Finanzminister Christian Lindner betont in der Haushaltsdebatte, dass auch die neuen EU-Fiskalregeln Deutschland zum Sparen verpflichten. Eine Reform der deutschen Schuldenbremse würde daher den finanzpolitischen Spielraum nicht vergrößern. Allerdings wird man, wie im viel beachteten Draghi-Report dargelegt, angesichts der globalen Herausforderungen und massiven Investitionsbedarfe um eine erneute Reform nationaler und EU-weiter Schuldenregeln nicht herumkommen. Statt einer Erweiterung der Investitionsspielräume werden auch mit den neuen EU-Regeln in den kommenden Jahren teilweise massive Sparvorgaben auf einige Länder zukommen. Dabei sind die Annahmen der EU-Kommission, wie sich diese Vorgaben auf das Wachstum und die Schuldenpfade der Mitgliedsländer auswirken, deutlich zu optimistisch, wie unsere Simulationen zeigen. Ein Hinterhersparen, wie in den Krisenjahren des Euroraums, könnte die Folge sein. So könnte am Ende die kriselnde Bundesrepublik zu den größten Verlierern zählen. Es braucht aktuell mehr und nicht weniger staatliche Ausgaben um beim globalen Strukturwandel Schritt zu halten.
Die reformierten EU-Fiskalregeln, die am 30. April 2024 in Kraft getreten sind, zielen darauf ab, die öffentlichen Finanzen der EU-Mitgliedstaaten zu stabilisieren. Die wichtigsten Kenngrößen der Maastricht-Regeln, ein maximales Primärdefizit von 3% und eine Schuldenquote von 60% der jährlichen Wirtschaftsleistung, werden zwar beibehalten. Allerdings wird der Weg zu diesen Zielen mit den neuen Regeln flexibler gestaltet: Den Ländern wird etwas mehr Zeit eingeräumt und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen werden stärker berücksichtigt. Zudem spielen die vielkritisierten Berechnungsverfahren für das Potenzialwachstum und das strukturell zulässige Defizit in Zukunft eine weniger prominente Rolle, wenngleich sie noch immer im Hintergrund wirken.
Ein wichtiger Bestandteil der neuen Regeln ist die sogenannte Schuldentragfähigkeitsanalyse (Debt Sustainability Analysis, kurz DSA). Die DSA untersucht modellgestützt verschiedene Szenarien zur wirtschaftlichen und finanzpolitischen Entwicklung der Mitgliedsländer. Daraus werden Konsolidierungsziele abgeleitet, die mittelfristig das Budgetdefizit unter 3% der Wirtschaftsleistung und die Schuldenquote auf einen sinkenden Pfad in Richtung 60% bringen soll.
Wie für jedes Modell gilt auch für die DSA, dass die Ergebnisse von den zugrundeliegenden Annahmen abhängen. Im vorliegenden Fall gilt das ganz besonders. Denn die Modellergebnisse, die geforderten Sparziele für die kommenden Jahre, haben wiederum Rückwirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Schuldenquoten. Folglich beeinflussen sie auch zukünftige Schuldentragfähigkeitsanalysen.
Entscheidend ist daher, dass realistische Annahmen getroffen werden, damit es nach den Konsolidierungen kein böses Erwachen gibt. Bereits während der Krise im Euroraum wurden vielen europäischen Ländern gleichzeitig harte Sparvorgaben gemacht, die die wirtschaftliche Krise noch verschärften und das Ziel tragfähiger Schulden damit womöglich gefährdeten.
Es ist davon auszugehen, dass auch die neuen Regeln zu optimistische (und teilweise unlogische) Annahmen bezüglich der Auswirkung von Sparprogrammen unterstellen. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf drei dieser Annahmen[1]:
- Kurzfristig reduziert, gemäß EU-Kommission, eine Einsparung von 1 Mrd. Euro die Wirtschaftsleistung um 0,75 Mrd. Euro (ein Multiplikatoreffekt von 0,75). Dieser Wert ist insbesondere in Krisenzeiten und für ausgabenseitige Konsolidierungen vermutlich zu klein, und er ist auch kleiner als in der Studie, auf die sich die Kommission bezieht.
- Mittelfristig geht die EU-Kommission davon aus, dass der Multiplikatoreffekt drei Jahre nach der Anpassung komplett verschwindet und die Wirtschaftsleistung auf ihren alten Wachstumspfad zurückkehrt. Auch hier bleibt die Kommission hinter eigenen Publikationen zurück, die länger nachwirkende negative Wachstumseffekte diskutieren. Der neuere Konsens in der Literatur geht davon aus, dass finanzpolitische Maßnahmen auch mittelfristig wirksam bleiben.
