25.09.2023China

„Wir brauchen gezielte Industriepolitik, um mit China mitzuhalten“

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Jörg Wuttke, ehem. Präsident der Europäischen Handelskammer in China, im Interview mit Matthias Machnig.

Matthias Machnig: Ein herzliches Willkommen an Jörg Wuttke, einer der Chinaexperten aus Deutschland in China, seit 40 Jahren mit China beschäftigt – 30 Jahre in offizieller Funktion unter anderem als Präsident Emeritus der EU-Handelskammer in China.

Wenn Sie auf diese lange Zeit zurückschauen, was waren eigentlich aus Ihrer Sicht die tiefgreifendsten politischen Veränderungen, die in China stattgefunden haben?

Jörg Wuttke: Ich kam das erste Mal 1982 nach China. Da herrschte Aufbruchsstimmung. Deng Xiaoping hatte 1978 beim dritten Plenum das Land geöffnet, hat sich offiziell von Mao Zedong verabschiedet und die Fäden mit Amerika aufgenommen.

Politisch war das Ganze aber nicht unproblematisch. Es gab zwar Parteisekretäre, aber Deng Xiaoping war der Mann, der die Fäden gezogen hat. Der Chairman des Pekinger Bridgeclubs war der Chef von China. Das führte im Grunde immer zu Spannungen. 1987 wurde Parteisekretär Hu Yaobang abgesägt, weil er bei der Reform der Wirtschaft zu schnell zu schnell vorangehen wollte. Hu Yaobang ist berühmt geworden durch den Satz „Wir brauchen ja keine Stäbchen, wir können auch Messer und Gabel benutzen.“

Dann gab es Zhao Ziyang. Er war ursprünglich der Reformer, der sogar vor Deng Xiaoping Agrarreformen in seiner Provinz Sichuan durchgeführt hatte. Er scheiterte grandios im Mai 1989, weil er auch die politische Öffnung vorantreiben wollte. Deng Xiaoping hatte ihm einen Riegel vorgeschoben, dann gab es die Schießerei am 4. Juni und danach gab es eine ganz andere Entwicklung in der Politik. Jiang Zemin wurde inthronisiert, der sehr clever war und China mit kleinen Schritten wieder an die Welt zurückgeführt hat.

Wenn wir über Deng Xiaoping und die Öffnung Chinas reden, reden wir immer nur über ökonomische Öffnung. (Gesellschafts-)politische Reformen hat es nie gegeben und waren offensichtlich auch nie intendiert, oder sehen Sie das anders?

Bei Deng Xiaoping sicher nicht. Er wollte eine kontrollierte Öffnung Chinas. Er wollte, dass die Kommunistische Partei in Ruhe zu sich findet. Die 30 bis 40 Jahre zuvor mit Mao Zedong herrschten Chaos. Das Land war de facto bankrott. Xiaoping wollte wieder Ordnung ins Land bringen. Dazu brauchte er ein stabiles politisches Umfeld, was schwierig durchzuführen war, weil die Erwartungshaltung einiger Teile der Elite aber auch von einigen Polit-Leuten wie Hu Yaobang und Zhao Ziyang war, nicht nur wirtschaftliche Öffnung sondern auch politische Öffnung voranzutreiben – bis hin zu einigen zarten Äußerungen über Demokratie.

Deng Xiaoping war sicherlich kein Liberaler und sicherlich kein Demokrat. Er wollte nur eine eingeschränkte Öffnung des Landes. Er wollte primär die wirtschaftliche Öffnung Chinas. Deswegen hatte er sich mit den beiden Parteisekretären, die er selbst inthronisiert hatte, überworfen.

Wenn man auf die ökonomische Entwicklung in den letzten 40 Jahren schaut, ist es ja mehr als beeindruckend, was dort geschaffen wurde. China ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und auf dem Weg, die größte zu werden. China ist eine Exportnation und eine Tech-Region von hoher Qualität.

Ich würde gerne verstehen, welchen Anteil die Politik der KP und welchen Anteil westliche Investitionen an dieser Entwicklung gespielt haben. Die Öffnung hat ja dazu beigetragen, dass China für ausländische Unternehmen noch interessanter wurde.

