18.04.2024Geopolitik

Geleitwort von Bundesminister Dr. Robert Habeck im neuen Band “Geoeconomics – Ökonomie und Politik in der Zeitenwende”

©
iStock bluejayphoto

 

 

Anfang Mai erscheint der neue Band des Wirtschaftsforums der SPD mit dem Titel „Geoeconomics – Ökonomie und Politik in der Zeitenwende“.

Wir haben in dem Buch hochkarätige Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft versammelt, die das Wechselverhältnis zwischen Geopolitik und Geoökonomie, seine Konsequenzen für die Globalisierung und die internationale Arbeitsteilung, seine Auswirkungen auf die Triade USA-China-Europa, die Herausforderungen für den europäischen und deutschen Wirtschaftsstandort, die Renaissance von Industriepolitik und Protektionismus und die Notwendigkeit von Reformen internationaler Institutionen analysieren.

In dem Buch erscheinen Texte u.a. von Kerstin Andreae, Peter Bofinger, Franziska Brantner, Sebastian Dullien, Christian Dürr, Corinna Enders, Gabriel Felbermayr, Clemens Fuest, Robert Habeck, Christoph Heusgen, Jörg Kukies, Simone Menne, Stormy-Annika Mildner, Hildegard Müller, Rolf Mützenich, Omid Nouripour, Anke Rehlinger, Siegfried Russwurm, Thorsten Schäfer-Gümbel, Svenja Schulze und Daniela Schwarzer.

Hier können Sie das Buch vorbestellen.

Heute erscheint im Blog exklusiv vorab das Geleitwort von Bundesminister Dr. Robert Habeck.

 


 

Es herrscht Krieg auf dem europäischen Kontinent. Es herrscht Krieg im Nahen Osten. Menschen sterben, Staaten werden angegriffen, Grenzen gewaltsam verschoben, die Vorstellung einer friedlich kooperierenden Weltgemeinschaft ist in weite Ferne gerückt. Ohne Frage: Die Welt ist unsicherer geworden in den letzten Jahren. Das, was für uns die bisherige Weltordnung war, ist einer beunruhigenden Unordnung gewichen. Und die Auswirkungen dieser neuen Unordnung spüren wir zunehmend auch bei uns in Deutschland.

Das gilt insbesondere ökonomisch. Wir erleben derzeit eine grundlegende Veränderung der internationalen Wirtschaftsordnung. Die letzten Jahrzehnte waren bestimmt von einer marktdominierten, aber zugleich regelgeprägten Globalisierung. Waren und Kapital sollten sich möglichst frei durch die Welt bewegen, Hürden wurden massiv abgebaut und starke Institutionen wie die WTO geschaffen, die verhindern sollten, dass neue Hürden entstehen. Diese Form der Globalisierung wurde wegen ihrer sozialen und ökologischen blinden Flecken zurecht kritisiert. Die preis- und wachstumsorientierte Hyperglobalisierung hat ihre Schattenseiten. Teils unsägliche Arbeitsbedingungen, die Abholzung von Wäldern, Ausbeutung von seltenen Rohstoffen, sind die Kosten, mit denen unser Wachstum von anderen bezahlt wurde. Zugleich muss man aber feststellen, dass die Globalisierung der Welt insgesamt Wohlstand gebracht hat. Die Zahlen zeigen: Weniger Menschen als früher leiden Hunger und leben in Armut, mehr Menschen haben Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung. Einige der früher so genannten Entwicklungsländer sind zu ökonomischen Großmächten geworden, haben eine eigene Mittelschicht. Bei aller Notwendigkeit, die Globalisierung fairer und nachhaltiger zu machen, die wirtschaftlichen Beziehungen gleichberechtigter zu organisieren – es ist unstreitig: Insgesamt hat die Globalisierung der letzten Jahrzehnte die Welt, hat Europa und nicht zuletzt Deutschland als Exportnation wohlhabender gemacht.

Es ist daher keine gute Nachricht, dass geopolitische Aspekte in den letzten Jahren mit voller Wucht in die Wirtschaftspolitik zurückgekehrt sind. Die dadurch drohende ökonomische Fragmentierung würde zu handfesten Wohlstandsverlusten führen. Nicht nur bei uns.

Aber den Kopf in den Sand zu stecken, um nicht sehen zu müssen, was man nicht sehen will, ist keine Option mehr. Wir müssen die sich verschärfende geopolitische Konfliktlage anerkennen und entsprechende wirtschaftspolitische Schlüsse daraus ziehen. Drei Entwicklungen spielen dabei aus meiner Sicht eine besondere Rolle und ziehen sich auch durch zahlreiche Beiträge dieses Buchs:

1.) Einzelne Länder streben mittels einer strategischen Technologie- und Industriepolitik zunehmend danach, die eigene Machtposition im geoökonomischen Gefüge zu verbessern. So verfolgt insbesondere China eine Industriepolitik, die systematisch darauf abzielt, Technologieführerschaft zu erreichen und Wettbewerber aus dem Markt zu verdrängen. Die Industriestrategie »Made in China 2025« zum Beispiel identifiziert zehn strategisch relevante Technologiebereiche der Wirtschaft, in denen China bis 2025 eine internationale Spitzenstellung mit Dominanz auf heimischen und globalen Märkten einnehmen und über ein hohes Maß an wirtschaftlicher und technologischer Autarkie verfügen will. Hierzu werden insbesondere Zielgrößen für die heimischen Marktanteile chinesischer Unternehmen festgelegt und großzügige Subventionen bereitgestellt, die den Wettbewerb mitunter stark verzerren. Dies wird ergänzt um das Bemühen, gezielt eigene globale Netzwerke und Abhängigkeiten zu schaffen (»one belt, one road«).

2.) Zentral dabei: Diese Strategien sind nicht nur ökonomisch, sondern ausdrücklich außen- und sicherheitspolitisch gedacht. Sie fallen zusammen mit einer expansiveren Ausrichtung autokratischer Regime und damit einhergehend mit einer Verschärfung der Konflikte mit dem Westen. Diese Realität ist spätestens mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine über Deutschland hereingebrochen. In dieser neuen Realität erleben wir auch eine »weaponisation of trade«. Während im Kalten Krieg der Gasfluss nach Europa nie unterbrochen wurde, geschah genau dies im Jahr 2022.

3.) Als Reaktion sowohl auf diese verschärften geopolitischen als auch auf innergesellschaftliche Konflikte erleben wir nicht zuletzt eine veränderte Wirtschaftspolitik unseres wichtigsten und engsten Partners, der USA. Zum einen betreiben die USA eine gezielte und konsequente Politik des De-Risking gegenüber China. Zum anderen stärken die USA sehr gezielt die eigene Industrie. Der 2022 beschlossene US Inflation Reduction Act (IRA) ist ein wichtiger Beitrag der USA zum Klimaschutz – einem gemeinsamen transatlantischen Ziel. Aber zugleich ist der IRA zusammen mit weiteren Impulsen wie dem CHIPS & Science Act und dem Infrastructure Investment and Jobs Act eine große industriepolitische Herausforderung für Deutschland und die EU. Förderprogramme existieren zwar jenseits wie diesseits des Atlantiks. Mit den massiven Impulsen der US-Regierung drohen die Wettbewerbsbedingungen bei wichtigen Zukunftstechnologien aber in eine Schieflage zu geraten – zu Ungunsten Europas und Deutschlands.

Deutschland hat – von der Politik über Verbände bis zu vielen Unternehmen – diese sich verändernde Realität lange nicht wahrnehmen wollen und nicht erkannt, welche Risiken daraus gerade für uns als Exportnation erwachsen. Deutschlands Erfolg gründet auf starken Betrieben, Innovationskraft, Know-how und exzellent ausgebildeten Menschen. Ihm lagen aber auch drei Prämissen zugrunde, die sich spätestens seit der russischen Invasion in die Ukraine als gefährliche Fehlkalkulation erwiesen haben: Russland liefert günstiges Gas, China (und insgesamt der Weltmarkt) kaufen unsere Maschinen und Autos, die USA sichern unsere Verteidigung. Diese Prämissen sind weggebrochen – und wir müssen neue errichten. Das ist die Zeitenwende in der Wirtschaftspolitik.

Die gute Nachricht ist: Demokratien können besser und schneller aus ihren Fehlern lernen als Autokratien. Marktwirtschaftliche Systeme haben die Kraft, sich anzupassen, sich neu zu erfinden. Und unserer sozialen Marktwirtschaft ist es immer wieder gelungen, dies ohne tiefe soziale Verwerfungen zu schaffen.

Wir haben die Kraft, uns zu korrigieren. Und das tun wir. Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern hat Deutschland auf die veränderte geopolitische Lage insbesondere in Folge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und im Angesicht der hohen Abhängigkeit von China reagiert. Nicht nur, aber auch wirtschaftspolitisch. Wirtschaftssicherheit ist zur neuen Priorität unserer Industrie- und Wirtschaftspolitik geworden. Das ist durchaus eine Gratwanderung: Einerseits müssen wir die Errungenschaften der Globalisierung so gut es geht verteidigen, weiterhin darauf bestehen, dass eine globalisierte Wirtschaft global geltende, faire Regeln braucht, und uns für diese einsetzen. Andererseits müssen wir realistisch sein und uns auf die neuen geopolitischen und geoökonomischen Begebenheiten einstellen.

