Für einen neuen makroökonomischen und industriepolitischen Grundkonsens in Deutschland und Europa

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Positionspapier des Wissenschaftlichen Beirats des Wirtschaftsforums der SPD e.V.

Deutschland befindet sich weiterhin in einer Phase der Stagnation. Die reale Wirtschaftsleistung liegt unter dem Niveau von 2019 und liegt auf einem niedrigeren Trendwachstum im Vergleich zu den Vorkrisenjahren. Sie liegt 8 Prozent unter dem bisherigen Trend. Die Industrieproduktion ist vor allem infolge der anhaltend rückläufigen Auslandsnachfrage und sinkender Auftragsbestände weiterhin in einem Abschwung, es ist mit einem Rückgang der Industrieproduktion im laufenden Jahr von drei Prozent zu rechnen.

Die Produktionsrückgänge sind in gewichtigen Bereichen der industriellen Wertschöpfung zu verzeichnen, bei Kfz und Kfz-Teilen, dem Maschinenbau, den Metallerzeugnissen und chemischen Erzeugnissen und damit einem Kern der industriellen Basis und des industriellen Geschäftsmodells in Deutschland.

Auch bei den konsumnahen Dienstleistungsbereichen Handel, Verkehr und Gastgewerbe wird die Lage weiter ungünstig beurteilt. Trotz der rückläufigen Inflation und der deutlich gestiegenen Kaufkraft im Zuge der zuletzt gestiegenen Reallöhne hat sich die Stimmung bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern eingetrübt.

Nachdem die deutsche Wirtschaft im vergangenen Jahr eine leichte Rezession aufwies, zeigte sie in der ersten Jahreshälfte 2024 Anzeichen einer schwachen wirtschaftlichen Erholung. Die Konjunktur nahm dennoch nur langsam an Fahrt auf und binnenwirtschaftliche Konjunkturindikatoren wie der GfK-Konsumklima-Index oder der ifo Geschäftsklimaindex sind aktuell tendenziell rückläufig. Das Bauhauptgewerbe hat seine Einschätzung der Geschäftslage im August 2024 nicht verändert, aber auch hier bewerten die Unternehmen die heutige und erwartete Lage tendenziell negativ.

Die Inflationsrate hat sich deutlich stabilisiert und lag im August 2024 bei 1,9 Prozent. Die sinkenden Energiepreise wirken dämpfend auf die Inflationsrate, liegen aber nach wie vor über Vorkrisenniveau, während Lebensmittel- und andere Güterpreise weiterhin stärker steigen. Nachdem die Reallöhne aufgrund von deutlichen Nominallohnsteigerungen im Jahr 2023 durchschnittlich um 0,1% leicht gestiegen sind, hat sich diese Entwicklung im ersten und zweiten Quartal mit deutlichen Reallohnsteigerungen von 3,8% bzw. 3,1% gegenüber dem Vorjahresquartal noch verstärkt. Trotz der Kaufkraftzuwächse scheinen die schwankenden Konjunkturaussichten sowie steigende ökonomische und politische Unsicherheit durch teilweise negative Arbeitsmarktmeldungen oder steigende Insolvenzzahlen bei Unternehmen aktuell jedoch eher dämpfend auf die Konsumneigung der Haushalte zu wirken.

Das Ausmaß dauerhafter Produktionsverluste ist erheblich. Die kurzfristigen Produktionsverluste der Energiekrise zwischen dem zweiten Quartal 2022 und dem ersten Quartal 2023 betrugen gut 4 Prozent. Weder 2023 noch voraussichtlich 2024 wird dies durch entsprechend starkes Wachstum kompensiert werden können. Im Gegenteil, die Produktion sinkt weiter. In diesem Fall würden sich die Gesamtkosten der Energiekrise allein bis Ende 2024 auf rund 10 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts oder 390 Milliarden Euro belaufen.

Es zeigt sich immer deutlicher: Deutschland hat ein grundlegendes Standortproblem, der Standort Deutschland fällt international immer weiter zurück, das deutsche Geschäftsmodell steht zur Disposition. Die gerade erschienene BDI-Studie stellt fest, dass ohne gezielte wirtschafts- und industriepolitische Maßnahmen 20% der industriellen Wertschöpfung in Deutschland in den nächsten Jahren gefährdet sind.

Die deutsche Wirtschaft ist immer weniger in der Lage, innovative Produkte herzustellen. Während unsere Wettbewerber seit Jahren eine erfolgreiche Industriepolitik betreiben, gilt in Deutschland noch immer das Dogma, dass sich der Staat aus industriepolitischen Zielplanungen heraushalten soll. Wenn wir hier nicht sehr bald einen Paradigmenwechsel vornehmen, droht Deutschland ein disruptiver Prozess mit gravierenden Folgen für den Wohlstand und die politische Stabilität unseres Landes.