Es war ein Privileg, dieser größten ökonomischen Comeback-Story der Weltgeschichte beizuwohnen. Das gehört sicherlich zu Deng Xiaopings großer Leistung, dass er das Land stabilisiert und den Wachstumspfad gesetzt hat. Man darf aber auch nicht vergessen, dass die Entwicklung des Bruttosozialproduktes in Japan, Taiwan, Korea in den ersten 30 Jahren nach der Öffnung identisch war zu der in China.

Jedoch waren es etwa 23 Millionen Taiwanesen, 125 Millionen Japaner und 50 Millionen Koreaner gegen 1,4 Milliarden Menschen, die in China vorangekommen sind. Die Größe ist von einer ganz anderen Bedeutung. Die Geschwindigkeit war mit den drei anderen Volkswirtschaften jedoch absolut identisch. Man hat vergessen, wie schnell diese drei Volkswirtschaften in den 50er, 60er, 70er und 80er Jahren gewachsen sind. Deswegen ist es interessant zu sehen, wie China gerade über die letzten fünf Jahre im Verhältnis zu den anderen drei Volkswirtschaften zeitversetzt nach jeweiliger Marktöffnung leicht zurückgefallen ist.

Hinsichtlich der Rolle ausländischer Investoren bei diesem Aufstieg: Da kann man schlecht das Label „ausländisch“ dranhängen. Am meisten zur Öffnung Chinas beigetragen hat zu Beginn Hong Kong – immerhin eine britische Kolonie. Und die haben natürlich auch gerade in Shenzhen enorm dazu beigetragen, dass das Land verstanden hat, wie wichtig und wie vertrauenswürdig man mit Ausländern zusammenarbeiten kann. Für Peking war Hongkong Ausland, gleichzeitig war es natürlich Teil Chinas.

Wir selbst, als ausländische Investoren, waren natürlich Nischen-Spieler. In Bereichen wie Automobil, Chemie oder Maschinenbau haben wir sicherlich sehr erkennbar investiert. Aber vor allem im Service Sektor ist wenig passiert, bei der Landwirtschaft gar nichts.

Wir müssen da ein bisschen demütig sein. Die Chinesen haben ihre Comeback-Story von alleine hinbekommen. Gleichzeitig haben wir sicherlich bei Technologien mitgeholfen aber auch dadurch, dass wir unsere Grenzen geöffnet haben und chinesische Studenten und chinesische Firmen eingeladen haben, bei uns zu partizipieren.

China hat einfach den großen Vorteil, ein Mega-Land zu sein. Sie brauchen eine Technologie, zum Beispiel Solar oder Windenergie, dann übernimmt das Land diese Technologie und durch die Skaleneffekte kommt es zu einem Effizienzschub. Am Anfang sind wir immer irgendwo als Katalysator mit dabei, aber dann rauscht der Zug ohne uns weiter.

Da kommt wieder die Regierung ins Spiel. Die Regierung war wichtig, um die Infrastruktur bereitzustellen, die dafür gesorgt hat, dass es unglaubliche Cluster gerade in Jiangsu oder Guangdong gibt. Und was sie sich im positiven Sinne natürlich auch zuzuschreiben haben ist Industriepolitik.

Sie haben gezeigt: Wo soll die Reise hingehen? Wo bündeln wir die Ressourcen? Die Partei hat einen einzigartigen Vorteil, Ressourcen zu bündeln, und deswegen sind sie da, wo sie heute sind.

In Deutschland gibt es ja auch wieder eine intensive Debatte über Industriepolitik. Es stoßen zwei Positionen aufeinander: Die der ordnungspolitischen Puristen und die derjenigen die sagen, dass wir gerade in diesen Zeiten der Transformation Industriepolitik, einen Industriestrompreis u.ä. brauchen.

Die Chinesen betreiben eine langfristige Industriepolitik. Das ist gefürchtet und aber auch bewundert. Wie ist das Zusammenspiel in der chinesischen Politik beziehungsweise in der chinesischen Wirtschaft beim Thema Industriepolitik?

