Um die Amerikaner an Bord zu halten ist die Europäisierung der NATO imperativ
Zum 75. Jahrestag der Atlantischen Allianz ist der berühmte Ausspruch zur Räson des Militärbündnisses vom ersten Generalsekretär der NATO, Lord Ismay, so aktuell wie eh und jeh: „to keep the Americans in, the Russians out, and the Germans down“. Allerdings mit nicht unwichtigen Klarstellungen: ein nennenswerter NATO-Beitrag der Amerikaner wird in Zukunft nur zu haben sein, wenn die Europäer in absehbarer Zeit mindestens 60% der Lasten des Bündnisses zu tragen bereit sind. Das wiederum heißt: Auf Deutschland als größtem und finanzstärkstem Land in der NATO kommt eine Hauptlast zu, um die Allianz zusammenzuhalten. Das erwarten alle NATO-Partner, zumal Berlin in den letzten 25 Jahre seine Sicherheit den anderen NATO-Ländern „überließ“ und damit Milliarden einsparte: Nie hat es das NATO-Beitrags-Ziel von 2% eingehalten. Die neue NATO-Generalsekretärin wird daher den berühmten Spruch Lord Ismays möglicherweise so aktualisieren: „um die Amerikaner an Bord zu halten und den Russen nicht den Gefallen zu tun, dass die Allianz auseinanderbricht, werden die Deutschen eine führende Verteidigungsrolle innerhalb der NATO übernehmen müssen.”
Die Lage in Europa ist so ernst wie noch nie in den letzten 75 Jahren. Das neo-imperiale und revanchistische Gebaren des russischen Präsidenten, immer wieder gespickt mit Nukleardrohungen, macht deutlich, dass es ihm nicht nur um die Eroberung ukrainischen Gebiets geht. Das ist nur der Anfang. Tatsächlich führt er seit dem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine vor allem einen Rachefeldzug gegen den verhassten Westen. Putins Vorwurf, dass der Westen Russland in den letzten 30 Jahren immer wieder gedemütigt habe, ist altbekannt. Neu ist, dass er sich heute für militärisch stark genug hält, den Sicherheitsverbund zwischen Europäern und Amerikanern zu brechen. Putin will wissen, ob Art. 5 des NATO-Vertrages, also das militärische Versprechen bei Angriff eines Landes kollektiv füreinander einzustehen, noch gilt. Zunächst scheint jetzt ein weiteres Nicht-NATO-Land in Gefahr zu sein: Moldau. Dem Ziel dienen die vom Kreml initiierten Hilferufe der russischen Separatisten aus dem abtrünnigen Transnistrien. Odessa, die den Land-Zugang zu Moldawien ermöglicht, ist daher jetzt besonders in Gefahr. Putin geht davon aus, dass der Westen auch hier nicht einschreiten würde, da er mit der Hilfe für die Ukraine bereits an seine Grenzen stößt.
Und dann, sofern Donald Trump erneut Präsident wird? Und Moskau dann morgen vielleicht seine Aggression über die Ukraine hinaus ausweitet und das Baltikum angreift, um zu sehen, ob Art.5 greift – wird ein Präsident Trump den Balten beistehen? Das könnte für die Allianz die Stunde der Wahrheit werden.
Bereits mit der Aussicht auf solch einen Moment, ist für Europa der Punkt erreicht, wo es entscheiden muss, ob es bereit ist, Putins Rachefeldzug mehr oder weniger auf sich allein gestellt zu stoppen. Denn da sich das militärische Engagement Washingtons, ganz gleich wer im Weißen Haus regiert, aufgrund Chinas zunehmender Militärmacht in Asien verstärken und innerhalb der NATO reduzieren wird: Was ist dann zu tun?
Erstens: Die Zeitenwende gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa und die Atlantische Allianz. Zu ihrem 75. Jahrestag sollten wir uns vergewissern: ohne die NATO hätten wir (West-)Europäer die letzten sieben Jahrzehnte nicht in Frieden und Freiheit leben können. Und so muß auch unser wichtigstes Ziel bleiben, unsere militärische Sicherheit auch in Zukunft durch die NATO zu gewährleisten. Eine andere Sicherheitsgarantie haben wir nicht! Aufgrund der zunehmenden militärischen Konzentration der Amerikaner auf den Indo-Pazifischen Raum ist eine Europäisierung der NATO für unsere Sicherheit imperativ geworden.
