Wege aus der Krise: Innovation, Wohnungsbau und Arbeitsanreize

©
iStock bluejayphoto

 

 

Deutschland steckt in einer Krise. Aber nicht erst seit zwei Jahren, sondern vielmehr seit einem Jahrzehnt. Das Produktivitätswachstum ist drastisch zurückgegangen und hat sich im Vergleich zu den 90er Jahren mehr als halbiert. Dieses schwache Produktivitätswachstum wurde lediglich in den Jahren nach den rot-grünen Arbeitsmarktreformen durch eine dynamische Entwicklung des Arbeitsmarktes übertüncht: Ältere Arbeitnehmer verblieben länger im Arbeitsmarkt und gingen erst später in Rente, die Frauenerwerbstätigkeit stieg deutlich an, und mit zunehmender Zuwanderung, vor allem aus dem EU-Raum, kamen auch aus dieser Quelle aktive Arbeitnehmer hinzu.

Alle diese Reserven sind heute zunehmend erschöpft. Im Gegenteil: die Rentenwelle rollt und es sind bislang wenig Maßnahmen in Sicht, die den damit verbundenen Rückgang der Zahl der Arbeitskräfte und damit auch den der wirtschaftlichen Aktivität bremsen. Auch die globale konjunkturelle Lage hilft nicht. Insbesondere ist das chinesische Modell des staatsinterventionistischen Wirtschaftens in eine Großkrise gerutscht, was sich deutlich auf die Nachfrage nach deutschen Exportgütern auswirkt. Es drohen uns verlorene Jahrzehnte wie sie unsere südeuropäischen Nachbarn zuletzt erlebt haben.

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die Wirtschaftspolitik so zu gestalten, dass sie langfristig den Wohlstand sichert. Dabei gilt es, sich auf das Machbare zu fokussieren und nicht nur auf das Wünschenswerte. Insofern sollten sich in die Leere laufende Diskussionen um die Schuldenbremse erübrigen, selbst wenn die Schuldenbremse eine schlechte Regel ist, weil sie nicht die Nettovermögensposition des Staates schützt, sondern nur einen gleichmäßigen Abbau von Schulden und öffentlichem Kapital befördert. Vielmehr wäre eine Orientierung an den Regeln der doppelten Haushaltsführung sinnvoll, wie sie zum Beispiel die Freie und Hansestadt Hamburg betreibt.

Vor diesem Hintergrund sollten wirtschaftspolitische Maßnahmen Priorität haben, die eine neue Wachstumsdynamik entfachen, ohne staatliche Haushalte zu belasten. So ist sicherlich, um ein Beispiel zu nennen, die Weitersubventionierung des Deutschlandtickets kritisch zu sehen. Das statistische Bundesamt hat gezeigt, dass das Deutschlandticket keine nennens­werten Änderungen der Verkehrsmittelnutzung mit sich gebracht hat: Es werden lediglich mehr Wochenendfahrten ins Umland gemacht. Dieses Mehr an Wochenendfahrten kostet die Bundesländer jedoch jedes Jahr 1,5 Mrd. €. Mit 1,5 Mrd.€ pro Jahr könnten hingegen 20.000 zusätzliche Lehrerstellen geschaffen werden. Das entspräche in etwa der nötigen Zahl an Lehrern, um unseren Kindern eine halbes zusätzliches Schuljahr zu ermöglichen. Dies wäre im Übrigen keine schlechte Idee, wenn man etwa dem englischen Beispiel folgte und der Grundschule ein Übergangsjahr Null hinzufügte. Dies schafft mehr Bildung für alle, hilft aber gerade denjenigen, die in ihrer Familie weniger Bildungsrückhalt finden.