Die aktuelle Stagnation ist vor allem durch die schwache Investitionstätigkeit verursacht. Diese Investitionsschwäche droht sich in den nächsten Jahren fortzusetzen. Die aktuelle Transformationsstudie des BDI geht von einem Investitionsbedarf bis 2030 von 1,4 Billionen Euro aus, davon 460 Milliarden an öffentlichen Investitionen. Das IMK und das IW Köln sehen bis 2030 einen zusätzlichen öffentlichen Investitionsbedarf allein zur Modernisierung der Infrastrukturen von 600 Milliarden Euro allein in Deutschland.

Auch der gerade veröffentlichte Draghi-Bericht verdeutlicht, dass der Standort Europa in der Triade EU-USA-China weiter zurückfällt, in zentralen technologischen Bereichen neue Abhängigkeiten drohen und die Wettbewerbsfähigkeit massiv geschwächt ist. Der Draghi-Report schlägt Investitionsmaßnahmen von 800 Milliarden Euro pro Jahr über die nächsten Jahre vor. Er plädiert für eine Vertiefung des Binnenmarktes, insbesondere im Bereich Digitalisierung und Energie und betont die Notwendigkeit, die Kapitalmarktunion und einen umfassenden Bürokratieabbau zügig voranzubringen.

Es muss gelingen, große Teile des Draghi-Reports im Arbeitsprogramm der Kommission fest zu verankern und gleichzeitig den angekündigten Clean Industrial Deal mit wirksamen Maßnahmen auszustatten.

Der aktuelle Entwurf des Bundeshaushaltes und die mittelfristige Finanzplanung geben kaum Antworten auf die Herausforderungen des Wirtschaftsstandortes Deutschland: die eklatante Wachstums-, Investitions- und Innovationsschwäche. Der gefundene Haushaltskompromiss ist der kleinste gemeinsame Nenner der Ampel. Aber es ist nicht der Haushalt, den Deutschland braucht. Es handelt sich beim aktuellen Haushaltsentwurf nicht um ein echtes Investitionsbudget. Die großen Investitionsbedarfe des Landes – Infrastruktur, Klima, Bildung – sind nicht annähernd abgebildet.

Wir brauchen endlich eine klare Strategie, wie die Wachstumsperspektiven dauerhaft gestärkt werden können. Die immer wieder betonte Wachstumsinitiative der Bundesregierung kann nur ein erster Schritt sein. Sie wird die enormen strukturellen Standort- und Investitionsprobleme in Deutschland nicht lösen.

Notwendig ist ein neuer makroökonomischer und industriepolitischer Grundkonsens in Deutschland und Europa.

Die politökonomische Debatte in Deutschland und Europa ist tief gespalten. Während viele internationale Wirtschaftsorganisationen und immer mehr Forschungsinstitute und Ökonominnen und Ökonomen für eine fiskalische Trendwende zur Stärkung von Wettbewerbsfähigkeit, Investitionen, der Modernisierung der Infrastrukturen und einer gezielten Industriepolitik plädieren, verharren die politischen Entscheidungsträger in Deutschland aber auch in Europa in parteipolitischen Grundsatzpositionen, die die fundamentalen Veränderungen der geopolitischen und geoökonomischen Situation sowie der Standortkonkurrenzen und -gefahren nicht ausreichend gewichten.

Dieses Schisma muss endlich überwunden werden. Europa und Deutschland werden ihre politische und ökonomische Position nur dann sichern können, wenn es einen neuen makroökonomischen und industriepolitischen Grundkonsens gibt, der einen klaren Rahmen für das intelligente Zusammenspiel von staatlichen investitions- und industriepolitischen Maßnahmen und Unternehmens-, Markt- und Branchenentwicklungen definiert und miteinander verbindet.

Im Hinblick auf die Bundestagswahl 2025 droht die Gefahr von parteipolitischen Auseinandersetzungen, die im Hinblick auf eine neue Bundesregierung und des ihr zugrunde liegenden Koalitionsvertrages dieses Schisma fortschreiben.

Wir plädieren ausdrücklich dafür, Optionen für einen solchen notwendigen makroökonomischen und industriepolitischen Grundkonsens nicht zu verbauen. Deutschland und Europa brauchen diesen Konsens, sonst droht die Gefahr, ökonomisch, standortpolitisch und damit letztendlich auch politisch abgehängt zu werden.

