Dezentrale Flexibilität: Elektroautos und Wärmepumpen für das Stromnetz der Zukunft

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Im April 2024 beherrschte Elektro-Angst kurzzeitig die Schlagzeilen in Deutschland. „Einer Stadt geht der Strom aus“, hieß es über einen Netz-Engpass im brandenburgischen Oranienburg unter anderem. Von einem „Wärmepumpen-Kollaps“ und von „Strom-Alarm“ war die Rede. Was war passiert? Die schnell wachsende Stadt nördlich von Berlin hatte angekündigt, wegen massiver Auslastung vorerst keine neuen Wärmepumpen und Wallboxen mehr anzuschließen. Ende April dann die Entwarnung: Neuanschlüsse würden ab Mai wieder möglich sein. Dank kurzfristig erhöhter Kapazitäten im Umspannwerk. Die Stadt Oranienburg räumte indes Versäumnisse in der Versorgungsplanung der vergangenen Jahre ein.

Der Fall lenkt das Licht auf ein sehr viel größeres Thema: Das Verteilnetz steht durch den Anschluss vieler dezentraler Erzeugungsanlagen wie Photovoltaik sowie neuer Verbraucher wie Wärmepumpen oder Ladestationen für E-Autos vor enormen Herausforderungen. Doch es gibt auch gute Nachrichten: Wenn wir all diese Anlagen „systemdienlich“ betreiben, wirken wir einer Überlastung von Netzen und damit auch der Gefahr verwehrter Hausanschlüsse entgegen. Tatsächlich entlasten intelligent betriebene Wärmepumpen und andere dezentrale Anlagen das Verteilnetz in Deutschland, in dem die ausgelasteten Netze oft mit Preisspitzen einhergehen. So dämpfen sie den sonst noch massiveren Netzausbaubedarf. Dazu kommt: Ihr intelligenter Betrieb rechnet sich. Für jeden Einzelnen. Und für die Allgemeinheit. Zu diesem Ergebnis kommt eine vom ZVEI beauftragte Studie von Lion Hirth und seinem Beratungsunternehmen Neon Neue Energieökonomik.

Klären wir zunächst einmal die Begrifflichkeiten. Was bedeutet „systemdienlich“? Hier lautet das Zauberwort Flexibilität. Stellen wir uns zwei Haushalte vor. Herr Westermeier wohnt in Haus A. Seine Wärmepumpe läuft ungeregelt vor sich hin. Frau Mustermann wohnt nebenan in Haus B. Ihre Wärmepumpe springt immer dann an, wenn der Strom besonders günstig ist. Auch dann, wenn die Wärme gerade nicht benötigt wird, zum Beispiel um die Mittagszeit im Frühjahr. Dann wird der Wärmespeicher für später befüllt. Frau Mustermanns Wärmepumpe in Haus B fährt außerdem herunter, wenn das Netz besonders strapaziert ist. Dieses wird dadurch entlastet. Unterm Strich zahlt Frau Mustermann weniger für den Betrieb ihrer Wärmepumpe als Nachbar Westermeier. Kurzum: Sie betreibt die Wärmepumpe dank eines dynamischen Stromtarifs und zeitvariabler Netzentgelte „systemdienlich“.

Zurück zur Studie. Wir haben uns gefragt: Wie hoch sind die volkswirtschaftlichen Kosten, wenn wir unsere Stromnetze weiter so dumm wie bisher betreiben? Wie können wir mit Digitalisierung und Intelligenz Kosten sparen? Abhängig vom Anwendungsfall können die Stromsystemkosten beim E-Auto laut der Studie durch flexibles Laden an der heimischen Wallbox um bis zu 70 Prozent (grob 180 Euro pro Jahr) sinken – ohne Komforteinbußen und ohne Zusatzinvestitionen. Bei intelligent betriebenen Wärmepumpen liegt die Ersparnis bei bis zu knapp 25 Prozent (350 Euro pro Jahr). Elektroautos sind fast dreimal so flexibel wie Wärmepumpen. Weil eine Wärmepumpe in der Regel jedoch deutlich mehr Strom verbraucht als ein E-Auto, ist die absolute Kostenersparnis bei dieser höher. Um ein Bild zu zeichnen: Würde man die genannten Zahlen auf eine Million E-Autos hochrechnen, könnte das eine gesellschaftliche Kostenersparnis von mindestens 180 Millionen Euro pro Jahr bedeuten, für eine Million Wärmepumpen sogar knapp 350 Millionen Euro pro Jahr. Auch auf der Stromrechnung privater Haushalte kann sich der Einsatz von Flexibilitäten bemerkbar machen: Bei Wärmepumpen mit bis zu knapp 20 Prozent, bei E-Autos mit fast 60 Prozent geringeren Kosten. Anders ausgedrückt: Flexible Tarife bringen Entlastung für System und Stromrechnung, also für Gesellschaft und privaten Haushalt. Auch Herr Westermeier profitiert also, wenn Frau Mustermann ihre Wärmepumpe intelligent betreibt.

Um diese gewaltigen Potenziale zu heben, müssen wir jedoch die richtigen technischen Voraussetzungen schaffen. Es bedarf der richtigen Rahmenbedingungen und Anreize. Der flächendeckende Rollout intelligenter Messsysteme muss – auch mit politischer Unterstützung – schnellstmöglich vorangehen. Denn diese sind die technologische Voraussetzung, damit dynamische Tarife und zeitvariable Netzentgelte überhaupt eingesetzt werden und ihre entlastende Wirkung entfalten können. Über Preissignale angereizte Verbrauchsanpassungen sind dabei in ihrer Breitenwirkung zielführender als steuernde Eingriffe, etwa durch den Netzbetreiber, und sollten daher vorrangig zum Einsatz kommen. Aus Akzeptanz- und sozialen Gründen sollten Verträge mit dynamischen Stromtarifen über ein Absicherungsinstrument verfügen, das Anreize zum Energiesparen setzt, aber gleichzeitig Preissicherheit für Verbraucherinnen und Verbraucher bietet.

Ohne die Flexibilisierung dezentraler Stromverbraucher würden unsere Stromnetze in Deutschland trotz Ausbau den steigenden Strombedarf nicht volkswirtschaftlich sinnvoll stemmen können, die Systemkosten würden noch viel erheblicher anwachsen. Die Bundesregierung will bis 2030 insgesamt 15 Millionen E-Fahrzeuge auf den Straßen und 6 Millionen Wärmepumpen in den Gebäuden sehen. Die Anschlussleistung von Wärmepumpen, Elektroautos und Heimspeichern in Haushalten wird sich so schätzungsweise innerhalb eines Jahrzehnts verzehnfachen: von etwa 20 GW im Jahr 2020 auf über 200 GW im Jahr 2030. Für die angestrebte Klimaneutralität werden eines Tages grob 500 GW dieser dezentralen flexiblen Verbraucher angeschlossen sein. Während die Anschlussleistung von Wärmepumpen, Elektroautos und Heimspeichern 2020 nur etwa einem Viertel der Erzeugungskapazität flexibler Kraftwerke (z.B. Gas, Kohle) entspricht, dürfte sie damit bereits im Jahr 2030 die flexible Kraftwerksleistung fast um den Faktor drei übersteigen und bis zur Klimaneutralität auf mehr als das Sechsfache anwachsen.

Diese Zukunft im Blick, belegt unsere Studie nun: Ein flexibler Verbrauch kann und muss dazu beitragen, das Stromnetz in Deutschland, insbesondere das Verteilnetz, so effizient wie möglich Energiewende-fähig zu machen und Leistungslücken zu vermeiden. Dazu passt das Ergebnis einer kürzlich veröffentlichten Studie der Internationalen Energieagentur IEA unter Beteiligung zweier Fraunhofer-Institute aus Deutschland. Hier zeigte sich ebenfalls, dass der smarte Betrieb von Wärmepumpen Lastspitzen im Netz reduzieren und so signifikant zu einer Flexibilisierung des Stromnetzes beitragen kann. Untersucht wurde der Betrieb an 28 Standorten in Dänemark, Schweden, Österreich, den Niederlanden und Deutschland.

