russland locker verkraftet. »Das sehen die falsch«, kanzelte Olaf Scholz die Modellrechnung bei einem Auftritt in einer Talkshow ab. Die Effekte eines Embargos mit mathematischen Modellen zu kalkulieren sei »unverantwortlich«. Viel Kritik musste er dafür einstecken; wurde als unbelehrbar, besserwisserisch und sogar wissenschaftsfeindlich bezeichnet.

Dabei zeigte der anschließende Streit in der deutschen Wirtschaftswissenschaft, dass wir Volkswirtinnen und Volkswirte es sind, die sich mehr in Bescheidenheit üben sollten. Wenn Demut die Einsicht bedeutet, Teil eines größeren Ganzen zu sein, und seinen Platz in der Welt zu kennen, würde etwas mehr davon unserer Zunft nicht schaden. Demut schützt auch vor voreiliger intellektueller Genugtuung.

Wer glaubt, mit Szenarien könne man die ganze spätere Wirklichkeit simulieren, irrt ohnehin. Ein Szenario ist immer nur ein möglicher Pfad. Im Falle des Jahres 2022 lagen verschiedene Studien, bei Wohlstandseinbußen zwischen fast null und gut sechs Prozent für das Gesamtjahr. Am Ende waren es 4 Prozent. Und das, obwohl in keinem der Szenarien die Annahmen eins zu eins eingetreten sind. Der Bundeskanzler tut gut daran, sich nicht auf einzelne Studien zu verlassen, denn das wäre in der Tat politisch unverantwortlich.

Wissenschaft kann nichts anderes als beobachten, Daten sammeln, Zusammenhänge herstellen, daraus Schlüsse ziehen und diesen Sachverstand der Politik anbieten. Die Politik wiederum kann sich daran orientieren – muss es aber nicht. Sie trägt die Verantwortung. Sie muss handeln, und das heißt auch zu entscheiden, was nicht zu tun ist. So gesehen ist es für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Privileg, einen Beitrag zu guten politischen Entscheidungen zu leisten. Anspruch darauf, dass die Politik diese Vorschläge umsetzt, hat sie allerdings nicht.

Deutschland hat das Potenzial, wieder so zu werden, wie wir uns auf den Selfies gerne sehen. Wenn wir dieses Ziel haben, dann sollten wir schleunigst ein Selbstporträt machen – ehrlich, ernsthaft, ungefiltert. Ein realistischer Blick auf sich selbst war noch nie die schlechteste Voraussetzung für Veränderung und Tatkraft– und damit genau das, was wir für die Zukunft brauchen.

Eine gekürzte Fassung dieses Textes ist zuerst in der WirtschaftsWoche vom 7. Juli 2023 erschienen.

Der Autor: Michael Böhmer ist Chefvolkswirt des Basler Wirtschaftsforschungsunternehmens Prognos. Der Ökonom lebt in München.