Der Osten entscheidet: Chance zum Zukunftsstandort oder fünf verlorene Jahre

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Die Lage ist besser als die Stimmung. Viele Ostdeutsche blicken angesichts von Krisen, Kriegen und Katastrophen pessimistisch auf die Zukunft. Zwar wird die persönliche wirtschaftliche Lage nicht so negativ gesehen. Aber viele sehen fatalistisch das Land am Abgrund.

Gleichzeitig zeigt sich aber die Wirtschaft im Osten wettbewerbsfähig und stabil. Sie wuchs sogar stärker als die in Westdeutschland. Für das Jahr 2025 erwartet das ifo Institut eine Zunahme der Wirtschaftsleistung in Ostdeutschland um 1,7 %. Die Zahl der Erwerbstätigen dürfte in Ostdeutschland im laufenden Jahr um 0,2 % steigen.[1] Der Osten zieht Großinvestitionen an: Tesla in Brandenburg oder die LNG-Terminals und Rüstungsaufträge für die Werften in Mecklenburg-Vorpommern.[2] In Sachsen werden allein in die vier größten Ansiedlungen von Bosch, Beiersdorf, Infineon und TSMC 16,4 Mrd. Euro investiert genauso wie in den letzten zwei Jahren 630 kleinere und mittlere Unternehmen mit 400 Mio. Euro über die Technologieförderung unterstützt. Teile von Brandenburg im Umkreis Berlins sind heute eine dynamische Wirtschaftsregion. Im Silicon Saxony werden bis 2030 100-tausend Beschäftigte in der Digitalwirtschaft arbeiten. Die Beschäftigung insgesamt ist weiter auf Rekordniveau.

Dennoch stehen die ostdeutschen Bundesländer vor massiven wirtschaftspolitischen Herausforderungen. Der Fachkräftemangel bedroht den ostdeutschen Wirtschaftsstandort im Kern. Als Folge der Nachwendezeit existiert ein gewaltiges Demographie-Problem. Im Osten könnten bis 2030 rund 800.000 Menschen im arbeitsfähigen Alter weniger als heute leben.[3] Nachdem in den letzten Jahren sogar mehr Menschen nach Ostdeutschland kamen als gingen, hat sich dies wieder gedreht: vor allem junge Menschen und Ausländer verlassen den Osten[4].

Diese Entwicklung ist kein Schicksal. Man kann etwas tun. Alle diese Schalthebel müssen getätigt und als gemeinsame Mission verstanden werden. Sonst wird man scheitern. Erstens sind gute Arbeitsbedingungen und höhere Löhne die Grundvoraussetzung, um Fach- und Arbeitskräfte im Unternehmen zu binden und zu gewinnen.

Zweitens müssen wir mehr Menschen in Arbeit bringen und halten. Eine Arbeitsmarktpolitik, die dafür sorgt, dass Beschäftigte in Umbruchszeiten nicht den Anschluss verpassen. Mit einer Bildungspolitik, die zu weniger Schulabbrechern führt, die die duale Ausbildung stärkt und Jugendliche besser für die Arbeitswelt vorbereitet. Mit einer Familienpolitik, die das Erfolgskriterium des Ostens sichert, dass mehr als 50 % der unter Dreijährigen betreut (West: nur gut 30 %) und 67 % der ostdeutschen Frauen in Vollzeit arbeiten (West: 52 %). Mit einer Integrationspolitik, die Menschen schneller in Arbeit bringt, Berufsabschlüsse schneller anerkennt und den Skandal beendet, Menschen abzuschieben, die in Arbeit oder Ausbildung sind.

Eine dritte Stellschraube ist Automatisierung und Digitalisierung, die Bürokratie abbaut, damit sich Unternehmen auf das wesentliche konzentrieren können, und die durch KI und Robotik fehlende Fachkräfte kompensieren können: Es braucht mehr Technologieförderung (GRW-Mittel) für die kleinen Unternehmen und eine schnellere Digitalisierung der Verwaltung.

