©
iStock bluejayphoto

 

 

Das Wettrennen um die Entwicklung überlegener KI-Systeme bekommt deutlich mehr Aufmerksamkeit als die Mühen, diese dann auch im Unternehmen zu implementieren – und zwar so, dass sie auch funktionieren und einen Mehrwert für die Beschäftigten und das Unternehmen bringen. Mit den neuesten Entwicklungen im Bereich der generativen KI scheint die Anwendung der Technik nicht nur einfacher, sondern das Spektrum auch breiter geworden zu sein.

Für Wissensarbeit fehlte lange Zeit die Technik für eine (Teil)Automatisierung von Aufgaben. Diverse Studien verweisen auf der Grundlage der großen Sprachmodelle auf die enormen Produktivitätspotenziale bei kognitiven Tätigkeiten und Berufsbildern. Die Automatisierung hat mit den neuesten Entwicklungen bei den generativen Modellen erkennbar zum Sprung in die Domänen der kognitiven Tätigkeiten angesetzt. Daraus ergeben sich umfassende Veränderungen von Berufsbildern, weil Aufgaben wegfallen, neu dazu kommen oder anders gewichtet werden und entsprechend neue qualifikatorische Voraussetzungen mit sich bringen. Wie in der Vergangenheit auch, werden dabei etliche neue Berufe entstehen: 60 Prozent der Beschäftigung im Jahr 2018 in den USA fand in Berufen statt, die in den 1940er Jahren nicht existierten.

KI schafft neue Aufgaben, wovon zumindest in den letzten zehn Jahren vor allem Höherqualifizierte profitiert haben. Für geringer Qualifizierte trifft dies nicht im gleichen Maße zu, was zur Polarisierung von Einkommen und Aufstiegsmöglichkeiten beigetragen hat. Das hängt aber nicht nur mit einem unterschiedlichen technischen Potenzial zur Produktivitätssteigerung in Abhängigkeit von Qualifikationsstufen zusammen, sondern korrespondiert auch mit der ungleichzeitigen Einführung von KI in einzelnen Branchen und Betrieben. Insofern greift eine einseitige Konzentration auf Qualifikationsmaßnahmen zu kurz, um die möglichen Produktivitätseffekte zu heben.

Vielmehr brauchen Beschäftigte, Selbständige und Unternehmen zielgenaue industriepolitische Rückenwinde: von der digitalen Infrastruktur bis hin zur Technologieentwicklung und Anwendungsförderung. Die grundsätzliche Herausforderung ist längst erkannt und diverse Maßnahmen, wie die KI-Strategie der Bundesregierung, wurden ergriffen, aber der große Produktivitätssprung lässt noch auf sich warten. Ein Grund ist die Technik selbst. Die notwendige Kontrolle über sensible Daten behindert die breite Nutzung großer Sprachmodelle in vielen Unternehmenskontexten. Ferner sind die Modelle (noch) fehleranfällig. Auch Copyright-Fragen sind ungeklärt. Eine Maßnahme wäre folglich die Förderung eines Modells europäischer Machart, das datensparsam, kuratiert, multilingual und ressourcensparsam ist. Ein anderer Grund liegt in der notwendigen Vorlaufzeit, die die Anpassung der Geschäftsmodelle, der internen Abläufe und Organisation sowie die Entwicklung komplementärer Technik benötigen.

Der Handlungsdruck ist in Deutschland besonders groß, weil der demografische Faktor arbeitseinsparenden Technikeinsatz notwendiger als anderswo macht. Der Mangel an Fachkräften wird von Seiten der Unternehmen zu den zentralen Risiken ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten gezählt. Der entsprechende Index erreichte in Deutschland in der Industrie zu Jahresbeginn 2023 ein neues Allzeithoch. Außerdem hängt die Innovationsgeschwindigkeit und -fähigkeit zunehmend vom KI-Einsatz ab. Das betrifft vor allem KMU und Selbstständige und erfordert die entsprechende Förderung von niedrigschwelligen Einsatzmöglichkeiten. Ein Schlüsselfaktor sind dabei die Beschäftigten, die natürlich auch die notwendigen Kompetenzen für die Arbeit mit KI benötigen, aber darüber hinaus für ihr gesamtes Tätigkeitsspektrum innerhalb des betrieblichen Arbeitskontextes den Blick dafür entwickeln können müssen, wo welcher KI-Einsatz überhaupt funktional ist. Zentral ist die Erfassung der Komplexität eingefahrener Arbeitsabläufe – die Implementierung von KI-Anwendungen ist oftmals zu technikgetrieben.

Die noch relativ kurze Geschichte des sozio-technischen Verständnisses von Arbeit ist eine gute Grundlage für den Umgang mit neuen Entwicklungsschritten in der KI. Sie zeigt, wie Produktivität menschzentriert gesteigert werden kann, was im Fall von selbstlernender Technik bis hin zum Schritt der technischen Autonomie umso wichtiger ist. „Human in the loop“ ist die Voraussetzung für „Human in control“ und erfordert ein ganzheitliches und dynamisches Regulierungsverständnis von Methoden und Anwendungen Künstlicher Intelligenz. Die absehbare mittelfristige demografische Entwicklung bietet die Chance auf einen beschleunigten Technikeinsatz, der einerseits monotone und belastende Tätigkeiten reduziert und die Arbeit als wichtigen Teil des Lebens aufwertet und andererseits ohne Sorge vor technikbedingter Arbeitslosigkeit die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft steigert. Von der differenzierten Förderung und Regulierung hängt ab, ob das volle Produktivitätspotenzial freigesetzt werden kann und wie es sich konkret auf Arbeit auswirkt.

 

Prof. Dr. Christian Kellermann ist Professor an der University of Labour und Senior Researcher am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI).