Die Lehren aus der Krise ziehen – (Energie-)Infrastruktur wichtiger denn je

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Der schreckliche Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat großes Leid auf unseren Kontinent gebracht, energiepolitisch ist er eine massive Herausforderung. Trotzdem sind Europa und gerade auch Deutschland besser als befürchtet durch den Winter gekommen. Wir haben erfolgreiches Krisenmanagement geleistet, etwa indem große Mengen Flüssiggas nach Europa umgeleitet wurden. Fürs erste zumindest konnten wir damit den Ausfall russischer Gaslieferungen auffangen. Zugleich wurde der befürchtete Energiepreisschock für Bevölkerung und Wirtschaft in Grenzen gehalten. Maßgeblich beigetragen haben dazu politische Interventionen wie die Strom- und Gaspreisbremse und ein erfolgreiches Krisenmanagement in großen Teilen der Energiewirtschaft. Hier haben sich vorausschauende Strategien mit einem über mehrere Jahre gestreckten Energieeinkauf bewährt und Kostensteigerungen für die Kunden gedämpft. Aber die Krise ist längst nicht vorüber.

Jetzt ist es Zeit, Vorsorge zu leisten

Wir dürfen uns nicht in falscher Sicherheit wiegen. Und weder Glück mit dem Wetter noch ad hoc Management in der Krise sind Konzepte, auf die wir uns als starke Wirtschaftsnation in der Mitte Europas langfristig verlassen sollten. Wir brauchen noch schneller noch mehr nachhaltige, sichere und bezahlbare Energie. Die Bundesregierung hat deshalb gleich nach dem Beginn des Ukrainekriegs im vergangenen Jahr mit ihrem Osterpaket reagiert und ihre Ziele für den Ausbau der Erneuerbaren noch einmal deutlich nach oben geschraubt. Und der Markt tut genau das, was der Markt tun soll. Der Wert von sicherer, bezahlbarer und nachhaltiger Energieversorgung ist in den Augen von Haushalts- und Gewerbekunden in den vergangenen Monaten deutlich gestiegen. Wir sehen aktuell einen deutlichen Hochlauf von Kundenanfragen für Solaranlagen, Wärmepumpen, Elektromobilität und Wasserstofflösungen.

Energiekrise verstärkt den Bedarf einer modernen Energieinfrastruktur

Das ist eindeutig die positive Nachricht: Die Krise wirkt beschleunigend auf die Energiewende in Deutschland und den Hochlauf regenerativer Energie. Sie wirkt aber auch beschleunigend auf den Bedarf einer modernen Energieinfrastruktur. Die Zahl der Netzanschlussbegehren explodiert derzeit. Zugleich wird das Energiesystem immer dezentraler und komplexer. Entscheidend für dessen Effizienz ist die Steuerung. Hier haben wir mit der Digitalisierung einen mächtigen Hebel, den wir aber eben auch nutzen müssen.

Beim Thema Energieinfrastruktur kann man nun diskutieren, ob das Glas halb leer oder halb voll ist. Ich würde lieber den Blick nach vorn richten und fragen: Was müssen wir tun, um das Glas voll zu kriegen?

Fakt ist, schon vor der Krise war klar, dass dieses Jahrzehnt ein Jahrzehnt der Transformation sein muss – eines Ausbaus und vor allem einer Modernisierung insbesondere unserer Stromverteilnetze mit besonderem Schwerpunkt auf Digitalisierung. Die zweite DENA-Leitstudie Ende 2021 rechnete mit einem Investitionsbedarf von rund 80 Milliarden Euro bis 2030 und rund 200 Milliarden Euro bis 2045 in die deutschen Stromverteilnetze, um unsere Klimaziele zu erreichen. Schon vor der Krise ging es dabei auch darum, am langen Ende eine volkswirtschaftliche Kostenexplosion zu vermeiden. Denn wenn die Netze das Nadelöhr sind, wird der erzeugte Strom nicht effizient im Land verteilt, und wir müssen zusätzlich dafür zahlen, Anlagen verstärkt abzuregeln, um die Systemstabilität zu wahren. Den noch ambitionierteren Zielen des Osterpakets folgend steigt nun aber auch der Investitionsbedarf in die Netze. Zugleich befinden wir uns nach der Wende von FED, EZB und vielen Zentralbanken weltweit urplötzlich in einem massiv veränderten Zinsumfeld. Das sichere Investment in harte und regulierte Assets, wie das deutsche Stromnetz, muss sich gegenüber anderen sicheren Häfen wie etwa festverzinslichen Anleihen durchsetzen.

