In den letzten Jahren ist das Wirtschaftswachstum in Deutschland deutlich geringer ausgefallen als im europäischen Durchschnitt. Laut der aktuellen Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungs­institute wird die deutsche Wirtschaft auch in diesem Jahr wieder leicht schrumpfen, während die übrigen Euroländer im Durchschnitt um 0,8 Prozent wachsen. Auch in den Jahren 2025 und 2026 wird das deutsche Bruttoinlandsprodukt voraussichtlich weiter hinter dem durchschnittlichen Wachstum des Euroraums zurückbleiben. Die Ursachen für die schwache wirtschaftliche Entwicklung sind vielfältig. Dazu gehören hohe Energiepreise, eine gedämpfte globale Nachfrage – insbesondere auf dem wichtigen chinesischen Markt – sowie strukturelle Herausforderungen innerhalb der deutschen Wirtschaft. Diese Faktoren haben dazu geführt, dass Deutschland, einst die wirtschaftliche Lokomotive Europas, nun mit ernsthaften Wachstumsproblemen kämpft.

Besonders auffällig ist der Kontrast zu den USA. Die US-amerikanische Wirtschaft hat sich nach der Covid-19-Krise bemerkenswert schnell erholt, was auf entschlossene politische Maßnahmen und strukturelle Vorteile zurückzuführen ist. Umfangreiche fiskalische und monetäre Interventionen halfen der US-Wirtschaft dabei, die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu begrenzen und eine schwere Rezession zu vermeiden. Die US-Regierung stütze die Wirtschaft durch umfangreiche Konjunkturpakete, direkte Zahlungen an die Bevölkerung, erweiterte Arbeitslosenhilfen und Unterstützung für Unternehmen. Diese Maßnahmen erwiesen sich zur Stabilisierung der Wirtschaft als sehr effektiv. Die zwischenzeitlich hohe Inflation hat sich wie in Europa mittlerweile wieder deutlich verringert, ohne dass es zu Depression und Massenarbeitslosigkeit gekommen ist.

Zur beeindruckenden Erholung der US-Wirtschaft nach der Covid-19-Krise trug nicht zuletzt eine aktivierende Industriepolitik bei, die sich deutlich von den Ansätzen in Deutschland und Europa unterscheidet. Der Inflation Reduction Act (IRA) und der CHIPS Act sind Beispiele für langfristig angelegte Maßnahmen, die Investitionen in erneuerbare Energien, grüne Technologien und die Halbleiterproduktion fördern und darauf abzielen, die inländische Produktion zu stärken, die Transformation zu unterstützen, und die Abhängigkeit von globalen Lieferketten zu reduzieren. Durch diese dezidiert proaktive Industriepolitik konnte die US-Wirtschaft nicht nur stabilisiert, sondern auch auf einen nachhaltig höheren Wachstumspfad geführt werden. Zudem wurden durch diese Maßnahmen Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen und die Innovationskraft der US-Wirtschaft gefördert.

Trotz dieser jüngsten Erfolge sollte die USA nicht als Blaupause für das deutsche und europäische Wirtschaftsmodell verstanden werden. So sinnvoll eine aktivierende Industriepolitik auch ist, gerade angesichts des Systemwettbewerbs mit China, so problematisch sind die historischen Arbeitsmarkt-, Sozialstaats- und Einkommenspolitiken in den USA, die zu einer massiven Ungleichheit geführt haben. Trotz aller Maßnahmen der Biden-Administration bleibt die Einkommens- und Vermögensungleichheit weiterhin sehr hoch, was Anlass zu großer Sorge gibt. Diese Ungleichheit gefährdet nicht nur die langfristige wirtschaftliche Stabilität, sondern stellt auch ein Risiko für die politische Stabilität des Landes dar, da sie ein idealer Nährboden für populistische Bewegungen ist. Darüber hinaus hat die zunehmende Finanzialisierung der US-Wirtschaft, die sich insbesondere zwischen 1980 und 2007 entwickelte, tiefgreifende Spuren auf nationaler und globaler Ebene hinterlassen.