 

Ein solcher makroökonomischer Konsens sollte folgende Elemente enthalten:

Zukunftsbranchen definieren: Mario Draghi spricht sich in seinem Bericht dafür aus, Zukunftsbranchen zu definieren und gezielt zu fördern im Rahmen einer industriepolitischen Strategie für die EU, die ihren Namen verdient. Die Industriepolitik der EU ist häufig ein teurer und ineffizienter Wildwuchs, der nicht zu politischer Verlässlichkeit führt und keine Grundlage für langfristige Investitionsentscheidungen bietet. Europa müsse sich darauf einigen, in welchen Branchen und Sektoren man den Markt regeln und in welchen Bereichen man Produktion in Europa halten und neu aufbauen wolle. Auch in Deutschland sollten wir eine umfassende Diagnose der Zukunftspotentiale der deutschen Wirtschaft im globalen Wettbewerb vornehmen und mit einer konsistenten Regulatorik und Förderpolitik vorhandene Potentiale stärken und neue Geschäftsfelder schaffen.

Zukunftsinvestitionen stärken: Wichtige Strukturreformen, wie etwa der Abbau unnötiger Bürokratie und Regulierung, müssen konsequent weitergeführt werden. Diese müssen kombiniert werden mit einer Wende in der Fiskalpolitik. Der Staat muss Geld in die Hand nehmen – für öffentliche Investitionen in die Infrastruktur, die Dekarbonisierung und die Digitalisierung, für die gezielte Förderung von privaten Investitionen und für eine Bildungs- und Qualifizierungsoffensive. Zudem brauchen wir international wettbewerbsfähige Energiepreise. Entsprechende Maßnahmen müssen zwischen der EU und den jeweiligen Mitgliedstaaten intensiv miteinander abgestimmt werden.

Handlungsspielräume für öffentliche Investitionen nutzen: Die nächste Bundesregierung wird die Schuldenbremse reformieren müssen und/oder ein Sondervermögen einrichten, um rund 600 Milliarden Euro zusätzliche öffentliche Investitionen und die Förderung privater Investitionen sowie Investitionen in Militär und Sicherheit zu finanzieren. Die Möglichkeiten für kurzfristige finanzielle Spielräume für Investitionen im Haushalt 2025 sollten genutzt bzw. geschaffen werden. Bislang bietet der geplante Haushalt für 2025 keine ausreichenden konjunkturellen Impulse.

Neue Finanzierungsinstrumente ermöglichen: Deutschland will die Ukraine weiterhin militärisch und finanziell unterstützen. Eine europäische Finanzierung, ähnlich dem „Next Generation EU“-Programm, könnte die gemeinsame Sicherheitsarchitektur stärken. Die Möglichkeiten neuer Finanzierungsinstrumente wie gemeinsame Eurobonds zur Finanzierung von Sicherheits- und Verteidigungspolitischen Maßnahmen sollten vorangetrieben werden.

Draghi-Bericht als Kompass für Europa: Um den Binnenmarkt zu stärken und die Rahmenbedingungen für Unternehmen in Europa zu verbessern, ist ein Arbeitsprogramm der Kommission mit Schwerpunkten bei der Wettbewerbsfähigkeit, bei Investitionen, der Innovationsförderung sowie struktureller Reformen notwendig. Der Letta- und der Draghi-Report bieten dafür eine geeignete Grundlage. Die deutsche Bundesregierung sollte sich dafür auf der europäischen Ebene entsprechend einsetzen.

Ebenso kommt es für Wachstum und den Erfolg der Transformation auf die Arbeitsmarktpolitik an. Die wirtschaftlichen Veränderungen betreffen auch die Beschäftigung, und umgekehrt sind Kompetenzen zentral für wirtschaftliche Innovationsprozesse. Wichtig ist bei Umbrüchen deshalb eine gezielte Weiterentwicklung von Beschäftigten in verwandte aufstrebende Bereiche, in denen Fähigkeiten und Arbeitserfahrung weiter genutzt werden können. Erwerbsarbeit bleibt zentral für die persönlichen Entwicklungschancen der Bürgerinnen und Bürger und für die ökonomisch-soziale Entwicklung in Deutschland und in Europa. Eine Ausweitung der Erwerbspersonenpotenziale, Qualifizierung und gute Ausbildung sowie eine faire Entlohnung sind dabei entscheidend.

