Denke ich an die Vision einer Kreislaufwirtschaft in Deutschland, dann frage ich mich oft: Wie viele Signale brauchen wir noch? Kaum ein Tag vergeht, an dem ich in den Nachrichten nicht von neuen Studien zu Ressourcenmangel, Klimaschäden und Abfallproblemen lese. Und gleichzeitig scheint der Wandel zu einem ressourcenschonenden und emissionsarmen Wirtschaftssystem steiniger denn je.
Das macht mich nachdenklich. Denn eins ist unmissverständlich klar: Wir müssen handeln. Und zwar jetzt. Warum gerät die Transformation zu einer Kreislaufwirtschaft und klimaneutraler Produktion dann ins Stocken?
Fakt ist: Die meisten Wirtschaftsbranchen haben den Weckruf längst gehört und treiben die Transformation konsequent und voller Überzeugung voran. Ganz vorn mit dabei: die chemische Industrie, Mutter der Industrie in Deutschland, drittgrößte Branche des Landes und eines der ersten Glieder in der Wertschöpfungskette. Auch im vergangenen Jahr verging kaum eine Woche, in der deutsche Chemieunternehmen nicht Erfolgsnachrichten und Meilensteine auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft verkünden konnten. Die Branche hat 2023 sogar drei neue Szenarien für eine klimaneutrale Produktion in Deutschland ab 2045 präsentiert – also fünf Jahre eher als ursprünglich geplant. Das beweist, wie hart sie an diesem Jahrhundertprojekt arbeitet. Trotz aller Herausforderungen und der andauernden globalen Nachfrageflaute.
Auch Covestro hat sich längst dazu bekannt, diesen Wandel aktiv mitzugestalten und arbeitet konsequent an seinem Ziel, spätestens ab 2035 klimaneutral zu produzieren. Ein ehrgeiziges Vorhaben. Doch das Unternehmen geht unbeirrt seinen Weg und hat erst kürzlich wieder einen Großliefervertrag für erneuerbaren Strom abgeschlossen. Mit RWE. So erhöht Covestro den Anteil an erneuerbarem Strom für den Standort Antwerpen ab 2026 von 45 auf 60 Prozent des derzeitigen Bedarfs.
Die Versorgung mit erneuerbarer Energie ist ein wichtiger Pfeiler, um die Kreislaufwirtschaft zu verwirklichen. Schon 2019 hat Covestro deshalb in Deutschland mit Ørsted den seinerzeit weltweit größten Liefervertrag für Offshore-Windenergie abgeschlossen. Ab 2025 liefert Ørsted für die nächsten zehn Jahre 100 Megawatt jährlich an die Produktionsstandorte. Weitere 63 Megawatt Grünstrom erhält Covestro von EnBW aus Deutschlands größtem Solarpark. Bis 2025 stammen so zehn Prozent der Energie für die deutschen Standorte aus erneuerbaren Quellen. 2026 sollen es schon 18 bis 20 Prozent sein.
Neben dem Einkauf erneuerbarer Energie müssen Chemieunternehmen in Deutschland auch ihre Prozesstechnik modernisieren, um Emissionen beim Herstellungsprozess zu verringern. Dazu hat Covestro schon vor Jahren ein globales Energiemanagement eingeführt. Das Ergebnis: 2022 lag der Energiebedarf pro Tonne produzierten Produktes um fast 40 Prozent niedriger als noch 2005. Parallel arbeitet das Unternehmen an der Entwicklung biobasierter Rohstoffe und Recyclingmethoden und hat vor kurzem in Leverkusen die weltweit erste Pilotanlage zur Herstellung eines biobasierten Anilins einweihen können.
All das macht deutlich: Die Industrie handelt. Doch innovative Entwicklungen kosten Geld. Zahlt sich das aus? Kann die Wirtschaft Ressourcen schonen, Emissionen vermeiden – und gleichzeitig leistungsfähig bleiben? Ja! Ökologische wie ökonomische Ziele zu erreichen, ist sicherlich eine gigantische Herausforderung. Doch es ist machbar, davon bin ich überzeugt. Und nicht nur ich. Erst Anfang Februar hat Bundeskanzler Scholz beim vierten Treffen der Allianz für Transformation bekräftigt, eine Nationale Kreislaufwirtschafts-Strategie auf den Weg zu bringen. Ein Zeichen, dass auch die Politik die Transformation als Treiber für einen starken Wirtschaftsstandort Deutschland erkannt hat. Kreislaufwirtschaft schont nicht nur Ressourcen, sondern kann auch Wachstum schaffen: Sollten wir eine Vorreiterrolle bei Forschung, Technologie und industriellem Know-how einnehmen, könnte dies laut Studien eine zusätzliche Bruttowertschöpfung von bis zu zwölf Milliarden Euro sowie 177.000 Arbeitsplätze hierzulande schaffen1.
Alle Argumente sprechen für die Transformation zur Kreislaufwirtschaft. Ökologische wie ökonomische. Sie ist das einzige tragfähige Modell für eine nachhaltige Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland.
Die chemische Industrie hat diesen Wandel deshalb bisher mit aller Kraft vorangetrieben. Doch mittlerweile stellt sich mir die Frage: Wie soll sie das allein noch länger schaffen? Kreislaufwirtschaft zu verwirklichen, ist eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung, eine gigantische Umwälzung. Das geht nur, wenn alle an einem Strang ziehen und die richtigen Rahmenbedingungen schaffen. Hier sind Industrie, Politik und Gesellschaft gleichermaßen gefordert.
Die schleppenden Genehmigungsverfahren, hohen Energiepreise, der langsame Ausbau erneuerbarer Energie und eine Zurückhaltung gegenüber innovativen Technologien bremsen die Transformation aus.
Wir stecken mitten im Wandel – nun bleiben wir im Wandel stecken!
Was die Industrie in Deutschland jetzt mehr denn je braucht ist: Planungssicherheit. Nur dann kann sie dringend notwendige Entscheidungen für langfristige Investitionen in Deutschland tätigen. Investitionen in energieeffizientere Anlagen, in nachhaltige Produktentwicklungen und in emissionsarme Prozesstechnik – alles wichtige Schritte auf dem Weg zu einer Kreislaufwirtschaft und klimaneutraler Produktion.
Damit Unternehmen solche Investitionen tätigen und Wandel gestalten können, muss die Politik die richtigen Rahmenbedingungen schaffen. Dazu gehören: eine substanzielle Entlastung bei den Energiekosten, um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts im globalen Vergleich zu erhalten. Ein beschleunigter Ausbau erneuerbarer Energien, um Versorgungssicherheit zu schaffen. Eine Offenheit für neue Technologien, welche den Weg in eine nachhaltige Zukunft ebnen können. Und schlanke Genehmigungsverfahren, um innovative Entwicklungen schneller einsetzen zu können.
Wenn wir das jetzt versäumen, verschlafen wir die Chance auf eine nachhaltige Zukunft – und stellen den Wirtschaftsstandort Deutschland grundsätzlich in Frage. Was dann droht ist nichts weniger als eine schleichende Deindustrialisierung Deutschlands, der Verlust von Technologie-Knowhow und die Abhängigkeit von Importen.
Das Jahr 2024 ist also ein Jahr der Entscheidung: Wollen wir den Wandel? Dann müssen wir jetzt handeln. Diesen Weg können wir nur gemeinsam gehen: Industrie, Politik und Gesellschaft.
Dr. Thorsten Dreier