In unserem Buch Capitalism, Inclusive Growth and Social Protection – Inherent Contradiction or Achievable Vision? (Krämer, Proaño, Setterfield 2023), analysieren wir mehrere Trends, die sich nicht nur in den USA über die letzten vier Jahrzehnte herauskristallisiert haben: die zunehmende Einkommens- und Vermögenungleichheit, die Schwächung der Gewerkschaften, das verlangsamte Produktivitätswachstum sowie die weitgehende Finanzialisierung der ökonomischen, politischen und sozialen Sphären. Unser analytischer Ansatz basiert dabei auf dem Marx-Keynes-Schumpeter-Schema, das auf den Ökonomen Richard Goodwin zurückgeht und über Jahre hinweg von zahlreichen Forscherinnen und Forschern weiterentwickelt wurde. Aus dieser Perspektive ist es für ein umfassendes Verständnis moderner Volkswirtschaften unerlässlich, die Rolle der wirtschaftlichen Ungleichheit und der Verteilungskonflikte (Marx) mit der aggregierten Nachfrage (Keynes) und technologischen Innovationen (Schumpeter) in Verbindung zu setzen.

Wir zeigen, wodurch sich in den entwickelten Ländern seit den 1980er Jahren die Verhandlungs­stärke zunehmend zuungunsten der Beschäftigten verschoben hat. Arbeitssparender technischer Fortschritt in Verbund mit der dynamisch voranschreitenden Globalisierung und der sogenannten Flexibilisierung der Arbeitsmärkte führten zu einem erheblichen Verlust an Verhandlungsmacht der Gewerkschaften und der abhängig Beschäftigten. Diese Trends betrafen vor allem Beschäftigte mit geringer und mittlerer Qualifikation. Da die Verlierer unzureichend kompensiert wurden, vertiefte sich insbesondere die Kluft zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern. Dies schuf zum einen den Nährboden für einen globalisierungs- und elitenkritischen Populismus und trug zum anderen dazu bei, dass die gesamtwirt­schaftliche Nachfrage nur noch geringfügig wuchs. In Deutschland konnte die schwache Konsumnachfrage viele Jahre von der relativ gut laufenden Exportnachfrage ausgeglichen werden. Aktuell zeigt sich jedoch die Kehrseite des exportgetrieben deutschen Wachstumsmodells.

Wir beschreiben in unserem Buch das Zusammenspiel von Produktivitätsschwäche, wachsender Ungleichheit, Arbeitsmarkt­flexibilisierung und Finanzialisierung als eine „Tragödie in drei Akten“, die zu langfristig stagnierendem Wirtschaftswachstum führt:

Akt 1 – Niedrige Wachstumsraten der Produktivität: Seit mehreren Jahrzehnten verzeichnen die entwickelten Länder einen Rückgang des Produktivitätswachstums. Dieser Trend lässt sich auf eine Vielzahl von Faktoren zurückführen, darunter zu geringe Investitionen in neue Technologien und in die öffentliche Infrastruktur sowie unzureichende Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Da immer geringere Produktivitätsgewinne erzielt werden, wächst die Wirtschaft langsamer.

Akt 2 – Schwache Lohndynamik: Im Unterschied zu den 1970er Jahren war die produktivitäts­orientierte Lohnpolitik nicht mehr erfolgreich, so dass die Reallöhne der Beschäftigten nicht in dem Maße steigen, wie es die Produktivität eigentlich ermöglicht hätte. Es kam zu einem Rückgang der Lohnquote. Infolgedessen geriet der konsumgetriebene Aufschwung durch höhere Löhne ins Stocken, was das Wirtschaftswachstum zusätzlich bremste.

Akt 3 – Langsames Nachfragewachstum: Im dritten Akt führte das schwache Lohnwachstum zu einer insgesamt gedämpften Konsumnachfrage. Da die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nicht ausreichend groß war, blieben Unternehmen bei Investitionen zurückhaltend, was die wirtschaftliche Dynamik weiter schwächte. In Deutschland wird die Investitionsschwäche zusätzlich durch zu geringe öffentliche Nettoinvestitionen verstärkt.

