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Kurz nach Jahresende liegen die ersten Statistiken zur Entwicklung des deutschen Stromversorgungssystems in 2023 vor.[1] Eine besonders augenfällige Veränderung zeigt sich beim Stromaußenhandel. Während Deutschland in den vergangenen Jahren im Jahressaldo stets deutlich mehr Strom ex- als importiert hat (2022 betrug der Saldo mehr als 25 TWh oder ca. 5 % des Stromverbrauchs, in den 2010er Jahren zum Teil mehr als 50 TWh), hat sich das Verhältnis in 2023 umgekehrt. Nach vorläufigen Zahlen hat Deutschland mit Stromhandelsgeschäften in 2023 knapp 12 TWh Strom mehr importiert als exportiert.

Als sich diese Veränderungen beim Stromaußenhandel im Laufe des Jahres 2023 abzeichneten, hat sich eine Kontroverse entsponnen, ob sie einen Indikator für eine verfehlte Energiepolitik oder gar ein Scheitern der Energiewende darstellen. Die Bild-Zeitung hat die These in den Raum gestellt, Deutschland sei zum „Strom-Bettler“ geworden. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Jens Spahn spricht von Deutschland als „Strom-Not-Land“ und der energiepolitische Sprecher der FDP Michael Kruse beklagt Abhängigkeiten vom Ausland zu Zeiten geringer EE-Produktion.[2] Kritik an Strom-importen wird oft mit Kritik am Ausstieg aus der Atomenergienutzung verbunden bzw. die Entwicklung sogar kausal darauf zurückgeführt. Gleichzeitig führen Befürworter des Atomausstiegs den beobachteten Rückgang der Kohleverstromung in 2023 ohne Betrachtung weiterer Einflussfaktoren als Beleg dafür an, dass die befürchtete Substitution von Atomstrom durch fossile Stromerzeugung nicht stattfinde.

Diese von allseitiger Polemik geprägte Debatte zeugt vor allem davon, dass die Mechanismen des europäischen Strommarkts auch für energiepolitisch Interessierte nicht immer vollständig klar sind. Dabei bietet gerade der gemeinsame europäische Strombinnenmarkt Chancen für eine kostengünstige Dekarbonisierung unserer Energiesysteme. Um das Potenzial dieser Zusammenarbeit zu heben, müssten die Nationalstaaten aber zu einer vertieften Kooperation bereit sein und verfestigte politische Positionierungen hinterfragen.

Nachfolgend wird zunächst kurz die Funktionsweise der europäischen Strommärkte beschrieben, um darauf basierend die Entwicklungen des Jahres 2023 besser einzuordnen. Anschließend wird diskutiert, wie eine für Deutschland und Europa sinnvolle Vertiefung des Strombinnenmarkts aussehen könnte.