Attraktive Investitionsbedingungen sind entscheidend für den Netzausbau

Für den Netzausbau zapfen wir internationale Finanztöpfe an. Das ist bei dem gigantischen Investitionsbedarf ein enormer Vorteil gegenüber aus dem öffentlichen Haushalt finanzierten Infrastrukturinvestitionen. Doch wenn der Kapitalfluss stockt, haben wir ganz ähnliche Probleme. Denn Energie steht am Anfang der wirtschaftlichen Wertschöpfung und ist entscheidend für die Perspektiven dieses Landes.

Noch etwas ist an dieser Stelle wichtig: Wie bei der Bildung treten die positiven Effekte beim Infrastrukturausbau meist mit Verzögerung in Kraft. Und das gilt eben nicht nur für den Bau von Windparks. Es gilt auch für Investitionen in die Wasserstoffwertschöpfungskette oder Ladeinfrastruktur für Elektromobilität und insbesondere auch für den Stromnetzausbau. Von der Planung über die Investitionsentscheidung, über den Bau bis hin zur Fertigstellung rechnen wir hier in Jahren, nicht in Monaten. Es ist wichtig, dass wir das in Deutschland – gerade auch in der Politik – verstehen und in Zyklen denken. Wir müssen heute investieren oder werden es später bereuen. Denn was heute nicht gebaut wird, kommt uns in einigen Jahren teuer zu stehen.

Wir erleben ähnliches weltweit bereits bei kritischen Rohstoffen für die Energiewende, bei Lithium, perspektivisch wohl auch bei Kupfer, sogar beim wenig geliebten Rohöl. Die Entwicklungsperspektive von Regionen weltweit hing lange davon ab, wie schnell und kontinuierlich neue Öl- und Gasquellen erschlossen werden konnten. Heute lautet die Frage, gerade für Deutschland: Wie schnell und kontinuierlich erschließen wir neue und verlässliche Quellen aus Erneuerbaren, aus LNG und Wasserstoff? Und vor allem: Wie schnell sorgen wir dafür, dass die Energie in den Netzen und am Ende auch bei Haushalten und Gewerbe ankommt?

Vorrang für Netzausbau

Also, wie füllen wir das Glas? Wir erreichen es durch konsequentes Umdenken und ebenso konsequentes Handeln. Der Auf- und Ausbau unserer Energieinfrastruktur muss jetzt Priorität haben – für Energiewirtschaft und Netzbetreiber, für Politik und Regulierung, aber auch für Bürger und Rechtsstaat.

Wir erleben vielversprechende Ansätze einer neuen Pragmatik, die sich etwa bei der diskutierten Umsetzung der EU-Notfall-Verordnung in Form einer „strategischen Umweltverträglichkeitsprüfung“ und einer „Standardisierung im Artenschutz“ zeigt. Wir erleben auch vielversprechende Ansätze, das gesteigerte Bewusstsein für die Relevanz von Energieinfrastruktur in Gesetzgebung und Genehmigungspraxis einzubringen. Erneuerbare und Verteilnetze sind mittlerweile als „im überragenden öffentlichen Interesse liegend“ deklariert. Ebenso wird – etwa in der „Wind an Land Strategie“ des BMWK – die zwingende Voraussetzung eines Gleichschritts von Erneuerbaren und Netzausbau unterstrichen und die Notwendigkeit eines vorrausschauenden Netzausbaus hervorgehoben.

Diese Ansätze allerdings reichen noch nicht. Beispielsweise ist es wichtig, Vorrangflächen auch tatsächlich festzulegen, um das Instrument der “strategischen Umweltverträglichkeitsprüfung” nutzen zu können. Und damit keine Unklarheit bleibt: Ein wenig Verbessern der bestehenden Prozesse reicht nicht. Im Ergebnis brauchen wir einen fundamentalen Wandel. Zum Beispiel reden wir auf 110kV Ebene von Genehmigungsdauern von über 10 Jahren. Da ist 2030 schon vorbei! Wir brauchen nicht Erleichterungen von ein paar Prozent, um auf 8-9 Jahre zu kommen. Wir brauchen einen Schnitt, der uns auf 2-3 Jahre bringt!

Elementar ist auch die Verzahnung der Netzausbauplanung mit den Vorgaben für die Netzbetreiber in der Anreizregulierungsverordnung. Digitalisierung im Netzbereich sollte in der Erlösobergrenze für Netzbetreiber regulatorisch angerechnet und damit incentiviert werden. Und vielleicht lässt sich auch ein Beispiel an anderen europäischen Staaten nehmen, deren Regulierung „Klimaschutzzuschläge“ für jene Netzbetreiber vorsieht, die besonders stark in moderne Netze investieren und Erneuerbare integrieren.

