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Ob im Handwerksbetrieb, der Kita oder im IT-Unternehmen: Überall werden derzeit händeringend Fach- und Arbeitskräfte gesucht. Und Prognosen zeigen, dass das erst der Anfang des Arbeitskräftemangels hierzulande sein wird: Das IAB schätzt, dass in den kommenden Jahren jedes Jahr rund 400.000 Arbeitskräfte in Deutschland fehlen werden, denn die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer werden in Rente gehen. In Summe stünden dem Arbeitsmarkt bis zum Jahr 2060 rund 16 Millionen Menschen weniger zur Verfügung. In einer Wirtschaft, die so stark auf Dienstleistungen und der Industrie beruht, kann dieser Mangel nicht langfristig folgenlos bleiben. Soweit die schlechten Nachrichten. Die guten Nachrichten sind: Wir brauchen alle! Und wir können handeln. Dafür müssen wir alle Potenziale nutzen, die inländischen wie die ausländischen. Beide sind zentral für die Sicherung von Fach- und Arbeitskräften.

Wir brauchen Einwanderung, um unseren Wohlstand in Deutschland zu sichern. Wer bereit ist, sein Heimatland für einen Job im Ausland zu verlassen, dem stehen heute viele Türen offen. Deutschland konkurriert also mit etlichen anderen Ländern um Fach- und Arbeitskräfte aus dem Ausland. Um hier eine Chance gegen Kanada, Australien oder Schweden zu haben, braucht es vor allem zwei Dinge: Unbürokratischere Regeln und eine offenere Willkommenskultur.

Politische Weichenstellung – Ein modernes Einwanderungsrecht

Eine zentrale politische Weichenstellung, um Deutschland zu einem attraktiveren Einwanderungsland zu machen, ist das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das wir dieses Jahr verabschiedet haben. Das Gesetz ist eines der modernsten Einwanderungsgesetze der Welt. Wir unterscheiden darin zwischen denjenigen, die bereits einen Beruf erlernt und ausgeübt haben, und denjenigen, die noch in der Ausbildung oder im Studium sind. Während die Berufserfahrenen früher aufwendig nachweisen mussten, dass ihre Ausbildung einer deutschen Ausbildung entspricht, müssen sie jetzt nur noch zeigen, dass sie einen im Heimatland anerkannten Abschluss und entsprechende Arbeitserfahrung haben. Wenn sie dann ein Jobangebot in Deutschland haben, dass ihrer Ausbildung oder ihrem Studium entspricht, haben sie gute Chancen, ein Arbeitsvisum in Deutschland zu bekommen. Wenn sie noch kein Jobangebot haben, können sie dennoch durch die Chancenkarte in Deutschland auf Arbeitsplatzsuche gehen. Sie haben dann für ein Jahr die Möglichkeit, in Deutschland zu leben, einen Job zu suchen, ihre Sprachkenntnisse aufzubessern und sich so für ein langfristiges Arbeitsvisum zu qualifizieren. Auch für diejenigen, die zum Studieren oder für eine Ausbildung nach Deutschland kommen, werden die Bedingungen erleichtert. Insgesamt werden die Regeln durch das neue Gesetz deutlich transparenter und Bewerberinnen und Bewerber, die nach Deutschland kommen möchten, können sogar selbst online einen ersten Test machen, ob sie die Voraussetzungen erfüllen, um ein Arbeitsvisum in Deutschland zu bekommen oder was ihnen dafür noch fehlt. Für Leute aus anderen EU-Staaten gilt natürlich die Freizügigkeit. Sie dürfen ohne besondere Voraussetzungen in Deutschland wohnen und arbeiten.

Gesellschaftliche Verantwortung: Willkommenskultur leben!

Egal ob jemand aus Litauen, Japan oder Brasilien kommt – um als Wahlheimat attraktiv zu sein und die Menschen auch langfristig bei uns halten zu können, braucht es vor allem einen kulturellen Wandel: Das fängt bei so einfachen Dingen wie dem alltäglichen Umgang an, zwischen Nachbarn, in der Kita oder beim Einkaufen. Noch viel zu oft werden Menschen schräg angesehen, wenn sie untereinander eine andere Sprache als Deutsch sprechen oder wenn sie ausländische Namen tragen. Aber Willkommenskultur kann auch institutionalisiert werden. Etwa, wenn Menschen in Ausländerbehörden nicht nur Deutsch und Englisch, sondern auch Spanisch und Arabisch sprechen. Oder wenn in Briefen oder Formularen bewusst weniger Behördendeutsch verwendet wird. Wenn mehr und bessere Kinderbetreuung möglich ist. Das Schöne daran ist: Von vielen dieser Änderungen profitieren auch diejenigen, die schon immer hier gelebt haben. Grundsätzlich gilt: Wir müssen Migrantinnen und Migranten auch die Chance geben, vollwertige Mitglieder dieser Gesellschaft zu werden, die dieselben Rechte und Pflichten genießen. Deshalb werden wir auch das Staatsbürgerschaftsrecht reformieren.

