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»Es herrscht große Unruhe unter dem Himmel, die Lage ist ausgezeichnet«. Dieses geflügelte Wort Mao Zedongs stammt vom Ende der 60er Jahre, als im Westen die Studentenrevolte und im Süden der »antiimperialistische Befreiungskampf« in vollem Gang waren. Es war eine Zeit der stürmischen Veränderung des politischen Status quo. Unruhe herrscht auch heute, wenn auch aus anderen Gründen. Dass die Lage ausgezeichnet wäre, würde allerdings kaum jemand behaupten. Der Zukunftsoptimismus von einst ist einer großen Verunsicherung gewichen. Das gilt zumindest für das »alte Europa«. Klimakrise und demographischer Wandel stellen das bisherige Wachstumsmodell infrage, auf den öffentlichen Haushalten lastet eine historisch hohe Verschuldung. Bei der digitalen Revolution hinkt Europa hinterher.

Überall auf dem Kontinent mischen populistische Protestbewegungen und Parteien die politische Landschaft auf, das Vertrauen in die demokratischen Institutionen bröckelt. Selbst eine vermeintliche Bastion der Demokratie wie Frankreich bewegt sich am Rand einer Systemkrise. Die Symptome sind bekannt: Zur wachsenden Kluft zwischen prosperierenden Metropolen und ländlichen Regionen, Globalisierungsgewinnern und -verlieren kommen kulturelle Konflikte um Einwanderung und Geschlechterpolitik und eine wachsende Entfremdung zwischen politisch-ökonomischen Eliten und Gesellschaft.

Zu alledem hat der brutale russische Angriff auf die Ukraine die postsowjetische europäische Ordnung zertrümmert. Deutschland wurde genötigt, aus seinem sicherheitspolitischen Tiefschlaf aufzuwachen und seine energiewirtschaftliche Abhängigkeit von Russland binnen eines Jahres abzuschütteln. Was bleibt sind hohe Energiepreise, die an der Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Industrien nagen. In Kombination mit international hohen Unternehmenssteuern, einem Dickicht von kostentreibenden Auflagen, langgezogenen Genehmigungsverfahren, einer unterfinanzierten öffentlichen Infrastruktur und einer wachsenden Fachkräftelücke ergeben sie ein gefährliches Gebräu. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, der Industriestandort Deutschland sei unkaputtbar.

Politisch scheint Deutschland noch eine Insel der Stabilität. Aber das kann rasch kippen, wenn sich in größeren Teilen der Bevölkerung der Eindruck verfestigt, dass die demokratischen Parteien, Parlamente und die Regierungen den multiplen Krisen nicht Herr werden, sondern sie allenfalls verwalten. In Zeiten wachsender Zukunftsängste und tiefgreifender Veränderungen kommt es entscheidend auf die Handlungsfähigkeit demokratischer Politik an. Demokratische Legitimation entsteht nicht nur durch Wahlen, sondern durch das Vertrauen, dass die repräsentative Demokratie mit den Herausforderungen fertig wird, die auf die Gesellschaft zurollen.

Die letzten Jahre haben das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit demokratischer Politik nicht unbedingt gestärkt. Die große Fluchtbewegung von 2015 wurde erstaunlich gut bewältigt, aber die überfällige Modernisierung unserer Einwanderungs- und Integrationspolitik blieb aus. Europa hat nicht zu einer gemeinsamen Migrationspolitik gefunden. Das Problem der Armutsmigration bleibt ungelöst, die Integration von Migranten in das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt ist stark verbesserungsbedürftig. Die Folgeprobleme des demographischen Wandels sind lange bekannt, von den wachsenden Ansprüchen an das Renten- und Gesundheitssystem bis zur Notwendigkeit einer Bildungs- und Innovationsoffensive, um dem sinkenden Erwerbspotential mit steigender Produktivität zu begegnen. Dennoch hat die Politik versäumt, sie vorausschauend anzugehen. Die Rentenreformen der verblichenen Großen Koalition haben sie sogar noch verschärft. Auch die Unterfinanzierung der öffentlichen Infrastruktur, der Bundeswehr, der Hochschulen und der Pflege schürt die Zweifel an der Fähigkeit demokratischer Politik, die notwendigen Prioritäten zu setzen und über den Tag hinaus zu handeln.

