Strategisch, aktiv & solidarisch: Eine Industriepolitik für Europas Zukunft

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Klimakrise, Wandel der Arbeitswelt, Corona- und Energiekrise: Wir sind mitten in einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation mit bisher ungekannten Herausforderungen. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und erst jüngst mit dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel haben wir zudem wieder vor Augen geführt bekommen, dass auch Krieg und Terror nicht der Vergangenheit angehören, sondern unsere politische und wirtschaftliche Lage auch heute jederzeit beeinflussen können. Deshalb müssen wir uns wappnen.

Höchste Zeit, diese Herausforderungen anzugehen. Als Politik müssen wir dabei die Frage beantworten: Wie schaffen wir es, Wohlstand in Deutschland und Europa zu halten und gleichzeitig unsere Wirtschaft fit für die Zukunft zu machen?

Eine Antwort darauf ist eine aktive, strategische, nationale sowie europäische Wirtschafts- und Industriepolitik, die Klimaneutralität, Digitalisierung und Souveränität in Schlüsseltechnologien in den Vordergrund stellt. Dabei müssen wir aus den vergangenen Jahren eins lernen: Eine Wirtschaft, die allein auf das magische Wirken des Marktes vertraut, funktioniert nicht. Deshalb ist es auch und gerade unter Bedingungen der Marktwirtschaft sinnvoll, mit staatlicher Industriepolitik auf unkontrollierte Entwicklungen des Marktes zu reagieren.

Eine strategische Antwort auf den IRA

Andere machen genau das gerade vor: Der Inflation Reduction Act der USA (IRA) ist eine solche Reaktion auf gegenwärtige Herausforderungen. Er zeigt einen wirtschafts- und industriepolitisch visionären Weg zu einer Transformation der Wirtschaft auf.

Die EU und auch Deutschland müssen darauf antworten. Die bisherigen Instrumente der europäischen Transformationspolitik reichen nicht. Reflexhafte Rufe nach „mehr Deregulierung“ – aus bekannter Ecke – lehne ich hierbei ab. Klar, es braucht in vielen Bereichen weniger Bürokratie und kürzere Genehmigungsverfahren. Wer hier allerdings nur die Politik verantwortlich macht, verkennt: Ob in Brüssel oder Berlin, zahlreiche Regelungen sind das Ergebnis von Wünschen und Forderungen aus Verbänden und Unternehmen, die Ausnahmeregelungen für gerade ihre Wirtschaftsbereiche erreichen wollen.

Eine Antwort auf den IRA muss außerdem dem Versuch widerstreben, mit einer gegenseitigen Entflechtung zu reagieren. Ein Subventionswettlauf wäre sowohl für die USA als auch für die EU mit Wohlfahrtseinbußen verbunden.

Europas Standortvorteile stärken

Der Green Deal Industrial Plan und Net-Zero Industry Act der EU bieten einige gute Vorschläge, gehen aber noch nicht weit genug. Stattdessen müssen sowohl nationale als auch europäische Antworten unsere Stärken stärken: Funktionierende Sozialpartnerschaften, ein auffangendes Sozialsystem und gute Bildungseinrichtungen. Das sind doch genau die Standortvorteile, für die uns viele Amerikaner*innen beneiden.

Was mir vorschwebt, ist eine Art „Re-Regulierung“ der Rahmenbedingungen der deutschen und europäischen Industriepolitik hin zu mehr Investitionen in eine klimaneutrale Zukunft, in der Wohlstand gerechter verteilt ist und gute Arbeitsbedingungen massiv gestärkt werden.

Öffentliche Investitionen in Zukunftsindustrien und Infrastruktur

Europäische Investitionen in Klimaneutralität und Schlüsseltechnologien müssen ausgebaut werden: Dafür müssen auf EU- und nationaler Ebene Schlüsselbranchen klar definiert und dann mit allen Mitteln unterstützt werden. Gleichzeitig halte ich eine innereuropäische Infrastrukturoffensive insbesondere für Breitbandausbau und Wasserstoffinfrastruktur für geboten. Nationale Vorgehensweisen sind in unserer vernetzten europäischen Wirtschaft keine Lösung.