Das bedeutet konkret, dass alle 32 Mitgliedsstaaten in naher Zukunft dafür Sorge tragen müssen, die konventionelle Aufrüstung der NATO-Streitkräfte zu Land, zur Luft und zur See mit entsprechenden Fähigkeiten so aufzustellen, dass ein potentieller Aggressor – für absehbare Zeit bleibt es Vladimir Putin – glaubhaft abgeschreckt wird. Für die Beschaffung der benötigten Fähigkeiten sollten keine Länder-Restriktionen gelten, denn die Zeit drängt. Die Großen in der NATO werden mehr schultern müssen als die kleineren Länder. Was Berlin angeht, so hat es im Kalten Krieg 3,5 bis 4 Prozent seines BIP für die Verteidigung aufgewandt, ohne dass dabei das Land unsozial oder militaristisch geworden wäre. Die Zukunft der Allianz wird entscheidend von der Rolle Deutschlands und seiner Bereitschaft, Verantwortung für eine signifikante Aufstockung seiner militärischen Fähigkeiten innerhalb der NATO zu übernehmen, abhängen.
Ferner sollte uns klar sein, daß wir zusätzlich zu einer konventionellen Abschreckung in Zukunft wieder taktische Nuklearwaffen auf NATO-Gebiet benötigen werden, um begrenzte russische taktische Atomwaffeneinsätze zu verhindern. Die Russen besitzen ca. 2600 taktische Nuklearwaffen wie die jüngsten Enthüllungen der Financial Times gezeigt haben, und der Einsatz von taktischen Nuklearwaffen gemäß der russischen Nuklear-Doktrin ist erschreckend niedrigschwellig. Da die Franzosen und Briten nur strategische Nuklearwaffen besitzen, und in Deutschland die Amerikaner nach dem Fall der Mauer ihre Pershings und Cruise Missiles abgezogen haben, würden sich heute aufgrund der neuen Gefahrenlage besonders Polen und Rumänien für die Stationierung amerikanischer taktischer Nuklearwaffen zur Abschreckung Moskaus empfehlen.
Nur wenn wir bereit sind, in absehbarer Zeit die konventionelle Hauptlast in der NATO zu tragen, wird es uns gelingen, die Amerikaner davon zu überzeugen, ihren Nuklearschirm über Europa weiterhin aufgespannt zu halten und auch um die benötigten taktischen Nuklearwaffen, Kurz-und Mittelstreckenraketen, zu ergänzen, um russische Nuklear-Ambitionen abzuschrecken.
Zweitens: Eine Europäisierung der NATO bedeutet auch, die innovativen europäischen militärisch-technologischen und industriellen Bereiche so zu stärken und die Beschaffungsbasis in Europa so zu harmonisieren, damit in einem worst-case-scenario die benötigten Fähigkeiten vorhanden sind. Die Europäisierung der NATO bedeutet nicht “buy only European”; sondern auch “buy American”.
Nicht nur die NATO-Streitkräfte müssen interoperable sein, sondern auch die potenziellen künftigen NATO-Mitglieder wie die Ukraine, Moldawien oder Georgien.
Drittens: Emmanuel Macron hat recht, wenn er sagt: „Die Niederlage Rußlands ist unerläßlich“. Das Ziel ist, dass Vladimir Putin es sein wird, der schließlich Verhandlungen sucht. Hier wird erneut Europa gefragt sein – wer könnte Moderator solcher Verhandlungen werden? Es sollte, angesichts der Gefahr, die Europa droht, ein Europäer sein, eine erfahrene, geschätzte Persönlichkeit, die sowohl in den USA wie auch in Russland Gehör findet, auch wenn sie harte Wahrheiten ausspricht. Um in einem solchen Moment Europas Weltpolitikfähigkeit unter Beweis zu stellen bedarf es Politikerinnen und Politikern wie zum Beispiel Bro Harlem Brundtland, Tony Blair, Jean-Claude Juncker oder Mario Draghi.
Es ist die Stunde Europas, und vor allem Berlins, sicherheitspolitisch erwachsen zu werden und sich im worst case auch ohne die Amerikaner verteidigen zu können. Aber: Wenn wir nicht dazu bereit sind, für unsere gemeinsame Sicherheit in Europa die notwendigen Aufwendungen zu leisten, dann laufen wir Gefahr, eher früher als später im Krieg mit Russland zu erwachen. Und dann wird jeder für sich und niemand für den anderen kämpfen. Das wäre das Ende der NATO. Putin hätte sein Ziel erreicht. Dass unsere Demokratien ein solches Szenario überleben, ist eher unwahrscheinlich. Wer Frieden in Unfreiheit nicht will, muss heute handeln.
Prof. Margarita Mathiopoulos ist CEO der ASPIDE Technology Gruppe und Professorin em. US-Außenpolitik u. Internationale Sicherheit an der Univ. Potsdam
Der Beitrag ist zuerst erschienen in der Tageszeitung Die Welt.