Klimawandel: Lackmustest für Zukunftsfähigkeit der Demokratie

Das gilt erst recht für den Klimawandel. Er ist der Prüfstein schlechthin für die Fähigkeit der Demokratie, zukunftsorientiert zu handeln. Und er hat das Zeug die Gesellschaft zu spalten wie kaum eine andere Frage. Die Anzeichen sind bereits sichtbar, und sie werden umso stärker, je mehr die Auseinandersetzung um die Klimapolitik als Kulturkampf geführt wird – Autogegner gegen Autofahrer, Vegetarier gegen Fleischesser, Ferienflieger gegen Flugasketen, Verzichtsprediger gegen Wohlstandsverteidiger. Die moralische Überhitzung der Klimafrage und ihre Zuspitzung auf eine Lebensstilfrage blockieren am Ende die nötigen Veränderungen eher als sie zu beschleunigen. Die Ampel-Koalition steckt in der Klemme zwischen ambitionierten Klimazielen, einem schleppenden Ausbau erneuerbarer Energien und einer veränderungsresistenten Verkehrspolitik. In einer Situation hoher Energiepreise und wachsendem Strombedarf die letzten Atomkraftwerke vom Netz zu nehmen, hat das Vertrauen in die Rationalität unserer Energiepolitik nicht gestärkt.

Es bleibt der Eindruck einer erratischen Politik ohne klaren ordnungspolitischen Kompass. Die Flucht in Klein-Klein-Regulierung und immer engmaschigere staatliche Vorgaben kann eine langfristig angelegte Strategie nicht ersetzen. Planvorgaben mit jährlichen, sektorspezifischen CO2-Reduktionszielen sind bloße Klimamechanik, die der Komplexität einer global verflochtenen Industriegesellschaft nicht gerecht wird. Stattdessen kommt es darauf an, eine selbsttragende Dynamik ökologischer Innovationen und Investitionen zu erzeugen. Sie muss vorrangig vom privaten Sektor getragen werden, der über das nötige Kapital und Know-how verfügt.

Die ökologische Transformation braucht einen aktiven, regulativen und investiven Staat. Aber wir sollten uns vor der Illusion hüten, der Umbau in eine klimaneutrale Ökonomie und Gesellschaft könnte bis ins Detail geplant und staatlich finanziert werden. Politik muss dafür sorgen, dass »die Preise die ökologische Wahrheit sagen« (eine alte Maxime der Umweltbewegung). Sie muss die ökologische Modernisierung der Infrastruktur vorantreiben, in Forschung und Entwicklung investieren, ökologische Pilotprojekte anschieben und die Markteinführung innovativer Technologien fördern. Aber die Neuauflage verstaubter Konzepte einer gelenkten Ökonomie führt heute ebenso in die Sackgasse wie eh und je.

Die ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft wird nur gelingen, wenn sie auch eine ökonomische und soziale Erfolgsgeschichte wird. Wer unter Berufung auf die drohende Unbewohnbarkeit unseres Planeten ein absolutes Primat für Klimaschutz fordert, zerstört seine gesellschaftliche Akzeptanz. Auch die Klimapolitik entkommt nicht dem Nachhaltigkeits-Dreieck aus ökologischen Zielen, wirtschaftlichem Erfolg und sozialer Teilhabe. Das gilt erst recht mit Blick auf die aufstrebenden »neuen Ökonomien« Asiens, Lateinamerikas und Afrikas, in denen die große Mehrheit der Weltbevölkerung lebt. Für sie sind Wirtschaftswachstum und steigender Lebensstandard nicht verhandelbar. Es bleibt deshalb nur die Flucht nach vorn zu einer Entkopplung von Wohlstand und Naturverbrauch. Sie ist der Kern der anstehenden grünen industriellen Revolution. Wenn wir gut sind, zeigen wir, wie es geht und sichern damit zugleich den Wohlstand und die Grundlagen des Sozialstaats in Deutschland. Das wäre auch der beste Nachweis für die Zukunftsfähigkeit der liberalen Demokratie.

Ralf Fücks

 

Der Text ist ein Auszug aus dem neuen Sammelband des Wirtschaftsforums der SPD e.V. „Futurenomics – Zukunft des Geschäftsmodells und des Standorts Deutschland und Europa“, der Anfang Juli erschienen ist.

Mit dem Buch präsentieren wir in unserer wirtschaftspolitischen Schriftenreihe nach den Bänden »Postcoronomics – Neue Ideen für Markt, Staat und Unternehmen« und »Transfornomics – Zur ökonomischen Zeitenwende« jetzt Debattenbeiträge, die der Frage nachgehen, welche wirtschafts-, energie- und industriepolitischen Antworten es in den nächsten Jahren braucht, um die digitale und nachhaltige Transformation voranzubringen, Wohlstand und Wertschöpfung zu wahren und zukunftsfähig zu machen und den sozialen Zusammenhalt zu sichern.

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