Wir müssen die Möglichkeiten der Digitalisierung unserer Energieinfrastruktur jetzt endlich konsequent nutzen. Und dafür bleibt der Smart Meter Rollout eine wesentliche Voraussetzung. Das im April 2023 verabschiedete Gesetz zum Neustart der Digitalisierung der Energiewende und Novelle des Messstellenbetriebsgesetzes (MsbG) ist ein Schritt zur Beschleunigung und Vereinfachung des Rollouts, aber auch noch nicht ausreichend. Politik und Energiewirtschaft müssen nun gemeinsam an weiteren Vereinfachungen und Verbesserungen arbeiten. Auch auf Europäischer Ebene, bei der laufenden Strommarktreform, kann und soll die Gelegenheit genutzt werden, um regulatorische Hindernisse zum Netzausbau und Digitalisierung zu beseitigen.

Zeit des Machens

Das vergangene Jahr kann durchaus Mut machen. Wir haben eine neue Mentalität des Machens erlebt, und zum Teil auch schon das von Bundeskanzler Scholz eingeforderte neue „Deutschland-Tempo“. Genau da müssen wir jetzt weiter machen, auch und gerade dann, wenn uns die Energiekrise etwas Luft zum Atmen lässt.

Wir von E.ON haben die Investition in Energieinfrastruktur bereits 2021 in den Mittelpunkt unserer Strategie gestellt. Nach den Lehren des vergangenen Jahres haben wir unsere Ambitionen noch einmal deutlich nach oben geschraubt. Bis 2027 wollen wir nun europaweit 33 Milliarden Euro in die Energiewende investieren. Wir investieren insbesondere in die Stromverteilnetze in Deutschland, die Ladeinfrastruktur, in kundennahe Dekarbonisierung. Dieses Geld und die energiewirtschaftlichen Investitionen ins regulierte Netzgeschäft insgesamt sind aber abhängig davon, dass der Regulierungsrahmen, insbesondere die Eigenkapitalverzinsung, die attraktiven Investitionsbedingungen schafft, die ich bereits erwähnte.

Bureaucracy Reduction Act für das neue Deutschland Tempo

Zugleich hemmen uns immer noch die altbekannten Probleme: Manchmal jahrzehntelange Genehmigungsverfahren und überbordende Bürokratie – nicht nur beim Erneuerbaren, gerade auch beim Netzausbau. Hier muss sich unser Land endlich neu erfinden. Ansonsten wird „Deutschland Tempo“ kein internationales Qualitätsmerkmal, sondern ein Synonym für “Schneckentempo”. Es ist nicht so, dass wir auf anderen Märkten keine Bürokratie kennen würden. Aber Deutschland ist ganz ohne Zweifel in diesem Feld weit vorne. Geredet wird viel von weniger Bürokratie. Wenn ich aber auf die Realität schaue, werden wir vor allem in Deutschland kontinuierlich mit zusätzlicher Bürokratie überzogen, die uns von unserer eigentlichen Aufgabe abhält. Immer mit guten Absichten aber ohne Verständnis, was das im Einzelnen bedeutet. Das können wir uns nicht mehr leisten!

China expandiert mit seinem Projekt „Neue Seidenstraße“, die USA öffnen mit ihrem „Inflation Reduction Act“ trotz historischer Verschuldung noch einmal die Staatskasse. Und auch Europa muss sich seinen Weg aus der Krise herausinvestieren. Mitte März hat die EU-Kommission einen Net Zero Industry Act vorgeschlagen, als erste Säule des Green Deal Industrial Plan, der EU-Antwort auf den amerikanischen IRA. Während die politische Initiative zu begrüßen ist, bleibt die Wirksamkeit dieses Gesetzesentwurfs im Hinblick auf die Verbesserung der Geschäftsmöglichkeiten und den Abbau von Bürokratie für Net-Zero Technologien noch sehr schwer einzuschätzen.

Gerade das ist aber ein Hebel. Wir müssen unsere Schwäche zur Stärke machen. Wir brauchen einen BRA, einen „bureaucracy reduction act“, und neben guten Investitionsbedingungen auf jeden Fall auch eine nachhaltige Mentalität des Machens.

Dr. Leonhard Birnbaum

 

Der Text ist ein Auszug aus dem neuen Sammelband des Wirtschaftsforums der SPD e.V. „Futurenomics – Zukunft des Geschäftsmodells und des Standorts Deutschland und Europa“, der Anfang Juli erschienen ist.

Mit dem Buch präsentieren wir in unserer wirtschaftspolitischen Schriftenreihe nach den Bänden »Postcoronomics – Neue Ideen für Markt, Staat und Unternehmen« und »Transfornomics – Zur ökonomischen Zeitenwende« jetzt Debattenbeiträge, die der Frage nachgehen, welche wirtschafts-, energie- und industriepolitischen Antworten es in den nächsten Jahren braucht, um die digitale und nachhaltige Transformation voranzubringen, Wohlstand und Wertschöpfung zu wahren und zukunftsfähig zu machen und den sozialen Zusammenhalt zu sichern.

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