Mindestlohn anheben, Tariftreuegesetz einführen, beschäftigungspolitisch orientierte Anpassung des Bürgergeldes und mehr Chancen für Minijobber: Sinn von Mindestlöhnen ist es, Lohnungleichheit zu reduzieren. Das muss die Maßgabe für die Arbeit der Mindestlohnkommission sein. Die Inflation und der Preisauftrieb der letzten Jahre machen eine Anpassung des Mindestlohns erforderlich, sie ist auch ein Beitrag dazu, den notwendigen Lohnabstand zu sichern, und damit auch ein Beitrag für den sozialen Frieden in Deutschland. Gleichzeitig brauchen wir endlich auch ein Tariftreuegesetz, das sicherstellt, dass nur Unternehmen mit tarifvertraglichen Strukturen öffentliche Aufträge erhalten. Das ist ein wesentlicher Beitrag gegen Lohndumping. Langzeitarbeitslose sollen durch eine Anschubfinanzierung bei neuen Jobs unterstützt werden. Berufsbegleitende Qualifizierung und Jobaufnahme müssen stärker verknüpft werden. Ein „Sozialversicherungsbonus“ kann Minijobber motivieren, in sozialversicherungspflichtige Jobs zu wechseln; darauf kann die geplante Begünstigung von Teilzeitausweitung fokussiert werden.

Ausländische Fachkräfte gewinnen und binden: Um die Abwanderung ausländischer Fachkräfte zu verhindern, sollen Willkommenskultur, Integration von Familien und berufliche Entwicklung gefördert werden. Behördliche Prozesse zur Arbeitsgenehmigung müssen beschleunigt werden. Eine Genehmigungsfiktion bei der Beschäftigungserlaubnis etwa kann dazu einen Beitrag leisten.

Stärkere Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt: Investitionen in Kinderbetreuung und Pflegeangebote sind notwendig, um Frauen den Berufseinstieg zu erleichtern. Finanzielle Anreize und flexible Arbeitszeiten sollen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern. Selbstbestimmte Arbeitszeiten im Sinne einer X-Tage-Woche können die Teilzeitfalle und das Abknicken beruflicher Entwicklung vermeiden. Zudem sollte die Abschaffung der Lohnsteuerklassen III/V umgesetzt und das Ehegattensplitting längerfristig in Richtung eines Realsplittings reformiert werden.

Trend bei der Qualifikation umkehren: Über 2,5 Millionen junge Erwachsene haben keinen Berufsabschluss. Niederschwellige, modulare Ausbildungsangebote und bessere Anreize für betriebliche Ausbildungen können diese Lücke schließen.

Freiwilliges Längerarbeiten fördern: Finanzielle Anreize wie Steuer- und Beitragsvergünstigungen und flexible Arbeitsbedingungen sollen ältere Arbeitnehmer länger im Arbeitsmarkt halten. Rentenaufschubprämien und eine rechtssichere Befristung für Beschäftigte nach Erreichen der Altersgrenze sind weitere Maßnahmen.

Deutschland und Europa brauchen einen Aufbruch. Er wird nur dann gelingen, wenn in der politökonomischen Diskussion in Deutschland und in Europa die Dogmen der letzten Jahre endlich überwunden werden. Es geht um eine intelligente Mischung staatlicher Investitions- und Industriepolitik, einer klugen Angebotspolitik und um ein Programm zur umfassenden Entbürokratisierung in Deutschland und in Europa. Diese neuen Grundkonsense werden darüber entscheiden, ob es gelingt, Handlungsfähigkeit wieder herzustellen und Vertrauen von Unternehmen, Beschäftigten und Märkten zu ermöglichen.

 

Das Papier wird unterstützt von:

Prof. Dr. Salvatore Barbaro, Prof. Dr. Peter Bofinger, Prof. Dr. Gerhard Bosch, Dr. Arno Brandt, Dr. Felix Butzlaff, Prof. Dr. Lena Dräger, Prof. Dr. Sebastian Dullien, Prof. Dr. Ferdinand Fichtner, Dr. Andrä Gärber, Prof. Dr. Sebastian Gechert, Prof. Dr. Anke Hassel, Prof. Dr. Gustav Horn, Prof. Dr. Christian Kellermann, Prof. Dr. Hagen Krämer, Prof. Dr. Tom Krebs, Prof. Dr. Carsten Kühl, Prof. Dr. Fabian Lindner, Matthias Machnig, Dr. Claus Michelsen, Dr. Gero Neugebauer, Prof. Dr. Dennis Ostwald, Sandra Parthie, Prof. Dr. Barbara Praetorius, Prof. Dr. Miriam Rehm, Prof. Dr. Wolfgang Schroeder, Prof. Dr. Jens Südekum, Prof. Dr. Alexander Thiele, Prof. Dr. Achim Truger, Dr. Konstantin Voessing