Organisation des europäischen Strommarkts

Strom ist eine besondere Commodity. Erzeugung und Last im Stromsystem müssen jederzeit ausgeglichen sein, damit das System stabil betrieben werden kann. Zudem ist Strom wirtschaftlich nicht in großem Umfang speicherbar. Sowohl die Stromnachfrage als auch das Stromangebot speziell aus volatilen erneuerbaren Energien können sich innerhalb weniger Stunden deutlich verändern. All das trägt dazu bei, dass der Wert einer kWh Strom sich zwischen unterschiedlichen Zeitpunkten bzw. an unterschiedlichen Orten stark unterscheiden kann. Der Handel mit Strom und der Transport aus Regionen mit einem Überschuss günstiger Erzeugung in solche mit einem entsprechenden Defizit können die Kosten der Stromversorgung reduzieren. Dabei spielen die Stromnetze als physische Plattform, über die Stromhandelsgeschäfte umgesetzt werden können, eine entscheidende Rolle. Da Stromnetze ein natürliches Monopol bilden, werden Zugang und Nutzung reguliert. Insbesondere gibt es umfangreiche europäische Vorgaben zur Abwicklung grenzüberschreitender Stromhandelsgeschäfte, um beschränkte Transportkapazitäten möglichst effizient zu nutzen. Wesentlich dabei ist die Aufteilung Europas in sogenannte Gebotszonen. Dabei ist die Grundidee, dass innerhalb von Gebotszonen die Netze so stark ausgebaut sind, dass zumindest keine strukturellen Engpässe bestehen, so dass der gebotszoneninterne Stromhandel ohne netzbedingte Einschränkungen stattfinden kann. Zwischen Gebotszonen ist Transportkapazität hingegen knapp, weshalb gebotszonenübergreifende Handelsgeschäfte unter dem Vorbehalt der Verfügbarkeit von Kapazitätsnutzungsrechten stehen bzw. um diese konkurrieren müssen. In Mitteleuropa entsprechen die Grenzen der Gebotszonen weitestgehend den Grenzen der Nationalstaaten.[3] Das reflektiert die vor der Liberalisierung der europäischen Strommärkte geringen internationalen Stromaustausche und gegenüber den Grenzkuppelleitungen deutlich stärker ausgebauten nationalen Netze. In den skandinavischen Ländern und Italien bestehen hingegen schon seit geraumer Zeit mehrere Gebotszonen, was z. B. im Fall Norwegens auch auf die geographisch bedingt beschränkten Netzkapazitäten zwischen unterschiedlichen Landesteilen zurückzuführen ist.

Damit die grenzüberschreitenden Stromhandelskapazitäten optimal eingesetzt werden, wird über ihre Nutzung im Zuge der sogenannten Marktkopplung entschieden. Beim Handel einen Tag vor der physischen Erfüllung, dem traditionell wichtigsten Handelssegment, geben dazu Verbraucher und Erzeuger Gebote an einem Handelsplatz (Strombörse) in der Gebotszone ab, in der ihre Anlagen physisch gelegen sind. Nach dem Einsammeln aller Gebote werden diese an den zentralen Marktkopplungsalgorithmus übermittelt. Der bestimmt für jedes Handelsintervall die Außenhandelsposition (Exporte – Importe) jeder einzelnen Gebotszone so, dass im Gesamtsystem der Wohlfahrtsgewinn aus dem Stromhandel maximal wird, wobei sich 1) die vorzeichenrichtigen Summen aller Außenhandelspositionen ausgleichen und 2) die aus den Export-/Importüberschüssen resultierenden Flüsse zwischen den Gebotszonen die beschränkten Netzkapazitäten nicht überschreiten.

Stromhandel findet in diesem System immer dann statt, wenn er ökonomisch sinnvoll ist. Getätigte Stromhandelsgeschäfte erlauben keine Aussage darüber, ob eine Versorgung der Nachfrage auch ohne die entsprechenden Handelsgeschäfte möglich gewesen wäre.

Deutscher Stromaußenhandel in 2023

Dass Deutschland in 2023 zu vielen Zeitpunkten, gerade während des Sommerhalbjahres und auch im Jahressaldo, Strom importiert hat, ist weder ein Zeichen besonderer wirtschaftlicher Stärke noch wirtschaftlicher Schwäche. Vielmehr war es zu vielen Zeitpunkten schlicht günstiger, die Stromnachfrage in Deutschland mit der Stromerzeugung aus ausländischen Anlagen statt mit dem Betrieb von Erzeugungsanlagen in Deutschland zu decken. Wenn in einer solchen Situation Stromimporte stattfinden, bedeutet das einen Wohlfahrtsgewinn für die deutsche Volkswirtschaft und ist uneingeschränkt zu begrüßen.

Die großen Veränderungen im Verhältnis zu den Vorjahren sind dabei aus der Überlagerung unterschiedlicher Effekte zu erklären.

