Darf Deutschlands Bruttoinlandsprodukt in den nächsten Jahren noch wachsen, wenn das Land 2045 klimaneutral sein soll, oder muss die Wirtschaft schrumpfen? Diese Frage wird in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert. Entscheidend für die Frage, ob Wirtschaftswachstum und Klimaneutralität zusammenpassen, ist die Emissionsintensität der Volkswirtschaft – und damit die Frage, in welchem Ausmaß es gelingt, die Höhe der Treibhausgasemissionen vom Ausmaß der wirtschaftlichen Aktivitäten zu entkoppeln.
Ausgangpunkt der nachfolgenden Überlegungen ist die Höhe des jährlichen Emissionsvolumens Deutschlands in Millionen Tonnen Kohlendioxid-Äquivalenten (Mio. t CO2-Äq.). Wird dieser Ausdruck erweitert um das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Milliarden Euro, gilt folgender Zusammenhang: Das jährliche Emissionsvolumen ergibt sich aus der Multiplikation des realen BIP mit der Emissionsintensität. Letztere gibt an, wie viele Tonnen CO2-Äquivalente durchschnittlich mit der Produktion einer BIP-Einheit, also z. B. einem BIP in Höhe von einer Milliarde Euro, anfallen.
Daraus leiten sich definitorische Zusammenhänge ab: Wenn das reale BIP des Jahres 2023 3 % größer ist als im Jahr 2022, steigt das Emissionsvolumen bei konstanter Emissionsintensität 2023 um 3 %. Reduziert sich jedoch gleichzeitig die Emissionsintensität um 5 %, sinkt das Emissionsvolumen gegenüber 2022 um 2 %. Eine Situation, in der das reale BIP wächst und die jährlichen Emissionen sinken, wird als grünes Wachstum bezeichnet.
Der Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands zwischen 1991 und 2022 zeigt, dass in dieser Phase grünes Wachstum stattfand: Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen BIP lag bei 1,25 %, das Emissionsvolumen nahm um 1,58% pro Jahr ab. Das Emissionsvolumen ging trotz eines steigenden realen BIP zurück, weil der Rückgang der Emissionsintensität mit durchschnittlich 2,84 % pro Jahr vom Betrag her größer ausfiel als der prozentuale BIP-Anstieg.
Grünes Wachstum ist also seit über 30 Jahren Realität in Deutschland. Allerdings reicht das bisherige Tempo der Entkopplung keinesfalls aus, um bis 2045 das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen.
Klimaneutralität bedeutet nicht, dass Deutschland im Jahr 2045 gar keine Treibhausgasemissionen mehr verursachen darf. Gefordert ist, dass die Nettoemissionen den Wert null erreichen. Restemissionen sind zulässig, sie müssen jedoch gespeichert werden – entweder auf natürlichem Wege (z. B. durch die Bindung von Kohlenstoff in Bäumen und anderen Pflanzen) oder durch eine künstliche Speicherung (z. B. durch „Carbon Capture and Storage“-Verfahren).
Über die Höhe der zulässigen deutschen Restemissionen im Jahr 2045 herrscht keine Einigung. Es gibt verschiedene Szenarien und Zielvorstellungen, die zwischen 40 und 75 Mio. t CO2-Äq. pro Jahr liegen. Wird als Zielwert eine Höhe von 65 Mio. t CO2-Äq. angenommen, so ergeben sich folgende Zusammenhänge: Im Jahr 2022 lagen die territorialen Treibhausgasemissionen Deutschlands bei 745,6 Mio. t CO2-Äq. Wenn ausgehend von diesem Wert ein Restemissionsvolumen von 65 Mio. t CO2-Äq. im Jahr 2045 angestrebt wird und zudem angenommen wird, dass die durchschnittliche jährliche Veränderungsrate des Emissionsvolumens zur Erreichung dieses Zielwertes einen konstanten Wert hat, dann müssen die territorialen Treibhausgasemissionen Deutschlands zwischen 2023 und 2045 jedes Jahr um durchschnittlich 10,06% sinken.
Diese Veränderungsrate des Emissionsvolumens ist mit einer Reihe von Kombinationen der Veränderungsraten von BIP und Emissionsintensität kompatibel. Dazu nur zwei Beispiele:
- Soll das reale BIP auch in den kommenden Jahren um 1,25 % pro Jahr wachsen, müsste die Emissionsintensität jedes Jahr um durchschnittlich 11,3 % sinken. Das wäre eine Vervierfachung der durchschnittlichen Reduktion der letzten drei Jahrzehnte.
