Die Dramatik der Energiewende wird unterschätzt

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Manche Krisen kann man sehen, andere kann man direkt messen – etwa in den Netzen von Westenergie: Unsere Großkunden zum Beispiel haben ihren Gasverbrauch zuletzt ebenso gedrosselt wie Betriebe aus der Papier-, Glas- oder Zementindustrie oder mittelständische Unternehmen. Insgesamt sank der Gasverbrauch im ersten Halbjahr um bis zu elf Prozent.

Dabei handelt es sich mitnichten um Sparmaßnahmen aus Effizienzgründen. Vielmehr wird die Produktion gedrosselt – oder es werden direkt ganze Anlagen geschlossen.

Die konjunkturellen Daten sprechen eine eindeutige Sprache: Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands steht derzeit massiv unter Druck. Nur drei Beispiele: Der ifo-Geschäftsklimaindex ist zum dritten Mal in Folge gesunken. Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr um 0,3 Prozent schrumpft – als einzige von 22 untersuchten Nationen. Und die Chemiebranche – traditionell ein Frühindikator für die Konjunktur – rechnet in diesem Jahr mit 14 Prozent weniger Umsatz.

Sicher, Auf und Abs gab es immer wieder. Aber dieses Mal gibt es einen entscheidenden Unterschied: Wir haben in Deutschland die Stromproduktion ohne Zwang verknappt. Der Zubau der Erneuerbaren nimmt zu wenig Fahrt auf, um die grundlastfähige Kapazität, die wir abschalten, zu ersetzen. Erneuerbare Energien hingegen unterliegen naturgemäß starken Schwankungen, weil die Sonne nachts nicht scheint und der Wind nicht überall weht.

Außerdem blieben Investitionen in große Speicher aus, die Städte wie Ludwigshafen oder Regionen wie das Ruhrgebiet wochenlang versorgen könnten. Zum Vergleich: Aus allen Pumpspeicherkraftwerken und Batterien zusammen lassen sich heute Schätzungen zufolge lediglich 36 Minuten Stromverbrauch in Deutschland überbrücken – bei einer Maximallast von etwa 84 Gigawatt.

Hinzu kommt der steigende Stromverbrauch der Bürger. Ein Zwei-Personen-Haushalt bezieht heute durchschnittlich 8,2 Kilowattstunden pro Tag, mit Waschmaschine, Toaster und Streaming. Darauf sind die Stromnetze ausgelegt.

Künftig aber werden die Haushalte immer mehr Strom aus ihrer Fotovoltaikanlage einspeisen, die Batterieladung vom Auto kommt noch obendrauf. Allein im Gebiet der Westenergie-Gruppe wird sich die Zahl der Wärmepumpen bis zum Jahr 2030 verzehnfachen und die der Fotovoltaikanlagen vervierfachen. Dann wird das Netz permanent mit Spitzen belastet oder es zieht plötzlich Strom.

Allein durch die Verarbeitung und Kühlung von Rechenzentren und Cloud-Lösungen steigt der Strombedarf in ganz Deutschland jährlich um neun Prozent. Die Spitzenlast wird in den kommenden Jahren auf 120 Gigawatt klettern. Gleichzeitig reduzieren wir die Leistung zu Spitzenlastzeiten von 99 auf 90 Gigawatt.

Damit droht eine Stromlücke von bis zu 30 Gigawatt, das entspricht 30 thermischen Großkraftwerken. An diesem Strommangel werden wir kurzfristig nichts ändern. Umso wichtiger ist es, dass wir die Netze modernisieren und ausbauen – und zwar schnell. Das Stromnetz war bis vor wenigen Jahren auf den Transport von Strom aus Kohlekraftwerken, Kernenergie und Gaskraftwerken ausgelegt. Künftig soll der Anteil erneuerbarer Energien am Strommix auf 80 Prozent steigen. Um den deutschen Industriestandort zu erhalten, müssen wir den Ausbau erneuerbarer Energien um das Vier- bis Zehnfache beschleunigen. Und diese Energiewende gibt es nicht zum Nulltarif. Nach Angaben der Deutschen Energieagentur kostet es mindestens 80 Milliarden Euro bis 2030 und rund 200 Milliarden Euro bis 2045, um die deutschen Stromnetze fit für die Zukunft zu machen.

Die Energiebranche ist für diese Investitionen bereit, mit Ausnahme des Fahrzeugbaus investiert keine andere Industrie in Deutschland so viel Geld. Aber derzeit zahlt die Branche bei Investitionen drauf – und das muss sich dringend ändern. Es braucht passende Rahmenbedingungen für Investitionen ebenso wie schlankere Planungs- und Genehmigungsverfahren.

Entscheidend ist, dass wir dabei das Verteilnetz mitdenken, denn es sichert die regionale und lokale Versorgung. Für eine echte Energiewende brauchen wir beides: Grüne, dezentrale Erzeugungsanlagen, aber auch eine leistungsfähige, smarte Energieinfrastruktur.

Die deutsche Industrie ist auf sichere, saubere und bezahlbare Energie angewiesen, um auch in Zukunft international wettbewerbsfähig zu sein und Arbeitsplätze zu erhalten – und dazu zählt auch Wasserstoff.

Deshalb müssen Politik und Wirtschaft gemeinsam kraftvoll, mutig und weitsichtig den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft vorantreiben – mit einer klugen, koordinierten Kombination aus heimischer Produktion und Infrastrukturen einerseits und langfristigen Energiepartnerschaften andererseits.

Vor allem aber muss für den Übergang erstmal egal sein, ob dieser Wasserstoff aus regenerativer Energie oder Erdgas gewonnen wird. Jedes Molekül zählt. Auch mit unseren französischen Nachbarn sollten wir uns auf pragmatische Übergangsregeln einigen.

Aktuell wird die Dramatik der Energiewende völlig unterschätzt. Höchste Zeit, dass bei der viel zitierten Deutschland-Geschwindigkeit endlich das Tempolimit fällt.

Katherina Reiche