Elementar für Europas Wirtschaft sind tragfähige Energie- und Strompreise. Der Ausbau der in der Erzeugung wesentlich günstigeren erneuerbaren Energieträger und ein auf den Einsatz von Erneuerbaren ausgerichtetes Markt-Design sind für langfristig niedrige Preise elementar. Insbesondere in Deutschland sind – auch als Ergebnis verfehlter Energiepolitik – die Strompreise zu hoch. Deshalb ist ein Industriestrompreis zur Überbrückung notwendig.

EU-Beihilferecht vereinfachen und entbürokratisieren

Sämtliche Investitionsprogramme sollten europäisch geplant werden. Und bei jeder Investition muss gelten: Wo Europa drin ist, muss auch Europa darauf stehen. Es muss klar sein, wie die EU das Leben der Menschen direkt beeinflusst.

Gleichzeitig benötigen die Mitgliedsländer mehr Spielraum. Das EU-Beihilferecht braucht dringend ein Update: Ich kann mir hier eine Anhebung der Schwellenwerte, sowie eine Ausweitung der Möglichkeiten bei einfacherer Antragstellung und Verfahrensprozessen vorstellen, um Staaten mehr Spielraum für Subventionen und strategische Unterstützung zu geben. Um eine Verzerrung zu Gunsten der finanzstärksten Länder zu vermeiden, ist dann ein Solidaritätsfonds für finanzschwächere Länder nötig.

Steuergutschriften, Abschreibungen & grüne Leitmärkte

Auf nationaler Ebene können Steuergutschriften, Super-Abschreibungen und Klimaschutzverträge Anreize für Klimaneutralität bieten. Über Superabschreibungen und Steuergutschriften sollten Anreize für klimaschonende Investitionen gesetzt werden – ohne feste Deckelung, sondern orientiert am Bedarf. Parallel ist die Einrichtung grüner Leitmärkte – also staatlich geförderter Märkte – für klimaneutral produzierte Grundverarbeitungsstoffe wie grünem Stahl voranzutreiben.

Wohlstand ist mehr als das Bruttoinlandsprodukt: Wer profitiert, muss auch erfüllen:

Staatliche Gelder müssen an langfristige Garantien von Arbeitsplätzen, Tarifverträgen und an verbindliche Investitionspläne gebunden werden, um den notwendigen Umbau der Produktion voranzutreiben und Planungssicherheit für die Beschäftigten zu garantieren.

Gleichzeitig sollten auch europäische Unternehmen profitieren, wenn außereuropäische Unternehmen Subventionen erhalten. So könnten außereuropäische Unternehmen verpflichtet werden, europäischen Partnerunternehmen Zugang zu ihren durch die Förderung entwickelten Technologien zu geben oder sich über Standortgarantien zu langfristigem Engagement an europäischen Standorten zu bekennen.

So stellen wir sicher, dass gute Arbeitsplätze erhalten bleiben und zunehmen sowie die Investitionen zu einer stärkeren Verteilung des Wohlstands führen. Der singuläre Blick auf das Bruttoinlandsprodukt zur Messung des Erfolgs wäre hier völlig veraltet und zumindest grob verkürzend.

All diese Maßnahmen werden Geld kosten. Viel Geld. Für mich ist dabei klar: Die Wirtschaft der Zukunft gelingt nicht mit der Finanzpolitik der Vergangenheit.

Wenn nicht jetzt, wann dann? Ein Plädoyer für eine investitionsorientierte Fiskalpolitik

Es braucht staatliche Investitionen für eine starke Industriepolitik. Und diese Investitionen braucht es jetzt. Steuergutschriften und Super-Abschreibungen fördern private Investments – das ist gut so, denn sie sind entscheidend für eine gelingende Transformation. Diese Einnahmen fehlen auf der anderen Seite dem Staat. Dem Staat, der mit seinen Investments ganz entscheidend für die grundlegende Infrastruktur der Transformation ist.

