Mehr Erneuerbare integrieren – und Deutschland gleichzeitig wettbewerbsfähiger machen

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Die in immer kürzeren Abständen sichtbaren und nachhaltig messbaren Effekte der Klimaerwärmung und die aus dem russischen Angriff auf die Ukraine resultierende Energiekrise haben es deutlich gemacht: Deutschland muss den Umbau seiner Energieversorgung in Richtung Klimaneutralität dringend beschleunigen. Gerade die vergangenen zwei Jahre haben eindrucksvoll bewiesen, dass krisenhafte Situationen nur mit vereinten Kräften bewältigt werden können. Die befürchtete Gasmangellage ist nicht eingetreten und die Versorgungssicherheit konnte auf vergleichsweise hohem Niveau aufrechterhalten werden: Alternative Lieferquellen für Erdgas wurden erschlossen. Importeure wurden aufgrund des Wegfalls ihrer russischen Liefermengen gestützt. Verbraucher folgten den Energiespar-Appellen und mit LNG-Terminals und -Leitungen wurden in Rekordzeit zusätzliche Importkapazitäten geschaffen. Die politischen Reaktionen waren kurzfristig wirksam und zielgenau, die neue „Deutschlandgeschwindigkeit“ verbreitete Optimismus, Teile der aktuellen Regierung bezeichneten Erneuerbare gar als „Freiheitsenergien“. Wichtig ist allerdings, dass es nicht bei einer Momentaufnahme bleiben darf. Importterminals für LNG und neue Bezugsquellen für Erdgas sind nur ein Zwischenschritt, um der neuen Realität gerecht zu werden – selbstverständlich sind die von EWE errichteten Anbindungsleitungen „H2-ready“ und sollen so schnell wie möglich auf Wasserstoff umgestellt werden. Der konsequente Umbau der Energieversorgung auf Basis regenerativer Quellen bleibt weiter oberstes Ziel.

Die Einigung der Bundesregierung über den Haushalt 2024 und den Klima- und Transformationsfonds (KTF) war ein notwendiges Signal, dass dieser Weg in Richtung klimaneutraler Energieträger und Technologien weiterhin ernsthaft beschritten wird. Wichtige Transformations- und Zukunftsprojekte können voraussichtlich wie geplant umgesetzt werden, da staatliche Förderzusagen für die Sanierung von Gebäuden, die Modernisierung von Heizungen, den Ausbau von E-Ladesäulen und für Wasserstoffprojekte Bestand haben sollen. Aus den energiewirtschaftlichen Herausforderungen der kommenden Jahre kann man sich nicht heraussparen, sondern muss sich herausinvestieren. Ein Mammutprojekt. Dies gilt für Unternehmen der Privatwirtschaft ebenso wie für staatliche Akteure.

Im vergangenen Jahr haben wir teilweise eine positive Dynamik beim Ausbau der Erneuerbaren Energien sehen können: Die Gesamtleistung stieg im Vergleich zum Vorjahr um zwölf Prozent auf knapp 170 Gigawatt (GW), der Anteil der Erneuerbaren Energien am Bruttostromverbrauch kletterte auf über 50 Prozent. Das ist erfreulich, aber für das Erreichen der Klimaschutzziele müssen wir noch mehr Tempo machen und gemeinsam weitere erhebliche Anstrengungen unternehmen, insbesondere im weiterhin stark fossil geprägten Wärmesektor.

Als größter niedersächsischer Energieversorger und auch als eines der größten kommunalen Unternehmen Deutschlands ist EWE klar auf Klimaschutz und Digitalisierung ausgerichtet und hat einen ambitionierten Transformationspfad eingeschlagen. Wir wollen unseren Beitrag für den Umbau des Gesamtsystems leisten, selbst bis 2035 klimaneutral werden und arbeiten intensiv daran, unsere jährlichen Investitionen in grüne Technologien und den Glasfaserausbau mehr als zu verdoppeln. Noch immer bestehende Hürden, wie zu lange Genehmigungsverfahren, überbordende Bürokratie und fehlende Flächen behindern jedoch zu häufig noch diejenigen, die aktiv zu Klimaschutz und einem möglichst hohen Energieautarkiegrad Deutschlands beitragen wollen. Daher sollten z.B. die laufenden Verfahren zum Solarpaket und Bundesimmissionsschutzgesetz zügig umgesetzt werden, um eine weitere Beschleunigung zu erreichen.

Mit Blick auf die Versorgungssicherheit müssen gleichzeitig umfangreiche Flexibilitäten auf der Nachfrageseite, über die Kopplung von Sektoren sowie den Bau von zusätzlicher Speicherkapazität geschaffen werden. Entscheidend sind darüber hinaus neue Kapazitäten an regelbarer Kraftwerksleistung, die die verbleibende Residuallast sicher und möglichst klimaneutral abdecken. Die seit langem erwartete Kraftwerksstrategie des BMWK bleibt weiterhin ein erfolgskritischer Meilenstein und muss die richtigen Anreize für Wasserstoff-und H2-fähige Kraftwerke setzen.

Zur Wahrheit gehört auch, dass die verschiedenen Regionen Deutschlands sich beim Ausbau der Erneuerbaren Energien seit langer Zeit sehr unterschiedlich engagieren. Dies hat zur Folge, dass im Norden sehr viel Strom aus Windkraft erzeugt wird, während industrielle Lastzentren häufig weit südlich liegen. Da die vorhandene Netzinfrastruktur für den Nord-Süd-Transport des Windstroms aus dem Norden heute nicht ausreichend dimensioniert ist, kommt es zu Engpässen bei den Übertragungsnetzen. Diese Engpässe werden sich in den kommenden Jahren absehbar noch verstärken, da der Netzausbau naturgemäß nicht mit dem notwendigen schnelleren Ausbau der Erneuerbaren Schritt halten kann.

Die Kosten für das Netzengpassmanagement steigen entsprechend seit Jahren stark an und betrugen zuletzt rund 4,2 Mrd. € im Jahr 2022. Für die Folgejahre ist mit weiter steigenden Kosten zu rechnen. Erneuerbare Erzeugungsanlagen werden zwangsweise abgeschaltet und trotzdem vergütet. Die Kosten werden von den Netzbetreibern auf alle Kunden umgelegt. Zusätzlich zur Nichtnutzung des vorhandenen Potenzials der Erneuerbaren entsteht im Süden der Bedarf, Reservekraftwerke – meist fossile – hochzufahren. Die Kosten für die Energiewende steigen so im aktuellen System stetig weiter an. Ebenso sinkt die gesellschaftliche Akzeptanz für die Energiewende zum Teil deutlich, wenn der von der Allgemeinheit bezahlte Strom in größeren Mengen nicht genutzt wird.

Wir sind der Auffassung, dass kostenintensive, engpassbedingte Netzeingriffe am besten durch die Ausweitung von Flexibilität – insbesondere auf der Nachfrageseite in der Höchstspannungs- und Umspannebene – reduziert werden sollten. Das Hauptproblem ist, dass die an den netztopologisch systemdienlichen Punkten eigentlich erforderliche flexible Nachfrage bisher so nicht existiert. Ihre Entstehung muss daher gezielt angereizt werden.

Insbesondere für die Betreiber flexibel einsetzbarer Power-to-X-Anlagen (PtX), beispielsweise Elektrolyseure, muss nach unserer Ansicht ein Anreiz geschaffen werden, dass sie ihre Anlagen an systemdienlichen Standorten – d.h. mit hinreichender technischer Wirkung auf Engpässe in der Höchstspannungsebene – errichten. In einem ersten Schritt sollten Baukostenzuschüsse, differenziert nach Netzebenen, bundesweit vereinheitlicht werden. Dies schafft Transparenz und ein „Level-Playing-Field“ für alle Akteure. Darauf aufbauend sollten alle Netzbetreiber einen Nachlass in Höhe von 90 Prozent auf den Baukostenzuschuss für den Netzanschluss von PtX-Anlagen gewähren, sofern diese an von den Netzbetreibern veröffentlichten systemdienlichen Standorten entstehen. Dies reduziert die Investitionsauszahlungen von Anlagenbetreibern erheblich und ist sachgerecht, weil Netzausbau tendenziell vermieden wird. Für Anlagen an nichtsystemdienlichen Standorten wird der Baukostenzuschuss hingegen in voller Höhe erhoben. Analog dazu könnte auch bei der Neuansiedlung von Industriekunden eine Reduzierung der Netzentgelte erfolgen, wenn diese systemdienliche Flexibilitäten bereitstellen können, die geeignet sind, Engpässe einzelner Umspannwerke auf Höchstspannungsebene zu mindern.

Um die negativen Folgen des immer noch schleppenden Übertragungsnetzausbaus abzumildern, wurde in das kürzlich in Kraft getretene neue Energiewirtschaftsgesetz (EnWG 2023) die Regelung „Nutzen statt Abregeln“ eingefügt. Danach soll erneuerbarer Strom, der ansonsten abgeregelt werden müsste, über Auktionen von zusätzlichen zuschaltbaren Lasten, beispielweise Elektrolyseuren, genutzt werden können. Grundsätzlich passt dieser Ansatz zu dem skizzierten Lösungsmodell. Das EnWG schreibt vor, dass die Übertragungsnetzbetreiber ein Konzept für die Regelung „Nutzen statt Abregeln“ erarbeiten. Bei diesem Konzept ist entscheidend, dass auch die Verteilnetzbetreiber mit einbezogen werden. Nur auf diese Weise kann eine effektive und effiziente Ausgestaltung erreicht werden, um letztlich volkswirtschaftlichen Schaden durch Redispatchmaßnahmen zu reduzieren.

Parallel dazu sind weitere Maßnahmen zu ergreifen, um bestehende Lasten fairer als bisher auf alle Schultern zu verteilen: Anders als bei den Übertragungsnetzen gibt es bei den Verteilnetzen bislang keinen überregionalen Ausgleich der durch den Ausbau und Anschluss der Erneuerbaren Energien entstandenen Netzkosten. Die betroffenen Verteilnetze, und damit die Netzanschlusskunden, sind somit eine „lokale Sackgasse“ für die Netzkosten der Energiewende. Das erklärt, warum die Verteilnetzentgelte oftmals dort besonders hoch sind, wo der Ausbau der Erneuerbaren bereits weit vorangeschritten ist. Besonderes Engagement und überdurchschnittliche Beiträge zum Erreichen der gesamtgesellschaftlichen Ziele werden damit regional bestraft. Dies führt zunehmend zu Akzeptanzproblemen beim weiteren Ausbau von Erneuerbaren und der dafür erforderlichen Netzinfrastruktur. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir, dass die Bundesnetzagentur (BNetzA) die regionalen Belastungen in den Blick nimmt und kürzlich mit einem Eckpunktepapier ein Verfahren für eine gerechtere Verteilung EE-bedingter Mehrkosten der Netzbetreiber angeschoben hat. Anknüpfend an dieses Verfahren müssen perspektivisch auch die Belastungen der Netzbetreiber diskutiert werden, die sich aus der weiteren Elektrifizierung z.B. des Wärme- und Verkehrssektors ergeben.

EWE hat seine Wurzeln in Deutschlands Schlüsselregion für die Energiewende. Zwischen Ems und Elbe findet sich eine seltene Kombination aus Erneuerbaren Energien in Hülle und Fülle, engmaschiger Leitungsinfrastruktur, großen Gasspeichern, leistungsfähigen Häfen, einer exzellenten Forschungslandschaft und ambitionierten Unternehmen mit erfahrenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die für den Erfolg von Energiewende und Transformation des Energiesystems erforderlich sind. Gemeinsam mit starken regionalen Partnern haben wir daher „Powerhouse Nord“, eine breite gesellschaftliche Allianz aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Sozialpartnern, ins Leben gerufen. Unter diesem Dach werden wir künftig aktiv den Schulterschluss mit allen Akteuren suchen, die konstruktiv an intelligenten Lösungen für eine klimaneutrale Zukunft arbeiten, um die Grundlagen von künftigem Fortschritt, Lebensqualität und Wohlstand zu sichern.

 

Stefan Dohler