  • Besonders auffällig ist der Rückgang bei der Stromerzeugung aus Braun- und Steinkohle. Dieser Rückgang spiegelt vor allem wider, dass wegen hoher CO2-Preise einerseits und stark gesunkener Gaspreise andererseits die Stromerzeugung in Gaskraftwerken im In- und Ausland anders als in der Vergangenheit günstiger war als die Verstromung von Kohle in Deutschland. Liefen in den 2010er Jahren deutsche Kohlekraftwerke trotz des starken Ausbaus der erneuerbaren Energien unvermindert weiter für den Export und verdrängten im Ausland gasbasierte Erzeugung, so hat sich dieser Trend nun umgekehrt. Bei fortschreitender Entspannung auf den globalen Gasmärkten und steigenden CO2-Preisen ist eine Renaissance der umweltschädlichen Kohleverstromung in Deutschland auch nicht absehbar.
  • Noch stärker als die deutsche hat sich in 2023 die französische Stromaußenhandelsbilanz verändert, wenn auch in entgegengesetzter Richtung. Noch in 2022 musste Frankreich aufgrund der geringen Verfügbarkeit der eigenen Nuklearflotte in erheblichem Maße (über 15 TWh) Strom aus den anderen europäischen Staaten importieren (eine Herausforderung, die die Mechanismen des Strombinnenmarkts friktionslos und ohne politische Intervention bewältigt haben). In 2023 hat die verbesserte Verfügbarkeit das Angebot an CO2-frei und zu niedrigen variablen Kosten produziertem Strom deutlich erhöht, teurere Stromerzeugung in anderen Ländern verdrängt und zu ca. 50 TWh Stromexporten Frankreichs geführt.
  • Umgekehrt hat in Deutschland die Stilllegung der letzten drei verbliebenen Atomkraftwerke im April 2023 zu einem dauerhaften Wegfall von mehr als 4 GW Erzeugungsleistung mit sehr niedrigen variablen Kosten geführt, die durch andere Erzeugung substituiert werden musste. Aufgrund der oben geschilderten Preisverhältnisse ist diese Substitution zu erheblichen Teilen nicht, wie von manchen Akteuren befürchtet, durch inländische Kohleerzeugung, sondern durch Importe erfolgt.

Die Betrachtung zeigt, dass keineswegs alle Entwicklungen, die zu den hohen deutschen Stromimporten geführt haben, für Deutschland wirtschaftlich nachteilig zu bewerten sind. Im Gegenteil: Der Rückgang der Gaspreise und damit der Erzeugungskosten in Gaskraftwerken sowie die verbesserte Verfügbarkeit der französischen Atomkraftwerke haben auch für Deutschland positive wirtschaftliche Auswirkungen. Gleichzeitig bedeutet die Stilllegung der bestehenden Kernkraftwerke aus deutscher Perspektive auch dann einen Wohlfahrtsverlust, wenn deren Stromerzeugung nicht durch besonders klimaschädliche deutsche Kohlestromerzeugung, sondern „nur“ durch Importe von Erdgasstrom aus dem Ausland kompensiert wurde.

Veränderungen bei Im- oder Exporten taugen somit nicht als Indikator für den Erfolg der Energiewende. Entscheidend für die deutsche Volkswirtschaft ist nicht die Frage, wo Strom produziert wird, sondern ob Verbraucher in Deutschland Zugang zu günstigem Strom haben. Mit Blick auf die Zukunft ist dabei der weiterhin hohe Anteil an kohlebasierten Stromerzeugungskapazitäten in Deutschland kritisch zu sehen. Kohlestrom wird bei nahezu sicher steigenden CO2-Preisen in Europa schon auf Basis der variablen Kosten zur teuersten Volumen-Stromerzeugungstechnologie (abgesehen von hoch geförderter Biomasse, deren faktisch unflexibler Einsatz in der Stromerzeugung ebenfalls kritisch zu sehen ist). Gleichzeitig verdienen Kohlekraftwerke in einem solchen Szenario keine inframarginalen Renten zur Deckung der hohen Fixkosten. Ein Standortnachteil für Deutschland und höhere Strompreise als im europäischen Ausland drohen vor allem dann, wenn es nicht gelingt, den Bedarf für kohlebasierte Stromerzeugung gering zu halten. Dabei helfen kurzfristig Stromimporte. Bei steigendem Strombedarf infolge von Elektrifizierung und konjunktureller Erholung bedarf es dazu aber einer Ausweitung des Angebots an günstigen Stromerzeugungstechnologien, speziell aus erneuerbaren Energien, sowie einer Absicherung der Versorgung durch flexible Erzeugungsleistung in steuerbaren Gaskraftwerken.