Das bedeutet zunächst, unsere eigene ökonomische Kraft zu stärken. Deutschland und Europa entwickeln sich derzeit ökonomisch nicht dynamisch genug. Wir haben weiter exzellente, leistungsfähige Betriebe – von kleinen mittelständischen Firmen bis hin zu Großkonzernen. Wir können stolz sein auf unsere soziale Marktwirtschaft mit ihrem Sozialstaat, aber wir sehen eine Innovations- und Wachstumsschwäche. Trotz vieler Anstrengungen und Erfolge der aktuellen Regierung haben wir noch immer einen Reform- und Investitionsstau. Gleichzeitig bedroht die Polarisierung im Inneren die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie. Wir müssen deshalb weiterhin die Entschlossenheit und die Kompromissbereitschaft aufbringen, unsere Wirtschaft zu dynamisieren, Innovationen zu entfesseln, Leistungsbereitschaft zu stärken. Wir leben in Zeiten, die Handeln und Pragmatismus erfordern.

Wir müssen zugleich wachsamer sein und unsere Rohstoffbeziehungen, Lieferketten und Absatzmärkte diversifizieren. Gefährliche Abhängigkeiten bauen wir ab, Handelsbeziehungen diversifizieren wir – und intensivieren sie mit Verbündeten. Ein Prozess, der nicht von heute auf morgen abgeschlossen sein wird, der nur Schritt für Schritt und im Zusammenspiel von Politik und Wirtschaftsunternehmen geht. Gleichzeitig richten wir unsere außenwirtschaftspolitischen Instrumente neu aus und schauen genauer hin, wer hier investieren will und wohin deutsche Technologie abfließen könnte.

Sich auf die neuen Begebenheiten einzustellen, bedeutet aber auch, dass wir strategisch wichtige Industrien in Europa halten, verloren gegangene zurückholen und neue Schlüsselindustrien ansiedeln. Autarkie wäre dabei das falsche Ziel. Wir wollen weiterhin eine offene Volkswirtschaft und Handelsnation sein. Notwendig ist aber, dass wir im Netzwerk mit unseren engsten Verbündeten und insbesondere innerhalb der EU über Kompetenzen und Produktionskapazitäten verfügen. Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass der globale Austausch von Gütern in Zukunft reibungslos, ohne Hürden und ausschließlich nach Kriterien der ökonomischen Effizienz funktioniert. Daher sind wir darauf angewiesen, Know-how und Produktionsmöglichkeiten in Deutschland und Europa zu halten, so dass wir im Ernstfall hochskalieren können. Das gilt in der Zeitenwende natürlich zuallererst für die Rüstungsindustrie: Wir müssen in Europa in der Lage sein, relevante Anteile unseres Bedarfs an Rüstungsgütern und des Bedarfs unserer engsten Verbündeten selbst zu decken. Dafür sollten wir auch Schritte zu einer weiteren Konsolidierung des europäischen Sicherheits- und Verteidigungssektors in Angriff nehmen.

Die Notwendigkeit für eigene Produktionskapazitäten gilt aber auch für Halbleiter als unverzichtbare Basis der modernen Industrieproduktion und für zentrale Technologien für die Energiewende und die Dekarbonisierung der Industrie. Dafür setzen wir stärker auf Resilienzkriterien in öffentlichen Ausschreibungen und achten darauf, dass bei öffentlichen Förderungen die europäische Wertschöpfungskette gestärkt wird. Wegen der massiven Subventionierung in anderen Teilen der Welt hat sich die Bundesregierung aber auch für direkte Förderung bei der Ansiedlung und dem Aufbau von Produktionskapazitäten entschieden.

Das alles kostet zwangsläufig Geld. Wirtschaftssicherheit hat ihren Preis – so wie es die klassische Sicherheitspolitik auch hat. Wenn wir es schaffen, neue wirtschaftliche Dynamik zu entfesseln, dann wird dieser Weg einfacher. Zur Wahrheit gehört aber auch: unsere fiskalischen Regeln passen nicht mehr in die neue Zeit. Wir können und sollten uns mit unseren soliden Staatsfinanzen in dieser herausfordernden Übergangszeit mehr Spielräume für Investitionen schaffen.

Denn: Auf eine Stärkung unserer Wirtschaftssicherheit zu verzichten, würde uns noch viel teurer zu stehen kommen. Das machte uns verletzlicher, abhängiger und im Krisenfall kostet es enorm viel. Das haben wir schmerzlich durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die Folgen für die Energieversorgung und Energiepreise zu spüren bekommen. Auch die Unterbrechung der Lieferketten während der Pandemie und die daraus folgenden enormen Kosten für die Weltwirtschaft waren hierfür schon ein Indiz. Wir leben in Zeiten des Umbruchs. Alte Gewissheiten und Ordnungen tragen nicht mehr, die Umrisse des Neuen, das entsteht, können wir höchstens erahnen. Wir werden mit Unsicherheit leben lernen und gleichzeitig an unserer eigenen Stärke und der Europas arbeiten müssen. Es gilt, Verantwortung für unsere Sicherheit in einem umfassenden Sinne übernehmen. Vor diesen Hintergrund sind die klugen Analysen, Diagnosen und Thesen von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Politik, wie sie dieses Buch versammelt, besonders wertvoll. Sie geben Denkanstöße und schärfen den Blick.

Ich wünsche uns allen eine erkenntnisreiche Lektüre.