- Falls die Emissionsintensität bis 2045 weiterhin mit der Rate der vergangenen drei Jahrzehnte schrumpft, erreicht Deutschland das Ziel der Klimaneutralität im Jahr 2045 nur, wenn das reale BIP ab sofort jedes Jahr um durchschnittlich 7,23 % schrumpft. Das reale BIP, das 2022 einen Wert von knapp 3.265 Milliarden Euro hatte, würde dann 2045 bei nur noch 581 Milliarden Euro liegen – mit entsprechenden Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.
Vor dem Hintergrund dieser beispielhaften Berechnungen dürfte klar sein, dass eine Degrowth-Strategie, die zur Erreichung der Klimaneutralität auf eine Reduktion der Wirtschaftsgröße setzt und die erforderlichen Emissionseinsparungen über eine bewusste Verringerung des realen BIP erzielen will, zu erheblichen Einkommenseinbußen führen würde. In Kombination mit den damit verbundenen Arbeitsmarkteffekten sind soziale Spannungen vorprogrammiert, die die politische Polarisierung zunehmen lassen dürften.
Wirtschaftspolitische Priorität sollten daher Maßnahmen haben, die die Entkopplung der Treibhausgasemissionen von der wirtschaftlichen Aktivität vorantreiben. Das betrifft neben technologischen Innovationen auch neue Produktions- und Konsumkonzepte.
Bei den technologischen Innovationen ist vor allem an die Steigerung der Ressourcen- und Energieeffizienz zu denken. Wenn eine bestimmte Gütermenge mit einem geringeren Einsatz natürlicher Rohstoffe hergestellt werden kann, sinkt der Ausstoß von Treibhausgasen. Das lässt sich z. B. durch eine Intensivierung der Digitalisierung erreichen. Digitale Technologien optimieren Produktionsprozesse und sparen so Energie ein – und damit Treibhausgasemissionen.
Eine andere technologische Stellschraube besteht im Ausbau der erneuerbaren Energien und ihrem Einsatz in möglichst vielen Wirtschaftssektoren.
Ein weiteres Instrument zur Entkopplung ist die Circular Economy. Konkrete Elemente sind beispielsweise die technische Verlängerung der Lebenszeit von Gebrauchsgegenständen und ein Recycling von Rohstoffen. Beides reduziert den emissionsverursachenden Verbrauch von Rohstoffen.
Ein klimafreundliches Konsumkonzept ist die Sharing Economy, also der gemeinsame Gebrauch von langlebigen Konsumgütern. Wenn sich mehrere Personen, die aktuell alle ein eigenes Auto besitzen, im Rahmen des Carsharings einen Pkw teilen, reduziert das den Ressourcenverbrauch in der Automobilbranche. Eine intensivere Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs hat den gleichen Effekt.
Viele Ansatzpunkte zur Reduktion der Emissionsintensität könnten bereits jetzt in einem spürbar größeren Umfang genutzt werden. Dies findet jedoch häufig nicht statt, weil emissionsverursachende Alternativen gegenwärtig oftmals günstiger sind als klimafreundliche Technologien, Produkte und Verhaltensweisen. Notwendig sind daher mehr Anreize für eine stärkere Entkopplung.
An erster Stelle stehen dabei preisliche Anreize, insbesondere ein höherer Preis für Treibhausgasemissionen. Seine Höhe richtet sich nach den gesamtgesellschaftlichen Zusatzkosten, die mit den Emissionen verbunden, aber nicht in den Marktpreisen enthalten sind. Dadurch werden emissionsintensive Technologien und Produkte teurer, was die Attraktivität klimaneutraler Technologien und Produkte erhöht und so die Emissionsintensität reduziert.
Eine weitere Form preislicher Anreize zur Entkopplung bildet die Abschaffung von umwelt- und klimaschädlichen Subventionen. Subventionen sind dabei alle finanziellen Begünstigungen, die der Staat Unternehmen und privaten Haushalten gewährt, ohne dass er dafür eine entsprechende Gegenleistung erhält, also neben direkten Geldzahlungen auch Steuervergünstigungen. Als umweltschädlich gelten sie, wenn sie sich negativ auf das Klima, die Qualität von Boden, Luft und Wasser sowie auf die Artenvielfalt auswirken.