Realisierte Stromimporte sind auch kein Zeichen für eine problematische Abhängigkeit der Stromversorgung von ausländischen Akteuren. In 2023 wäre, wenn auch zu höheren Kosten, eine Versorgung aus Erzeugungsanlagen im Inland wohl jederzeit möglich gewesen. Dies wird allerdings in Zukunft mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht mehr uneingeschränkt der Fall sein. Deutschland könnte, wie andere Länder auch, siehe Frankreich in 2022, zumindest stundenweise auf Importe angewiesen sein. Hier ist allerdings entscheidend, dass im europäischen Strombinnenmarkt mit einem gemeinsamen und durchsetzbaren Rechtsrahmen der grenzüberschreitende Stromhandel auch in Knappheitssituationen gewährleistet ist. Anders als z. B. bei russischem Gas sind politisch motivierte Exportbeschränkungen bei Stromerzeugungskapazitäten in anderen Mitgliedsstaaten nicht zu befürchten. Vielmehr sind die EU-Mitglieder sogar zu wechselseitiger Solidarität in Knappheitssituationen verpflichtet, auch wenn das nicht in jeder einzelnen Situation für alle Stromverbraucher im eigenen Land vorteilhaft ist.

Potenziale des Stromhandels gezielt nutzen

Der europäische Strombinnenmarkt bietet die Möglichkeit, in der EU vorhandene Ressourcen für die Stromerzeugung optimal und zum Nutzen aller Stromverbraucher zu erschließen und einzusetzen. Stromhandel ist kein Nullsummenspiel, bei dem der Gewinn der einen Seite dem Verlust der anderen entspricht. Insbesondere ist es aus deutscher Sicht nicht grundsätzlich problematisch, wenn, anders als in der Vergangenheit, mehr Strom im- als exportiert wird. Im Gegenteil: Die meisten langfristigen Systementwicklungsstudien zeigen, dass – aufgrund besserer Potenziale für die Nutzung erneuerbarer Energien im Ausland – die Dekarbonisierung der deutschen Energieversorgung kostengünstiger gelingt, wenn Deutschland in signifikantem Maße klimaneutral produzierten Strom aus den Nachbarländern importieren kann.

Statt den Verlust des Status als Nettoexporteur zu beklagen, wäre es deshalb sinnvoller, politische Energie zu verwenden, um die Potenziale, die der Stromhandel bietet, tatsächlich auszunutzen. Hier gibt es in unterschiedlichen Bereichen Handlungsbedarf:

  • Grenzüberschreitende Finanzierung von EE-Ausbau und Transportinfrastrukturen: Potenziale und Flächenverfügbarkeiten für die Errichtung erneuerbarer Energien in der Europäischen Union sind nicht gleichverteilt. Die Dekarbonisierung der europäischen Energiesysteme würde erheblich günstiger, wenn europaweit einerseits die günstigsten EE-Potenziale erschlossen und andererseits durch einen Ausbau der grenzüberschreitenden Transportinfrastrukturen (z. B. eines vermaschten Gleichstromnetzes in Nord- und Ostsee) die Transportmöglichkeit in die Verbrauchszentren sichergestellt werden könnte. In der Praxis drohen solche Projekte aber häufig an Finanzierungsfragen zu scheitern. Mitgliedsstaaten werden nur dann bereit sein, die erneuerbaren Energien über den eigenen Bedarf hin auszubauen und Infrastrukturen zum Abtransport des produzierten Stroms (oder daraus erzeugten Wasserstoffs) zu errichten, wenn sich die Mitprofiteure an der Finanzierung dieser Anlagen (und der Tragung damit verbundener Risiken) beteiligen. Gerade Infrastrukturfinanzierung findet aber bisher noch überwiegend im nationalen Rahmen statt. Angesichts der aktuellen fiskalischen Herausforderungen ist zudem zu befürchten, dass eine Beteiligung an den Kosten von Infrastrukturen im Ausland schwer zu vermitteln ist. Dennoch droht hier eine verpasste Chance. Angesichts der langen Errichtungsdauern von Übertragungsinfrastrukturen müssen die Grundlagen grenzüberschreitender Projekte, die bei der Erreichung der Klimaneutralität helfen sollen, in der laufenden Dekade gelegt werden.
  • Grenzüberschreitende Verantwortung für Versorgungssicherheit: Aufgrund von Durchmischungseffekten bei Verbrauch und volatiler EE-Erzeugung sinken die für die Gewährleistung von Versorgungssicherheit vorzuhaltende steuerbare Leistung und damit verbundene Aufwendungen deutlich, wenn Staaten diese Vorhaltung gemeinsam organisieren, statt auf die Möglichkeit einer autarken Versorgung zu setzen. Zudem ist die technische Möglichkeit zur jederzeitigen Deckung der nationalen Last im Binnenmarkt mit offenen Grenzen auch kein hinreichendes Kriterium für die Gewährleistung einer sicheren Versorgung. Statt bei der Gewährleistung von Versorgungssicherheit zusammenzuarbeiten und gemeinsam für ausreichende Erzeugungs- und Transportkapazitäten zu sorgen, verfolgen die EU-Mitgliedsstaaten bei Marktdesign, Risikovorsorge und Fragen wie der Organisation von Kapazitätsmechanismen und Reserven jedoch national sehr unterschiedliche Ansätze. Das gefährdet die Effizienz und Effektivität beim Umgang mit Versorgungssicherheit. Statt auf nationale Kompetenzen zu bestehen, wäre es sinnvoll, auch bei Versorgungssicherheitsmechanismen zu einer Harmonisierung von Produkten und Herangehensweisen zu kommen und die Marktkopplung vom kurzfristigen Energiehandel auf die Sicherstellung eines angemessenen Niveaus steuerbarer Erzeugungsleistung auszuweiten.
  • Bereitschaft zur Anpassung der Gebotszonenstruktur: Mit dem starken Ausbau der erneuerbaren Energien haben sich die geographischen Schwerpunkte der Erzeugung in Deutschland in Richtung Norden und Osten und damit weg von den industriellen Verbrauchszentren verschoben. Der Übertragungsnetzausbau konnte dieser Entwicklung nicht folgen. Und angesichts des – zu Recht – steigenden Ambitionsniveaus beim EE-Ausbau wird, trotz jüngst erkennbarer Fortschritte, auf absehbare Zeit die Lücke zwischen Transportbedarf und verfügbarer Transportkapazität im deutschen Übertragungsnetz nicht erheblich kleiner werden. Anders als beim Gebotszonenkonzept intendiert, wird es deshalb noch lange strukturelle Engpässe innerhalb der deutschen Gebotszone geben. Auch wenn eine Änderung der Gebotszonenstruktur aufwändig und politisch schwierig ist: Das Festhalten an der einheitlichen Gebotszone wird immer mehr zu einer Belastung für die Energiewende und erschwert es, die Potenziale des Stromhandels in Deutschland und Europa optimal zu nutzen. Mit der einheitlichen Gebotszone werden lokale Überschüsse oder Defizite an Erzeugungskapazität nicht im Strompreis reflektiert. Das führt nicht nur zu ineffizientem Verhalten von Marktteilnehmern in Deutschland (man denke an flexible Verbraucher im Süden, die auf den bei hoher Offshore-Erzeugung niedrigen Preis reagieren, während der günstige Strom überhaupt nicht zu ihnen transportiert werden kann), sondern auch zu Ineffizienzen und Wohlfahrtsverlusten im grenzüberschreitenden Stromhandel. So kommt es heute in Starkwindsituationen möglicherweise dennoch zu Stromimporten aus Skandinavien, weil die Preise innerdeutsche Engpässe und Transportprobleme nicht reflektieren. In der Folge kann es zur Abregelung von EE-Strom in Deutschland und der Notwendigkeit zur Aktivierung teurer Redispatchpotenziale kommen. Mit einem alternativen Gebotszonenzuschnitt könnte z. B. in Starkwindsituationen überschüssiger Strom nach Skandinavien exportiert und dort, zumindest indirekt,[4] gespeichert werden. Die Frage nach einem Neuzuschnitt der deutschen Gebotszone wird dabei drängender. Denn der Redispatch-Mechanismus, mit dem bisher Netzengpässe durch Eingriffe in die Fahrweise von Kraftwerken (v. a.) in Deutschland gelöst wurden, erweist sich für die Herausforderungen der Energiewende als zunehmend schlechter geeignet. Redispatch als i. W. nationales Instrument ist suboptimal, um Engpässe infolge des an Bedeutung gewinnenden internationalen Stromhandels zu beherrschen. Mit Redispatch gelingt es nicht, die für die Integration der erneuerbaren Energien ex wichtigen verbrauchsseitigen Flexibilitäten und Speicher zu adressieren. Als reines Instrument zur Steuerung des Kraftwerkseinsatzes kann er zudem nicht die drängende Frage nach neuen steuerbaren Erzeugungskapazitäten im Süden Deutschlands adressieren. Für all das braucht es korrekte Preissignale, die mit dem Festhalten an einer einheitlichen Gebotszone nicht erreicht werden können. Eine positive Sichtweise auf die Potenziale des Stromaußenhandels und des europäischen Strombinnenmarkts sollte deshalb auch ein Überdenken der bisherigen politischen Positionierung zur Gebotszone beinhalten. Um den Übergang zu einem neuen System zu vereinfachen, wäre es dabei sinnvoll, anreizerhaltende (und ggf. zeitlich gestaffelte) Mechanismen zur Kompensation von Nachteilen für bestehende Akteure wie die Ausgabe am historischen Verbrauch orientierter Financial Transmission Rights zu erwägen.