Es ist sicherlich leichter mit Industriepolitik in einem Entwicklungsland auf niedrigem Niveau zu punkten als bei einer relativ fortgeschrittenen Volkswirtschaft, wie das die europäischen Volkswirtschaften sind. Nichts desto trotz haben Sie völlig richtig erkannt: Die Chinesen haben klar definiert, wo die Reise hingehen soll – das berühmteste Beispiel in letzter Zeit war Made in China 2025. Die Kommunikation dazu, was in den Bereichen Digitales, Photovoltaik, Windenergie erreicht werden soll und wo die Reise hingeht, ist dann sofort in den Industrien aber auch bei den Universitäten angekommen. Alle wissen, dass in diese Bereiche das Geld fließen wird und dass in diese Bereiche Ausländer entweder nur selektiv als Katalysator reingeholt oder mit Absicht rausgehalten werden, um dafür zu sorgen, dass es chinesische Champions werden und sich die Ausländer keine goldenen Hörner verdienen. Das ist das sicherlich sehr clever. Die Frage ist: wie lange kann man das noch weiter machen?

Wir sind ja auch mit Industriepolitik sehr weit gekommen – Airbus ist ein klares Beispiel für gelungene Industriepolitik und dann natürlich die erste Mondlandung – ein Irrsinnsprojekt, das viele Seitenprojekte hatte: Teflon wurde erfunden, das Internet wurde erfunden usw.

Die Chinesen haben gesehen, dass in einigen Bereichen von hohem Risiko es die Kapitalmärkte und die Firmen nicht alleine stemmen können, sondern sie brauchen eine Regierungsvorgabe mit Geld, die dazu führt, dass man sich in unbekannte Gewässer begibt. Und ich glaube gerade in der jetzigen Entwicklung ist das mehr als gerechtfertigt.

Können wir daraus eigentlich etwas lernen oder ist das ein spezifisch chinesischer Weg? Es gibt viele, die in der Transformation, in der wir uns befinden, ein intelligenteres Zusammenspiel von Unternehmen, Markt und Staat einfordern. Können wir aus dem chinesischen Beispiel etwas lernen für die Transformation in Europa?

Wir können zum Teil davon lernen, vor allem was die Kommunikation angeht, mit einer klaren Ansage, wo die Reise hingehen wird. John F Kennedy hat es nicht anders gemacht. Er hat gesagt: „Wir wollen den ersten Menschen auf den Mond bringen und setzen alles dafür in Bewegung. Das wird wahnsinnig viel Geld kosten, wir wissen nicht, ob wir das schaffen oder ob es den Bach runtergeht und es wird gefährlich sein.“ Für die Nasa war das ein gefährliches Unternehmen. Natürlich ist die Entwicklung von Solarpanels nicht mit der Mondlandung zu vergleichen. Aber ich glaube es ist wichtig, einen Sputnik-Moment wahrzunehmen.

Wir sollten uns nicht nur erschrecken und uns fürchten sondern versuchen, uns zu verbessern, um mit den in einigen Bereichen Chinesen mitzuhalten. Und deswegen ist gezielte Industriepolitik meines Erachtens wahnsinnig wichtig, wobei der Staat de facto der große Risikoübernehmer ist, der die Firmen in dieser unsicheren Phase schützt.

Wenn man sich die letzten ökonomischen Grunddaten anschaut, werden die Entwicklungen in China durchaus auch kritisch betrachtet. Es gibt schwaches Wachstum im Vergleich zu den Vorjahren. Wie beurteilen Sie die Wachstumsdynamik in China? Die Kernlegitimation der KP ist ja, Wachstum und Beschäftigung zu schaffen und die Mittelschicht zu verbreitern. Ist das nur eine kurze Delle oder kommt das chinesische Modell an seine Grenzen?

Wir haben in gewisser Hinsicht einen perfekten Sturm. Wir haben eine post-traumatisierte Gesellschaft. Covid hat wirklich Schneisen in die Gesellschaft geschlagen. Es sind fast 1,6 Millionen Menschen gestorben, die Scheidungsraten gehen rauf, es werden weniger Kinder gezeugt. Wir haben eine Gesellschaft, die es momentan schwer findet, wieder zu sich selbst zu finden. Der ureigenste chinesische Antriebsmotor war immer der Optimismus und diese konfuzianische Arbeitswut. Das gab es eben auch in Japan, Korea und Taiwan.