Die Energieversorgung der Zukunft wird und muss zum Großteil aus Strom aus erneuerbaren Energien bestehen – bis zur Klimaneutralität zu 90 Prozent. Dadurch verdoppelt sich der Strombedarf in der Zeit auf grob 1000 TWh durch die immer weitergehende Elektrifizierung und Digitalisierung unseres Alltags – während übrigens der Primärenergiebedarf massiv sinken wird. Denn die Elektrifizierung sorgt für gigantische Energieeffizienzgewinne. Um dabei die Versorgungssicherheit beim Strom zu gewährleisten, muss also neben dem stetigen Ausbau der erneuerbaren Energien die Transportinfrastruktur mitziehen: Ein starkes, ausgebautes und digitalisiertes Stromnetz ist nötig, das die volatile Stromproduktion ausgleichen und gleichzeitig den steigenden Bezug stemmen kann. Eine nachhaltige Industriegesellschaft braucht das richtige Netz. Das Klimaneutralitätsnetz. Der Weg dorthin ist eine Transformation „am offenen Herzen“ – also im laufenden Betrieb – und eine Mammutaufgabe.

Nachfrageflexibilitäten ins Stromsystem einzubinden, ob in der Industrie oder in privaten Haushalten, kann auf diesem Weg dazu beitragen, die Versorgungs- und Systemsicherheit auch zukünftig aufrechtzuerhalten. Es bietet enormes Potenzial für einen sicheren und kosteneffizienten Betrieb des Stromsystems. Dabei sollten wir den positiven Beitrag zur Akzeptanz der Energiewende nicht vergessen, wenn Verbraucherinnen und Verbraucher bei flexibler Nutzung von Wärmepumpen und Co nicht nur individuelle, sondern auch gemeinschaftliche Einsparungen erzielen und so die Energiewende für alle Verbraucherinnen und Verbraucher in greifbare Nähe rücken.

Welche Lehren ziehen wir aus unserer Flex-Studie? Wärmepumpen, E-Autos und Heimspeicher sollten im Einklang mit Verbraucherinteressen künftig systemdienlich betrieben werden. Denn die Flexibilisierung der Stromverbräuche bietet riesige Chancen – nicht nur für Endverbraucherinnen und Endverbraucher. Sie senkt sowohl die Auslastung der Netze als auch die finanzielle Belastung für die Gemeinschaft. Stupides Laden eines E-Autos, wie wir es bisher kennen, verursacht mehr als dreimal so hohe Kosten im Energiesystem wie ein intelligent geladenes Auto. Flexible Verbraucherinnen und Verbraucher können einen eminent wichtigen Beitrag für Versorgungssicherheit und Kostenreduktion sowohl für private Verbraucher als auch für das Gesamtsystem leisten. Die Sorge, durch dezentrale flexible Verbraucher wie Wärmepumpen neue Lastspitzen zu produzieren, ist in naher Zukunft vielfach unbegründet. Wir sollten schnell und entschlossen handeln. Das ist das beste Mittel gegen Elektro-Angst.

Zur Methodik: Die Studie der Neon Neue Energieökonomik im Auftrag des ZVEI simulierte stundenscharf die Optimierung des Betriebs dreier typischer Anlagen – Wärmepumpe, Elektroauto, Heimspeicher. Diese passten ihr Verbrauchsverhalten orientiert am Preissignal in drei unterschiedlichen Tarifen an – Festpreis (Status quo), Halb-Flex-Tarif (zusammengesetzt aus Börsenstrompreis und konstanten Netzentgelten) und Voll-Flex-Tarif (zusammengesetzt aus Börsenstrompreis und zeitvariabler Netzentgelte). Berechnet wurde die Reduktion der Stromrechnung individueller Haushalte („privatwirtschaftlicher Mehrwert“) und die Ersparnis im Stromsystem („volkswirtschaftlicher Mehrwert“). Grundlage für die Berechnung sind die stündlichen Großhandelspreise sowie die Netzbelastung im Berliner Stromnetz im Jahr 2021.

Dr. Wolfgang Weber ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Verbands der Elektro- und Digitalindustrie ZVEI.