Diese „Tragödie in drei Akten“ verdeutlicht, dass das anhaltend schwache Wachstum als Ergebnis verschiedener struktureller Probleme in der Wirtschaft zu verstehen ist, die sich gegenseitig verstärken. Um diese Stagnation zu überwinden, betonen wir in unserem Buch die Notwendigkeit gezielter politischer Interventionen, die sowohl Investitionen anregen als auch die Einkommensungleichheit verringern, so dass Löhne und Produktivität wieder im Gleichklang wachsen.

Ein zentrales Instrument zur Überwindung der Wachstums­schwäche die ist Steigerung öffentlicher Investitionen. Staatliche Ausgaben für Infrastrukturprojekte, Bildung, Digitalisierung und nachhaltige Energien modernisieren die Wirtschaft und stimulieren gleichzeitig die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Sie regen somit auch private Investitionen an. Diese Investitionen wirken nicht nur kurzfristig wachstumsfördernd, sondern schaffen auch die Grundlage für langfristige Produktivitätsgewinne. Darüber hinaus sollte in Deutschland – auch aus gesellschaftspolitischen Erwägungen – der Schaffung von neuem und bezahlbarem Wohnraum eine höchste Priorität eingeräumt werden. Zur Finanzierung öffentlicher Investitionen ist eine erhöhte Nettokreditaufnahme des Staates notwendig und im Sinne der Verbesserung der Zukunftschancen künftiger Generationen gerechtfertigt.

Zusätzlich kann durch eine Verringerung der bestehenden Einkommensungleichheit die Konsumnachfrage gestärkt werden. Höhere verfügbare Einkommen, insbesondere im unteren und mittleren Bereich, würden die Kaufkraft der Bevölkerung erhöhen. Eine Verstetigung zusätzlicher Nachfrage würde Unternehmen dazu anregen, verstärkt in ihre Produktionskapazitäten zu investieren, was das Wachstum der Wirtschaft insgesamt beflügeln und die Stagnation überwinden könnte.

Eine gezielte Innovationspolitik, die Investitionen in Forschung und Entwicklung fördert sowie Anreize für Unternehmen schafft, in neue Technologien und die digitale Transformation zu investieren, würde zur Überwindung der Stagnation beitragen. Auch finanzielle Maßnahmen, wie die Erleichterung des Zugangs zu Krediten zur Förderung von Innovationen, würden das Wachstum stimulieren. Besonders kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) sowie Start-ups, die in innovationsgetriebenen und technologieorientierten Branchen investieren, würden von besseren Finanzierungsmöglichkeiten profitieren. Dadurch könnte der Innovationsprozess beschleunigt und die Produktivität gesteigert werden, was langfristig die Basis für neue Wachstumsimpulse schafft.

Eine derartige wirtschaftspolitische Strategie kann dazu beitragen, die strukturellen Schwächen der deutschen Wirtschaft zu überwinden und neue Wachstumsquellen zu erschließen.

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Hagen Krämer ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Karlsruhe. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Theorie und Empirie der Einkommens- und Vermögens­verteilung, der Dienstleistungsökonomik und Digitalisierung sowie der Geschichte des ökonomischen Denkens. Er war von 2005 bis 2024 einer der Koordinatoren des Kocheler Kreises für Wirtschaftspolitik in der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Christian R. Proaño ist Professor für Makroökonomie und Internationale Finanzmärkte an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Sprecher des von der Hans-Böckler-Stiftung finanzierten Promotionskollegs „Beschränkte Rationalität, Heterogenität und Netzwerkeffekte“, sowie Mitglied des Wirtschaftspolitischen Beirats des SPD-Bundesvorstandes.

Hagen Krämer und Christian R. Proaño sind Koordinatoren des neu gegründeten Forums Progressive Wirtschaftspolitik (https://forum-progressive-wirtschaftspolitik.de/).