Die Regierung spricht intern von einem Dreieck des Risikos. Erstens gibt es eine Immobilienkrise: Es stehen 80-90 Millionen Apartments leer. Deutschland könnte locker einmal einziehen und jeder bekommt ein Apartment ab, leider nur in den falschen Städten, die nicht mehr so attraktiv sind.

Das zweite sind die lokalen Schulden. Man weiß gar nicht, wie tief die Schulden sind. Letztes Jahr hat ja China die Lokal-Regierungen gezwungen, zu testen und Quarantänestationen einzurichten und sie haben satte 230 Milliarden Dollar dafür ausgegeben.

Das dritte sind die kommerziellen Banken, von denen es etwa 3500 gibt und man nicht weiß, wie sicher die sind. Aber man hat fünf sehr solide Großbanken, die jeden Stress auffangen können.

Die Chinesen versuchen, langsam aus dieser Gemengelage rauszukommen. Es ist wie beim Mikado-Spiel. Wo immer Sie zu stark ziehen, wird es unter Umständen etwas auslösen, was Sie schlecht in den Griff bekommen. Stabilität ist wahnsinnig wichtig. Die Chinesen bezahlen jetzt mit niedrigem Wachstum für diese Situation und das kann natürlich auch dem Optimismus der Menschen zu schaffen machen.

Wir hatten erwartet, dass China nach der Öffnung wieder Gas gibt, weil das normalerweise immer der Fall war. Das Gegenteil ist jedoch passiert. Vom ersten zum zweiten Quartal dieses Jahres gab es Nullwachstum. Dieses Jahr wird es vielleicht 4 oder 5% Wachstum geben, aber ausgehend von einer sehr niedrigen Basis aufgrund von Covid. Es wird noch viel spannender zu sehen, wie sich 2024 entwickelt.

China ist bei 17.000 $ BSP pro Kopf, hat also noch eine Menge Wachstumspotential. Sie stehen jedoch vor dem Middle Income Trap, also der Phase, in der ein Land sich aus dem Entwicklungsstadium heraus bewegt und zu einer großen entwickelten Volkswirtschaft wird. Daran sind bisher alle Diktatoren gescheitert. Kaum einer hat es geschafft. Botswana hat es geschafft und andere Länder wie Korea und Taiwan. Aber die Frage ist, ob es zum ersten Mal eine Diktatur schaffen wird. Momentan sieht es danach aus, als würde ihnen das schwer fallen.

Die deutsche Bundesregierung hat jetzt eine China-Strategie verabschiedet – mit drei Leitbegriffen: Partner, Wettbewerber, Systemrivale. Wie ist das in China rezipiert worden und was folgt eigentlich aus diesen drei Begriffen? Welche Politiken sollen damit verbunden sein?

Für mich war das Wichtigste an der China-Strategie, dass man ein Jahr damit zugebracht hat über China zu reden und sich wirklich mal ernsthaft damit beschäftigt hat. Jetzt muss man natürlich darauf achten, dass das Papier nicht im Schrank verschwindet, sondern dass es auch gelebt wird. Und ich sehe diese alte EU-Formel von 2019 als eigentlich wirklich relevant.

Die Chinesen sehen sich als „Partner“ – die Chinesen verkaufen ja mehr in Europa als wir in China – und auch als „Konkurrenten“. Europa steht in den Märkten de facto in Konkurrenz zu China. Das muss aber nicht schädlich sein. Die Konkurrenz ist ja meistens mit mehr Innovation und Wachstum verbunden.

Der Punkt, der den Chinesen widerstrebt, ist der des „Rivalen“. Das wundert mich ein bisschen, zumal das chinesische Modell auf einem Philosophen aus Trier basiert, der in der Rivalität zwischen Kapitalismus und Kommunismus am Ende den Sieg des Kommunismus sieht. Da sind sie sehr nervös und wollen nicht als Systemrivale gesehen werden.