Gut, dass es uns an Ideen nicht mangelt, wie diese Einnahmen erhöht werden können. Auf nationaler Ebene ist kurzfristig die strengere Durchsetzung bestehender Steuergesetze sowie das Schließen von Schlupflöchern nötig. Für eine Anschubfinanzierung der Zukunftsinvestitionen sollte der Bund auf den Einsatz nicht abgerufener Mittel aus dem 200 Milliarden Euro „Doppelwumms“-Abwehrschirm zurückgreifen.

Auf mittlere Sicht stehen uns zwei dicke Bretter zum Bohren bevor, über die wir aber jetzt diskutieren müssen. Ja, kaum einer kann die Worte „Schuldenbremse“ und „Vermögensteuer“ noch hören. Wahr ist aber: Die Schuldenbremse ist heute eine De-facto-Investitionsbremse. Ein Kompromiss, die Schuldenbremse grundsätzlich zu erhalten, aber die ihr eigene Investitionsbremse zu lösen, könnte sein, öffentliche Investitionen in Klimaneutralität und Souveränität in Schlüsselbranchen, auszunehmen. Sie sind keine konsumtiven Ausgaben, sondern eine wichtige Voraussetzung, um Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und die Transformation zu ermöglichen. Gespräche hierüber müssen innerhalb der Koalition und mit Union und Linke definitiv geführt, Kompromisslinien gefunden werden. Gleichzeitig müssen wir endlich eine offene Debatte über eine rechtssichere Wiedereinsetzung der Vermögensteuer führen.

Auf EU-Ebene sind neben der Aufstockung des europäischen Finanzrahmens und Überführung des NextGenerationEU-Programms in einen dauerhaften Transformationsfonds für Klimaschutz und Schlüsselindustrien weitere Anstrengungen nötig. Die Stichwörter heißen hierbei: Fiskal- und Kapitalmarktunion. Für eine erste Finanzierung der Investitionen sollte die EU gemeinsame Anleihen ausgeben. Zusätzlich würde die Aussetzung der Fiskalregeln bei definierten Zukunftsinvestitionen den Spielraum der EU-Staaten deutlich erhöhen. Außerdem braucht die EU endlich mehr finanzielle Eigenmittel – unabhängig der Beitragszahlungen der Mitgliedsländer -, um die Transformation der europäischen Wirtschaft voranzutreiben. Ein erster Schritt könnte die längst überfällige Einführung einer Finanztransaktionssteuer sein. Die hilft nicht nur bei der Stabilisierung des Finanzmarkts, sondern wäre als originäre Einnahmequelle der EU ein Meilenstein.

WTO reformieren & globalen Süden unterstützen

Industriepolitische Programme der wirtschaftsstarken Regionen dürfen nicht zu Lasten der wirtschaftlichen Entwicklung anderer Länder – insbesondere im globalen Süden – gehen. In diesem Zusammenhang müssen die Regeln der WTO so angepasst werden, dass Umwelt- und Klimaschutz stärker gefördert und Länder des globalen Südens mehr Möglichkeiten zur Entwicklung eigener Lösungen erhalten.

All die genannten Ziele und Maßnahmen zeigen: An Ideen für eine gelingende Transformation der Wirtschaft mangelt es nicht. Keine davon ist der alleinige sogenannte game changer, über jede kann man diskutieren. Für welche wir uns am Ende auch entscheiden: Sie müssen den Weg für eine gelingende Transformation ebnen, Hoffnung auf unsere Zukunft machen und den Zusammenhalt stärken.

Denn eins ist klar: Die größten Standortprobleme sind Rechtsextremisten und -populisten, die unser demokratisches System in Frage stellen.

 

Sebastian Roloff, MdB