Schließlich viertens brauchen die Unternehmen mehr Arbeits- und Fachkräfte von außen. Das ist höchst umstritten. Im Sachsen-Barometer etwa wurde den Leuten die Aussage vorgelegt, ob man für „mehr Zuwanderung sei, um etwas gegen den Fachkräftemangel zu tun.“ Nur knapp 54 % finden das wichtig. „Mehr Zuwanderung für Ansiedlung internationale Firmen“ fanden sogar nur 39 % gut. Es gibt daher nicht nur inhaltliche Stellschrauben: Die Akzeptanz für Zuwanderung steigt, wenn Gerechtigkeitsprämissen mitgedacht werden: „Wer hart arbeitet und sich nichts zuschulden kommen lässt, der hat auch verdient in Deutschland zu bleiben“ oder, „es muss auch etwas für ‚unsere Leute‘ gemacht werden“. Es braucht gleichzeitig eine massive Willkommenskultur und eine kluge Strategie gegen den (Rechts-) Populismus und eine harte Reaktion des Rechtsstaats auf die rechtsextremistische Bedrohung im Osten.

Investitionen und Bürokratieabbau

Wir müssen schneller werden. Dies bedeutet Bürokratie abbauen. Zugleich müssen wir massiv investieren und nicht erst morgen, auch über landeseigene Investitionsgesellschaften. Die Solarbranche etwa geht in die USA, weil dort mit Subventionen gezahlt werden. Die Energiekosten sind gerade zu hoch, weil der Infrastrukturausbau bei Erneuerbaren Energien zu lange dauert. Ostdeutsche Regionen werden beim Wasserstoff zwei Jahre Vorsprung vor manchen süddeutschen Regionen haben. Dies müssen wir nutzen.

Es ist der BDI, der aktuell ein milliardenschweres Sondervermögen mit einem zusätzlichen staatlichen Finanzierungsbedarf von bis zu 400 Mrd. Euro fordert. Ich teile die Sorge der Industrieunternehmen, dass notwendige Investitionen hinausgezögert werden.

Aufbruch

Es gibt gute Gründe, warum die Stimmung im Osten nicht gut ist.[5] Endlich gab es so etwas wie Sicherheit und einen kleinen Wohlstand. Doch die Inflation hat den höheren Mindestlohn und Kaufkraft aufgefressen. Es gibt kaum (kleine) Vermögen. Man steht mehr auf wackligeren Beinen. Man muss Ostdeutschen nichts über Transformation erzählen – das haben sie schon einmal erlebt. Auch deshalb schätzen Ostdeutsche das Risiko, arbeitslos zu werden, für größer ein, als die objektive Lage zeigt. Die Massenarbeitslosigkeit der Nachwendezeit ist weiter im Hinterkopf.[6]

Es braucht Optimismus und positive Nachrichten. Es braucht einen Aufbruch. Wie Bundestrainer Julian Nagelsmann sagte: „Man kann immer Probleme sehen. Immer zu meckern, alles ist schlecht, die anderen sind verantwortlich. Man kann aber über Lösungen sprechen. Wir können alle anpacken“. Das überdrehte Niedergangsgerede halte ich für gefährlich. AfD und BSW haben das Geschäftsmodell: „Je schlechter es Ostdeutschland geht, desto besser für sie selbst.“

Ich warne die Wirtschaft, in dieses Niedergangsgerede einzustimmen. Wenn für jeden Managementfehler, für jede Folge internationaler Krisen und struktureller Defizite Deutschlands und für jede Überforderung in der Transformation die Bundesregierung von Olaf Scholz verantwortlich gemacht wird.

Wenn der Eindruck geschürt wird, man müsse nur das Bürgergeld abschaffen und der Fachkräftemangel sei gelöst. Das alles könnte Enttäuschungen produzieren. Alle Staaten stehen vor schwierigen Herausforderungen und den klimaneutralen Umbau ihrer Wirtschaft. Der Aufstieg Chinas fordert den Wirtschaftsstandort massiv heraus. Das wird alles bleiben.