Hinzu kommen für das Deutschlandticket noch weitere 1,5 Mrd. € Subventionen vom Bund. Das ist fast so viel, wie die gesamte Max-Planck-Gesellschaft (2,1 Mrd. €) oder zwei zusätzliche Exzellenzinitiativen (je 670 Mio. €) kosten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Erfindungen der Ingenieure und Entdeckungen der Wissenschaftler in diesen Programmen mehr Aussicht haben, zum globalen Klimaschutz oder zumindest zum zukünftigen Wohlstand Deutschlands beizutragen, als verbilligte Wochenendausflüge. Man kann also durch Umschichten von Ausgaben hin zur Zukunftsförderung noch einiges erreichen.

Ohne staatliche Ausgaben überhaupt zu berühren, ließe sich auch durch Regulierungs­änderungen noch vieles in Bewegung setzen. Der Wohnungsbau ist hier zentraler Bereich. Während noch bis Mitte des letzten Jahrzehnts die Flächen für den Wohnungsbau in etwa proportional zum Bruttoinlandsprodukt wuchsen (zwischen 2004 und 2015 nahmen das BIP um 18% und die Flächen für Wohnungen um 17% zu), haben sich in den letzten 10 Jahren die wirtschaftliche und die Flächenentwicklung zunehmend entkoppelt. Dahinter steht der zunächst nachvollziehbare Wunsch, aus Gründen des Umweltschutzes den Flächenverbrauch einzuschränken.

Doch sollte man sich klar machen, dass lediglich 3,8% der Fläche der Bundesrepublik als Wohnungsbaufläche genutzt wird, was aber nicht nur die bebaute Fläche, sondern auch zugehörige Gärten umschließt. Aufgrund der rückläufigen Ausweisung von Wohnungsbauflächen wird mittlerweile genauso viel (oder eben wenig) für Wohnungsbau zusätzlich genutzt wie für zusätzliche Sport- und Erholungsflächen. Beides macht ca. zwanzig Hektar pro Tag aus. Die gesamte zusätzliche Flächennutzung liegt bei etwas über fünfzig Hektar pro Tag. Hätten wir in den letzten 10 Jahren die Politik der frühen 2000er fortgesetzt und so das Doppelte an Wohnungsbauflächen geschaffen, würden heute 4% statt 3,8% der Fläche Deutschlands für den Wohnungsbau genutzt. Erst in 200 Jahren hätten wir den heutigen Wohnungsbauflächenanteil der Niederlande erreicht. Bei durchschnittlicher Bebauung stünden aber bereits heute, nach zehn Jahren, 5% mehr Wohnungen zur Verfügung.

Insofern ist evident, dass die Änderung der Flächennutzungspolitik der letzten zehn Jahre ihre Spuren in Grundstückspreisen und Mieten hinterlassen hat. Mieten wie Grundstückspreise sind explodiert. Dies hat die Vermögensungleichheit vergrößert, schränkt die Mobilität von Arbeitnehmern ein und verschärft die Probleme des Sozialsystems mit seinen hohen Transferentzugsraten: Erstens sind höhere Immobilienpreise im Interesse der Immobilieneigentümer. Die obere Mittelschicht und Oberschicht profitieren von einer Politik knappen Baulands. Zweitens wird sich, wer ein Jobangebot hat, das einen Umzug nötig macht, zweimal überlegen dieses anzunehmen, wenn er seinen alten, günstigen Mietvertrag aufgeben muss. Drittens und letztens bedeuten höhere Mieten auch höheres Wohngeld beziehungsweise höhere Kosten der Unterkunft im Bürgergeld, so dass weniger davon übrigbleibt, wenn man als Bürgergeldbezieher, stellen wir uns einen Alleinerziehenden vor, seine Arbeitsstunden mühevoll ausweitet. Knappes Bauland, das zu knappem Wohnraum führt, hat also auch noch Kollateralschäden im Arbeitsmarkt.