Auch im Inland schlummern noch Potenziale!

Neben der Fach- und Arbeitskräfteeinwanderung gibt es aber auch unter den sogenannten inländischen Potenzialen für die Fach- und Arbeitskräftegewinnung noch Luft nach oben. Denn auch, wenn wir derzeit eine Rekord-Erwerbstätigenquote verzeichnen und die Arbeitslosigkeit mit unter sechs Prozent niedrig ist, gibt es auch noch Möglichkeiten, inländische Potenziale besser zu nutzen. Potenziale, etwa von denjenigen, die derzeit ohne Arbeit sind oder unfreiwillig in Teilzeit feststecken oder länger arbeiten wollen. In Teilzeit arbeiten zum Beispiel viele Menschen, die sich zuhause unbezahlter Arbeit widmen, der Erziehung von Kindern oder der Pflege von Angehörigen. Das sind sehr oft Frauen. Ihnen müssen wir durch bessere Betreuungsmöglichkeiten, flexiblere Arbeitszeiten und Wiedereinstiegsmodelle ermöglichen, Aufgaben abzugeben oder so zu gestalten, dass sie sich mit Arbeit besser vereinbaren lassen.

Aus- und Weiterbildung stärken

Die Aus- und Weiterbildung bildet einen zentralen Faktor dafür, wie und ob wir die Bedarfe am Arbeitsmarkt erfüllen können. Nur jede fünfte Stelle, die derzeit als offen gemeldet ist, ist eine auf Helferniveau, für die keine spezielle Ausbildung erforderlich ist. Das bedeutet: Die meisten freien Stellen setzen eine Ausbildung voraus. Gerade unter den jungen Bürgergeldbeziehenden gibt es aber einen signifikanten Anteil, der keinen Berufsabschluss hat. Hier haben Arbeitsmarkt und Arbeitsangebot also ein Matching-Problem. Das sind wir durch die Bürgergeld-Reform gezielt angegangen: Wir haben den Fokus verstärkt auf Weiterbildung und Qualifizierung gelegt. Das hilft nicht nur denjenigen, die keinen Berufsabschluss haben, sondern auch Älteren, deren Qualifikation heute nicht mehr so stark nachgefragt ist. Oder denjenigen, die durch ihre Arbeit krank geworden sind, etwa wenn der Friseur eine Allergie gegen Haarfarbe entwickelt hat. Dann helfen die Jobcenter auch dabei, eine Umschulung oder Anpassungsqualifizierung zu absolvieren.

Mit dem Aus- und Weiterbildungsgesetz haben wir außerdem dafür gesorgt, dass auch Beschäftigte in einer sich verändernden Arbeitswelt bestmöglichen Zugang zu Weiterbildung haben und so neue Expertisen aufbauen können. Um den Übergang von der Schule in die Ausbildung für junge Menschen zu verbessern, haben wir die Ausbildungsgarantie eingeführt. Sie sorgt dafür, dass alle, die eine Berufsausbildung machen wollen, auch einen Ausbildungsplatz finden können. Dabei helfen auch die im Gesetz verankerten Maßnahmen zur Berufsorientierung. Das beginnt schon in der Schule und unter Einbeziehung der Jugendberufsagenturen.

Gesundheitsprävention und -förderung werden am Arbeitsmarkt unterschätzt!

Arbeitsförderung und Gesundheit müssen noch mehr zusammengedacht werden. Denn älter werdende Belegschaften stellen gerade in einer Arbeitswelt, in der die Veränderungen immer schneller kommen, eine große Herausforderung dar. Ältere stellen zugleich ein großes Potenzial für die Fachkräftesicherung dar. Schließlich geht Langzeitarbeitslosigkeit häufig mit physischen und psychischen Einschränkungen einher. Einen Anfang haben wir mit der Bürgergeld-Reform gemacht:  Wir haben dafür gesorgt, dass in der Beratung und Betreuung von Bürgergeldbeziehenden besser auf gesundheitliche Probleme oder Rehabilitationsbedarfe eingegangen wird und diese im Integrationsprozess stärker mitgedacht werden. Ich möchte, dass künftig immer die Frage im Vordergrund steht, wie wir gesundheitlich eingeschränkte Bürgergeldbeziehende im Betreuungs- und Vermittlungsprozess individuell unterstützen können und ihnen – wenn möglich – eine Rückkehr auf den Arbeitsmarkt ermöglichen können. Gesundheit muss strukturell im Integrationsprozess verankert werden.