- Die Kommission betrachtet die Auswirkungen der Konsolidierung für jeden Mitgliedstaat einzeln. Jedoch haben die Sparmaßnahmen z.B. in Frankreich über die engen Handelsverflechtungen auch erhebliche Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft und somit auf die deutschen Staatsfinanzen. Diese Spillover-Effekte von Sparmaßnahmen werden von der EU-Kommission an anderer Stelle als wichtige Einflussgröße diskutiert, in der DSA aber ignoriert.
Wir zeigen in einer kürzlich erschienenen Studie, dass die DSA-Projektionen für das Wirtschaftswachstum und die öffentlichen Schuldenquoten empfindlich auf diese Annahmen reagieren. Selbst bei eher vorsichtigen Anpassungen der Annahmen zeigt sich, dass die DSA-Projektionen der Europäischen Kommission zu optimistisch sind. Die tatsächlichen Auswirkungen von fiskalischen Konsolidierungsmaßnahmen auf das Wirtschaftswachstum und die öffentlichen Schuldenquoten dürften negativer sein als erwartet.
Wir nehmen in den DSA-Simulationen an, dass die fiskalische Konsolidierung von jeder Regierung gemäß den Anforderungen der EU-Kommission umgesetzt wird. Diese Anforderungen sind für Italien, Frankreich und Spanien im historischen Vergleich groß.
Nach der Konsolidierungsphase unterstellt die EU-Kommission einen gleichbleibenden Budgetüberschuss für die kommenden zehn Jahre. Am Beispiel Spaniens soll demnach von 2029 bis zum Jahr 2038 ein Primärüberschuss von 2,7% des BIP aufrechterhalten werden. Derartig lange Phasen hoher Überschüsse sind historisch ungewöhnlich. Die erwarteten steil fallenden Schuldenquoten im Basisszenario der EU-Kommission bis zum Ende des Betrachtungszeitraums sind daher ohnehin als unrealistisch einzustufen. Wir verwenden sie dennoch, weil wir vor allem den Unterschied bezüglich der oben diskutierten DSA-Annahmen herausarbeiten wollen.
Auch wenn die Bundesrepublik selbst aktuell vergleichsweise nur geringe Sparauflagen zu erwarten hat, um die reformierten EU-Fiskalregeln einzuhalten, könnten die stärkeren Kürzungen in den anderen EU-Staaten der konjunkturell schwächelnden deutschen Wirtschaft einen weiteren Schlag versetzen. So könnte das BIP aufgrund der Spillover-Effekte laut unseren Simulationen mittelfristig bis zu 0,7% niedriger ausfallen als in der Projektion der EU-Kommission.
Die deutsche Wirtschaft stagniert bereits seit einiger Zeit. Ein tieferer Abschwung mit stärker wegbrechenden Steuereinnahmen und steigenden Sozialausgaben dürfte die Schuldenquote entsprechend um 1,7 Prozentpunkte höher ausfallen lassen als von der EU-Kommission erwartet. Das geschieht laut unseren Simulationen, obwohl die Bundesrepublik über die kommenden vier Jahren gemäß den Kommissionsberechnungen das Defizit kumuliert um lediglich 0,4 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung reduzieren muss (von Italien wird nahezu der zehnfache Wert verlangt, von Frankreich der achtfache).[2]
Dann wäre das Insistieren des deutschen Finanzministers auf strengeren Regeln in den Verhandlungen ein klassisches Eigentor gewesen. Dass öffentliche Investitionen in den Mitgliedsländern nach wie vor grundsätzlich aus den laufenden Einnahmen zu finanzieren sind und Christian Lindner Mario Draghis Vorschlag gemeinsamer europäischer Kreditfinanzierung einer großen Investitionsoffensive ablehnt, könnte der deutschen Wirtschaft auch langfristig schaden. Es ist also höchste Zeit für weitere Reformen – sowohl der Europäischen Regeln, als auch der deutschen Schuldenbremse.
Prof. Dr. Sebastian Gechert
Dr. Philipp Heimberger
[1] Vom IMK, vom Dezernat Zukunft und von Bruegel werden andere Annahmen kritisch unter die Lupe genommen.
[2] Diese Anpassungserfordernis würde für einen vierjährigen Sparplan von 2025 bis 2028 gelten. Wenn Deutschland einen Investitions- und Reformplan an die EU-Kommission schickt, der von der Kommission akzeptiert wird, würde sich die Anpassungsperiode verlängern und die kumulierte Sparanforderung auf 0,1% der Wirtschaftsleistung sinken. Diese Option gilt für alle Mitgliedsstaaten, wobei sich der kumulierte Konsolidierungsbedarf über den gesamten Zeitraum nicht substantiell verringert. Zudem greifen in diesem Fall gegebenenfalls strengere sogenannte Schutzklauseln, die auf Drängen Deutschlands zu den Fiskalregeln hinzugefügt wurden. Diese dürften wiederum eine schnellere Konsolidierung erzwingen.