Zusammenfassung

Nach vielen Jahren hat Deutschland in 2023 erstmals wieder mehr Strom importiert als exportiert. Anders als vielfach diskutiert, ist das kein Hinweis auf das Scheitern der Energiewende. Der europäische Strommarkt ist so organisiert, dass jeweils die kostengünstigsten verfügbaren Ressourcen genutzt werden. Vom Stromhandel profitieren alle EU-Mitgliedsstaaten, egal ob sie Strom importieren oder exportieren. Um Standortnachteile für die deutsche Industrie zu vermeiden, ist es jedoch langfristig wichtig, das Angebot an verfügbaren günstigen Stromerzeugungstechnologien auszuweiten und auf die zunehmend teurere Kohleverstromung verzichten zu können. Neben einem Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland kann dazu auch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei EE- und Infrastrukturausbau sowie bei der Gewährleistung von Versorgungssicherheit beitragen. Die vollumfängliche Erschließung der Potenziale des Stromhandels erfordert allerdings eine Vertiefung des Binnenmarktes und damit möglicherweise die Aufgabe nationaler Kompetenzen sowie ein Überdenken der politischen Haltung zur einheitlichen deutschen Gebotszone.

 

Dr. Christoph Maurer

[1] Z. B. Agora Energiewende, Die Energiewende in Deutschland: Stand der Dinge 2023. Rückblick auf die wesentlichen Entwicklungen sowie Ausblick auf 2024. https://www.agora-energiewende.de/fileadmin/Projekte/2023/2023-35_DE_JAW23/A-EW_317_JAW23_WEB.pdf

[2] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/neun-monate-nach-atomausstieg-deutschland-muss-sich-plotzlich-strom-zukaufen-10999540.html

[3] Deutschland und Luxemburg bilden eine gemeinsame Gebotszone.

[4] Die hydraulischen Erzeugungsanlagen in Skandinavien sind im Regelfall keine Pumpspeicherkraftwerke wie im Alpenraum, die explizit Überschussstrom aufnehmen und zeitversetzt wieder einspeisen können. Systemisch wirkt aber der Verzicht auf die ansonsten notwendige Stromproduktion aus Speicherkraftwerken mit natürlichem Zulauf wie eine Speicherung.