Der Grundsatz „Prävention vor Reha vor Rente“ sollte für alle konsequent umgesetzt werden – egal, ob Arbeitslose, Erwerbsminderungsrentnerin oder Vollzeitkraft. Das bedeutet, dass wir frühzeitig Angebote machen, um es erst gar nicht zu Arbeitsausfällen kommen zu lassen. In den Fällen, in denen dennoch aufgrund von gesundheitlichen Problemen nicht oder nur wenig gearbeitet werden kann, muss eine Reha-Maßnahme zum Standard werden. Dafür müssen Reha-Optionen besser kommuniziert werden, Betroffene müssen wissen, was ihnen möglich ist und an wen sie sich dafür wenden müssen. Bisher sind die Beantragung, Bewilligung und Durchführung von Rehas sehr bürokratisch. Stattdessen sollte alles wie aus einer Hand kommen, sodass sich Betroffene ganz auf ihre Gesundheit konzentrieren können.

Das Reha-Angebot als Standard sollte auch für Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner gelten. Aus staatlicher Sicht sollte es unser Ziel sein, Erwerbsminderungsrentner:innen durch gesundheitliche Betreuung und Reha den Weg zurück in die Arbeit zu ermöglichen und anzubieten. Dazu haben wir vor wenigen Wochen gesetzlich klargestellt: Beziehenden einer Erwerbsminderungsrente wird ein Wiedereingliederungsversuch in Arbeit gesetzlich ermöglicht. Es entstehen nun keine Nachteile für die Erwerbsminderungsrente, wenn man den Wiedereinstieg in den Beruf versucht. Außerdem hat die Rentenversicherung zugesagt, zu den Wiedereinstiegsmöglichkeiten proaktiv zu beraten und Möglichkeiten dazu aufzuzeigen.

Einen inklusiveren Arbeitsmarkt schaffen!

Auch Menschen mit Handicap sind ein wichtiger Faktor im Arbeitsmarkt. Sie sind oftmals sehr gut ausgebildet und dennoch überdurchschnittlich oft von Arbeitslosigkeit betroffen. Um hier die Möglichkeiten für Menschen mit Handicap zu stärken und gleichzeitig positive Impulse für Arbeitgeber zu setzen, haben wir das Gesetz zum Inklusiven Arbeitsmarkt verabschiedet: Es sieht härtere Strafen für diejenigen Arbeitgeber vor, die gar keine schwerbehinderten Menschen einstellen. Mit dem Geld, das dadurch eingenommen wird, werden direkt Maßnahmen finanziert, die die Einbindung von Menschen mit Behinderungen in den allgemeinen Arbeitsmarkt fördern.

Längeres Arbeiten unterstützen

Regelmäßig kommt in der Berichterstattung die Frage auf, ob das Rentenalter hochgesetzt werden soll. Diese Debatte ist aus meiner Sicht nicht zielführend. Die Zahlen der Renteneintritte heute zeigen deutlich: Wer körperlich oder seelisch erschöpft ist, wird durch eine höhere Regelaltersgrenze nicht wieder fit. Erhöht man das Rentenalter, ist das gleichzeitig eine Rentenkürzung für all diejenigen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht bis zum Erreichen dieses Alters arbeiten können. Stattdessen helfen wir dem Arbeitsmarkt deutlich mehr durch die Stärkung von Prävention und Reha-Angeboten, indem wir Gesunde Arbeit und so die Zahl derjenigen erhöhen, die das Regelrentenalter fit und gesund erreichen. Wem das gelingt, der sollte Anreize bekommen, auch über die Regelaltersgrenze hinauszuarbeiten. Schon heute ist es finanziell attraktiv über die Regelaltersgrenze zu arbeiten: Wer also weiterarbeitet, ohne Rente zu beziehen, erhöht die zukünftige Rente um sechs Prozent für jedes Jahr, das man auf den Bezug der Rente verzichtet. Bei sozialversicherungspflichtigen Jobs kommen außerdem zusätzliche Rentenansprüche hinzu. Wer vorzeitig in Rente geht, kann jetzt ohne jede Grenze hinzuverdienen. Finanziell sind die Anreize also gegeben, jetzt müssen aber auch die Arbeitgeber umdenken. Viele Arbeitsverträge schließen bisher eine Anstellung über das Regelalter hinaus aus. Auch flexiblere Arbeitsmodelle, etwa Gleit- oder Teilzeit können dazu führen, dass Rentnerinnen und Rentner im Job bleiben möchten.

Wenn wir all diese Potenziale – Einwanderung, Frauen, Arbeitslose, Ältere und Menschen mit Handicaps – zusammendenken und durch gezielte Entbürokratisierung, Beratung, flexiblere und individuellere Lösungen und einem klaren Fokus auf Gesundheitsförderung Hemmnisse abbauen, kann es uns gelingen, den Fachkräftemangel zu überwinden. Und das Beste daran: Ganz nebenbei werden wir davon profitieren, dass die Arbeitsbedingungen sich für alle verbessert haben.

Martin Rosemann ist Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie Sprecher für Arbeit und Soziales der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Er ist promovierter Volkswirt.