Auch ständig steigende Anforderungen an den Neubau führen zu Wohnraumverknappung, weil niedriggeschossige Bauten nicht durch höhere Neubauten ersetzt werden. Man muss sich klar machen, dass ein „Energiestandard A“ Haus zwar doppelt so hohe Heizkosten hat wie ein Haus des „Energiestandards C“, aber dessen Heizkosten sind mit rund 10€/qm und Jahr schon so niedrig, dass wirtschaftlich eine Halbierung der Heizkosten höchstens 100€/qm zusätzliche Investitionen kosten darf, will man 3% Zinsen und 2% Abschreibung erwirtschaften. Selbst bei wesentlich höheren Energiepreisen wären viele energetische Vorgaben im Neubau unwirtschaftlich. Profan gesagt: sie sind Verschwendung knapper Ressourcen, die man an anderer Stelle auch für den Klimaschutz sinnvoller einsetzen könnte. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass mit dem ETS II die Menge der EU-weiten CO2 Emissionen im Wohnungsbereich ohnehin völlig von deutschen Wohnungsregulierungen entkoppelt sein wird. Die Menge der Zertifikate gibt die ausgestoßene CO2-Menge vor, der Erfindungsreichtum des Einzelnen legt fest, wo das CO2 zuerst eingespart wird.

Deregulierung des Wohnungsbaus, eine Umkehr in der Flächennutzungspolitik und eine Änderung des Bauplanungsrechtes, welches z.B. eine Sollgenehmigung für eine Überschreitung von Geschossflächenzahlen alter Bebauungspläne vorsehen könnte, würden soziale Probleme mildern, den Arbeitsmarkt mobilisieren und auch kurzfristig über die Bauindustrie die Konjunktur beleben. Die Vorstellung, Flächenverbrauch sei des Teufels, erscheint dagegen als Echo aus Zeiten schrumpfender statt wachsender Bevölkerung. Dem Umwelt- und Klimaschutz täte eine solche Bauinitiative keinen Abbruch.

Ein letztes Beispiel, welches nicht unbedingt etwas kosten muss, aber Wachstum fördert, ohne soziale Unwuchten zu schaffen, sind Änderungen im Transfersystem. Für Familien mit mehreren Kindern bleibt bis weit in die Einkommensverteilung hinein nur sehr wenig zusätzlich von jedem verdienten Euro übrig. Mit jedem selbst verdienten Euro sinken die Transfers—anfangs das Bürger-, dann das Wohngeld—und gleichzeitig fängt man vom ersten Euro an, Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen. Dem steht oft kein Mehr an Leistungen gegenüber. Krankenversichert ist man sowieso, insofern wirkt der Krankenversicherungsbeitrag für jeden wie eine Steuer. Auch in der Rentenversicherung gewinnt man erst dann im Alter dazu, wenn man aus der Grundsicherung herauswächst. Hier sollte man ansetzen.

Eine steuerliche Rückzahlung der ersten 4000€ p.a. Sozialabgaben des Arbeitnehmers, eine negative Steuer in Höhe der Sozialabgaben, würden Mindestlohnempfänger effektiv von der Sozialversicherung befreien und deren Einkommen drastisch anheben. Zur Gegenfinanzierung könnte man die Steuerzuschüsse der Sozialversicherungen einfach in gleicher Höhe senken. Mit der steuerlichen Rückzahlung würden auch gleichstellungspolitisch problematischen Minijobs entbehrlich. Innerhalb der Sozialversicherung müssten zwar ausfallende Transfers des Bundes durch eine Erhöhung der Bemessungsgrenzen und/oder der Beitragssätze ausgeglichen werden, aber für die meisten Beitragszahler wäre dies dennoch eine Entlastung. Der Clou in diesem Kontext wäre, dass ein Großteil der Steuerrückzahlung sich ohnehin durch einen Mehranreiz für Arbeit selbstfinanzieren würde. Sie wäre, salopp gesagt, eine „Arsch-Hoch-Prämie auf Speed“.

 

Prof. Dr. Christian Bayer, Universität Bonn