Das unterscheidet China von den anderen Nationen, die ich erwähnt habe. Weder Taiwan noch Süd-Korea noch Japan waren Rivale des Westens, China ist jedoch einer.

Wie schätzen Sie das Verhältnis zwischen den USA und China ein? Ist damit zu rechnen, dass das die Auseinandersetzung an Dynamik gewinnt, oder wird es auch wieder eine Phase geben, wo man entspannter miteinander umgehen wird?

Vor kurzem ist die US-Handelsministerin Gina Raimondo nach China gereist, die für China  wahnsinnig wichtig ist, weil sie für die Sanktionen verantwortlich ist. In den Bereichen, in denen die Chinesen Interesse haben, hat man wieder zueinander gefunden. Beim Militär ist jedoch überhaupt nichts passiert, weil die Amerikaner den Verteidigungsminister auf die Sanktionsliste gesetzt haben.

Meines Erachtens ist das Tuch aus der Sicht Pekings zerschnitten. Es gibt kein Vertrauen. Der Dreiergipfel der Staats- und Regierungschefs von Japan, Südkorea und den USA in Camp David im August wird in China beispielsweise extrem negativ gesehen. Wobei man sagen muss, dass die Chinesen selbst daran schuld sind, weil in der Art und Weise wie sie mit Japan und Korea umspringen, haben sie es geschafft, dass diese beiden doch relativ verstimmten Länder wieder zueinander gefunden haben.

Die Nato ist natürlich ein Reizwort. In dem ostasiatischen Bereich kommen mit dem Verteidigungsbündnis AUKUS zwischen den USA, UK und Australien wieder Nato-ähnliche Strukturen auf oder auch der Quadrilaterale Sicherheitsdialog (Quad) zwischen Australien, Indien, Japan und den USA.

Die Chinesen sehen hinter allem und jedem die Amerikaner und dieses Misstrauen wird in Amerika leider repliziert. Das Weiße Haus ist eher auf De-Eskalation ausgelegt. In der amerikanischen Bevölkerung gibt es jedoch starke antichinesische Ressentiments.

Auch im Kongress ist es parteienübergreifend das Thema. Wir gehen jetzt in das Wahljahr hinein – die sogenannte Silly season in Amerika – da wird sicherlich furchtbar auf China draufgehauen. Der Best Case ist, dass es nicht schlechter wird.

Ist Xi Jinping der neue Mao, was seine Machtfülle und seine ideologische Prägung angeht? Und wie stark ist seine Dominanz im System? In welche Richtung steuert dieses System eigentlich?

Xi Jinping ist jetzt im Jahre 13, da kommt er an Jiang Zemin ran, der 14 Jahre Präsident und Generalsekretär war. Aber Xi Jinping hat natürlich eine ganz andere Statur und ein ganz anderes Durchgriffsvermögen. Er ist sicherlich nicht Mao. Mao war ein Chaot. Er hat im Grunde genommen mit seinen Visionen das Land fast den Abgrund getrieben. Es war permanent Chaos und Xi Jinping ist das absolute Gegenteil von Chaos. Es ist alles Kontrolle, es ist alles Sicherheit und von daher ist er höchstens in der Machtfülle mit Mao zu vergleichen. Und da ist jetzt wirklich eine Echokammer entstanden. Er hat es beim Parteitag letztes Jahr im Oktober geschafft, alle seine Leute ins Politbüro zu bringen und alle anderen abzusägen und da läuft man natürlich schon Gefahr, dass vielleicht weniger von draußen reindringt und der Realitätssinn etwas schrumpft.

Alle richten sich danach, was Xi Jinping denkt und keiner möchte einen Fehler begehen. Die Risikobereitschaft ist gerade auch unter den Beamten zurückgegangen. Sie ist ganz weit weg von der Zeit, als China unter Jiang Zemin wirklich Risiko auf sich nahm.

Jetzt momentan sehen wir mit großem Erstaunen, wie Wirtschaftsreformen verschleppt werden und auf Probleme nicht reagiert wird. Wir müssen sehen, wie sie sich jetzt aufstellen, sie sind ja noch relativ jung im Amt.