Zudem bietet sich die Zahlung von Subventionen für umwelt- und klimaförderliche wirtschaftliche Aktivitäten an. Derartige Subventionen sind gerechtfertigt, wenn eine wirtschaftliche Aktivität einen positiven externen Effekt hat. Wenn die Verlängerung der Nutzungsdauer eines elektronischen Gerätes durch eine Intensivierung von Pflege-, Wartungs- und Reparaturarbeiten dazu führt, dass weniger natürliche Rohstoffe verbraucht und weniger Treibhausgasemissionen verursacht werden, zieht die gesamte Volkswirtschaft einen Nutzen aus dem ressourcenschonenden Verhalten einzelner Wirtschaftsakteure.
Neben preislichen Instrumenten bieten sich ordnungspolitische Eingriffe an, um die Entkopplung der Treibhausgasemissionen von der wirtschaftlichen Aktivität zu forcieren. Zur Förderung der zirkulären Ökonomie könnte der Staat beispielsweise Vorgaben zum Mindesteinsatz von Sekundärrohstoffen in der Produktion machen.
Klar ist, dass der Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zur Erreichung eines grünen Wachstums, das in Deutschland bis 2045 zur Klimaneutralität führt, eine enorme Herausforderung darstellt. Erforderlich sind neben den genannten monetären und ordnungsrechtlichen Anreizen zahlreiche weitere wirtschaftspolitische Maßnahmen. Zu ihnen gehört u. a. eine bildungs- und arbeitsmarktpolitische Unterstützung, damit die Beschäftigten den sich ändernden Arbeitsmarktanforderungen gerecht werden können und eine Mismatch-Arbeitslosigkeit verhindert werden kann. Der Aufbau einer klimaneutralen Infrastruktur verlangt entsprechende private und öffentliche Investitionen. Die Entwicklung klimafreundlicher Produkte benötigt die Förderung von Forschung und Entwicklung sowie die anschließende flächendeckende Nutzung dieser Technologien. Zur Vermeidung sozialer Härten in der Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaftsstruktur ist eine sozialpolitische Flankierung notwendig. Schließlich ist auch eine außenwirtschaftliche Flankierung erforderlich, um zu verhindern, dass die Herstellung klimaschädlicher Produkte von Deutschland in Länder mit einer weniger strikten Klimaschutzpolitik verlagert wird und dort zu steigenden Treibhausgasemissionen führt.
Sollten alle diese Anstrengungen nicht zu der erforderlichen Verringerung der Emissionsintensität führen, kann Deutschland nur klimaneutral werden, wenn das reale BIP sinkt. Faktisch würde diese Schrumpfung mithilfe der Obergrenze der Emissionsberechtigungen im Emissionshandel erreicht werden, wobei der Emissionshandel dann auf alle emissionsverursachenden Aktivitäten ausgeweitet werden müsste. Bei einem Emissionsvolumen von maximal 65 Mio. t CO2-Äq. und einer Emissionsintensität von beispielsweise 0,025 Mio. t CO2-Äq. pro einer Milliarde Euro BIP könnte Deutschland 2045 nur ein reales BIP in Höhe 2.600 Milliarden Euro erwirtschaften – statt der rund 3.265 Milliarden Euro (in Preisen des Jahres 2015) im Jahr 2022.
Diese Reduktion muss nicht zwingend negativ für die Wohlfahrt der Menschen sein. Wenn sich beispielsweise die Lebensdauer von Waschmaschinen verdoppelt, halbieren sich langfristig die Nachfrage und Produktion nach diesem Konsumprodukt. Damit sinkt das reale BIP – aber für die Lebensbedingungen der Menschen ist das keine Verschlechterung.
Dennoch würde eine flächendeckende Reduzierung wirtschaftlicher Aktivitäten eine Reihe von gesellschaftlichen Problemen nach sich ziehen. Zu nennen sind vor allem die steigende Arbeitslosigkeit und wachsende Verteilungskonflikte. Daher sollte die Wirtschaftspolitik alles daransetzen, die Emissionsintensität so schnell und stark wie möglich zu senken, um eine ansonsten erforderliche BIP-Reduktion zu vermeiden.
Dr. Thieß Petersen
Hinweis: Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version des Beitrags „Wachstum oder Schrumpfung? Eine Frage der Entkopplung“, der in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“ erschienen ist.