Die meisten Leute wollen, das Politik handelt, aber mit pragmatischen Lösungen. Sie wollen Politik, die nicht nur moralische Forderungen erhebt, sondern eine Politik umsetzt, die machbar und gerecht ist. Sie verstehen, dass die Politik von den Leuten etwas einfordern, aber sie nicht überfordern darf, egal ob bei Klimaschutz oder Migration. Doch dafür fehlt es in Ostdeutschland oft an Vertrauen und zu viel Misstrauen. Aktuell verunsichern etwa Nachrichten aus Sachsen-Anhalt die Menschen, dass Intel seine Investitionen bei Magdeburg in Frage stellen könnte.

Wir müssen die Bevölkerung mehr zum Miteigentümer des Erfolgs machen: Die Löhne müssen spürbar steigen, vom Ausbau der erneuerbaren Energien müssen die Leute vor Ort direkt profitieren, indem sie etwa weniger für Strom zahlen. Wir brauchen mehr Mitarbeiterbeteiligung in den Unternehmen.

Es drohen fünf verlorene Jahre

All diese Themen spielen in den aktuellen Landtagswahlkämpfen kaum eine Rolle.

Dabei entscheiden sie mit darüber, ob die positive Entwicklung weitergeht oder die wirtschaftliche Entwicklung ausgebremst wird.

Das Fachkräftemangelproblem könnte sich massiv verschärfen: Die AfD will die Frauen zurück an den Herd, sie will Ostdeutschland zu den unattraktivsten Bundesländern für Menschen mit Migrationshintergrund machen. Sie will Integrations- und Sozialpolitik abbauen, höhere Löhne lehnt sie ab. Die politische Stimmung und Angst vor Diskriminierung könnten sowohl (angehende) Akademiker[7] als auch Arbeitskräfte aus dem Ausland abschrecken, die dringend etwa in der Pflege gebraucht werden.

Die populistischen und rechtsextremen Parteien gaukeln den veränderungsmüden Ostdeutschen vor, alles könne so bleiben, wie es ist. Schon jetzt drohen in den Kommunen dringend benötigte Infrastrukturprojekte etwa für Erneuerbaren Energien durch AfD, CDU und BSW-Mehrheiten ausgebremst zu werden.

Die rechtsextremen und populistischen Parteien reden nicht über Aufbruch und pragmatische Politik, sie beschwören den wirtschaftlichen Niedergang und beschreiben keine Lösungen des Aufschwungs. Sie behaupten, wenn man nur den Klimaschutz hintenanstellt, die Ukraine ihrem Schicksal überlässt und wieder billiges Gas aus Russland bekommt, dann wird alles so wie früher. Sie tun so, als sei die Transformation des Wirtschaftsstandorts vernachlässigbar oder falsch. Sie werben sogar damit, Transformation rückgängig zu machen.

Bekommen diese Kräfte Macht, dann drohen fünf verlorene Jahre für Ostdeutschland.

Martin Dulig

 

[1] Siehe ifo Dresden Newsletter 04/2024.

[2] Vgl. Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle sowie Ifo Dresden, siehe: Ostdeutschland schiebt die Wirtschaft in Deutschland an – ZDFheute,

[3] Vgl. Arbeitskräfte­bedarf und Migration (ostbeauftragter.de)

[4] Abwanderung von Ost nach West: „Eine Abstimmung mit den Füßen über die Zukunftsfähigkeit“ | MDR.DE

[5] Vgl. hier unterschiedliche Sichtweisen Steffen Mau, Ungleich vereint: Warum der Osten anders bleibt 2024 und Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute, 2014.

[6] Vgl. FocusPaper_Arbeitsmarkt_2024.pdf (bertelsmann-stiftung.de) sowie Andre Schmidt, Sophie Bose & Johannes Kiess, Zwischen Fatalismus und Selbstbehauptung. Facetten des Deprivationserlebens von Arbeiterinnen und Arbeitern in Sachsen, in: EFBI Jahrbuch 2023, S. 130-153.

[7] Vgl. Ostdeutschland: Der Rechtsruck zeigt Wirkung in der Arbeitswelt (wiwo.de)