Gibt es denn in der KP überhaupt noch andere relevante Strömungen, die auch vielleicht ökonomisch oder politisch anders denken oder ist das ein weitegehend von Xi Jinping geprägter Block, wo es keine Personen oder Gruppierungen gibt, die andere Positionen zumindest erdenken?

Das ist nicht erkennbar. Keiner wagt es, irgendwelche Policy Debates anzustoßen. Dass dieses Überlegen, wo die Reise hingeht, mit unterschiedlichen Szenarien, nicht mehr stattfindet, wird dem Mann Probleme bereiten. Xi Jinping gibt die Richtung vor und alle müssen gucken, wie sie das in Tagespolitik umsetzen, selbst wenn es konträre Vorgaben sind.

Man trifft immer noch einzelne Personen, die die Dinge anders sehen, die den Ukraine Krieg auch Krieg nennen, die Russland verurteilen als Imperialisten, die sehen, dass bei der Privatwirtschaft nicht nur warme Worte fallen müssen sondern auch wirklich was passieren muss. Die haben 2017 jedoch schwer einen auf die Rübe bekommen – Jack Ma steht dafür.

Und deswegen hatte ich mich in der seltsamen Station wiedergefunden, dass ich ab und zu mit meinen Äußerungen im System benutzt worden bin, als Ausländer, um sich zu überlegen wo die Reise hingeht – Covid war so ein Fall letztes Jahr im April, als ich laut sagte, dass Zero Covid der Wirtschaft schade.

Wir haben im August einen denkwürdigen Gipfel in Südafrika erlebt. Die BRICS-Staaten haben sich nicht nur getroffen, sondern sie haben wie ich finde auch weitreichende Entscheidungen getroffen, nämlich ihren Club zu erweitern um Demokratien aber auch um Autokratien. Wie beurteilen Sie dies? Wenn man den deutschen Medien und den Einschätzungen glauben kann, ist es ein großer Erfolg für Xi Jinping, der dies durchgesetzt hat, und der diese Erweiterung immer wollte und sie jetzt bekommen hat.

Verändert sich dadurch die globale Machtarchitektur oder ist dieses Bündnis zu fragil und gibt es in diesem Bündnis zu viele unterschiedliche Interessen, als dass man überhaupt gemeinsam handeln könne?

Ja, das war eine Xi Jinping Show. Das hat er meisterlich eingefädelt und auch implementiert und er hat es wirklich so weit vorangetrieben, dass China als Speiche dasteht und der Rest als Naben. Er würde das nie so offen sagen, weil er als Multilateraler dastehen will, aber die Größe Chinas, die Art und Weise, welche Themen besetzt wurden, nämlich zum Beispiel AI, da ist China ja Russland, Brasilien und den anderen Ländern weit voraus, zeigt in diese Richtung. Keines dieser Länder hat dem auch nur annähernd irgendetwas entgegenzusetzen. Es hat es wirklich geschafft, etwas zusammenzubauen, das wir nicht vorausgesehen haben.

Die Schwäche bei BRICS ist, dass es nicht für etwas steht sondern gegen etwas. Nämlich gegen die moralische Vormachtstellung des Westens, gerade die der USA. Es ist de facto ein Anti Amerika Gipfel gewesen. Deswegen ist es weniger eine Vision, wie man zusammenwachsen kann, sondern es ist eine Machtanballung, um dem Westen die Stirn zu zeigen.

Es hat den G7 nichts entgegengesetzt, außer zu zeigen: „Wir lassen euch die Plattform nicht alleine.“ Das ist eher politisch motiviert, wirtschaftlich hat das relativ wenige Konsequenzen.

Ich bedanke mich herzlich für das Gespräch.

Danke Ihnen.

 

Jörg Wuttke war Präsident der EU-Handelskammer in China – von 2007 bis 2010; 2014 bis 2017 und 2019 bis 2023. Von 2001 bis 2004 war Wuttke Chairman der Deutschen Handelskammer. Er ist Mitglied des Beratergremiums des Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin. Er lebt seit mehr als drei Jahrzehnten in Peking.