Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik in einer marktliberalen Welt

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Deutschland steckt in einer Dauerkrise. Nach zwei Jahren Coronakrise hatten die Menschen auf ein halbwegs normales Leben gehofft, doch dann kam die Energiekrise und brachte die höchsten Reallohnverluste der Nachkriegsgeschichte. Zudem erfordert die Klimakrise eine fundamentale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, und der Energiepreisschock hat den Transformationsdruck nochmals verstärkt. Es herrscht eine große Verunsicherung im Land und rechtspopulistische Ideen gewinnen an Zustimmung.

Die SPD-geführte Ampelregierung ist nicht verantwortlich für den Krieg in der Ukraine und den damit verbundenen Energiepreisschock, aber sie ist verantwortlich für die finanz- und wirtschaftspolitische Antwort. Und diese Antwort war geprägt von zahlreichen Fehlentscheidungen, die der Wirtschaft geschadet und die Gesellschaft polarisiert haben. Mit einer besseren Krisenpolitik hätte es keine Rezession 2023 gegeben, wir würden jetzt einen wirtschaftlichen Aufschwung erleben und die Zustimmungswerte für die AfD wären niedriger.

Nun werden viele Regierungsvertreter der SPD sagen: Wir haben Schlimmeres verhindert, und mehr war mit der FDP nicht zu machen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Der andere Teil der Wahrheit ist, dass wir in einer marktliberalen Welt leben, und dass ein gewisser Marktfundamentalismus auch in großen Teilen der SPD salonfähig ist. Aber Marktliberalismus und Sozialdemokratie sind gegensätzliche Gesellschaftskonzepte, die sich in wesentlichen Punkten widersprechen. Der Versuch, diesen Widerspruch aufzulösen und die beiden Strömungen in der SPD zu vereinen, ist zum Scheitern verurteilt und wird langfristig zu einem Bedeutungsverlust der SPD als sozialdemokratische Bewegung führen.

In dem aktuellen Buch „Fehldiagnose“ zeige ich, wie stark die Krisenpolitik der Ampelregierung von marktliberalen Denkmustern geprägt war – sie war ab dem Frühjahr 2023 überwiegend eine FDP-Politik mit rot-grünen Tupfern. Doch Marktliberalismus als wirtschaftspolitische Agenda funktioniert nur in der Märchenwelt der Ökonom:innen, und als die marktliberale Politik der Ampelregierung auf die ökonomische Realität prallte, hatte dies desaströse Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft.

Fehldiagnosen und ihre Folgen

Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine gab es vier ökonomische Fehldiagnosen und entsprechende politische Fehlentscheidungen, die letztlich zu der aktuellen Wirtschaftskrise beigetragen haben. Anders gesagt: Wir spüren jetzt die Spätfolgen einer schlecht gemanagten Energiekrise.

Erstens lehnen die meisten Ökonom:innen und die FDP Energiepreisbremsen grundsätzlich ab, weil sie fälschlicherweise glauben, dass auch in Krisenzeiten die Preissignale voll wirken müssten – der Markt hat angeblich immer recht. Diese Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen in das Preissystem führte dazu, dass die Ampelregierung zu lange mit der Einführung der Gas- und Strompreisbremse zögerte und die AfD im Sommer/Herbst 2022 stark an Zustimmung gewinnen konnte. Darüber hinaus gab es für gewerbliche Energieverbraucher nur eine unwirksame Pseudo-Preisbremse. Die Industrie war also dem Energiekostenschock schutzlos ausgeliefert, und die Produktion und Investitionen wurden entsprechend runtergefahren.

Zweitens hat die Mehrzahl der Ökonom:innen die Folgen der Energiekrise fahrlässig unterschätzt, weil sie in einer marktliberalen Märchenwelt leben, in der sich Menschen und Unternehmen schnell und problemlos an hohe Energiepreise anpassen können. Dieses verzerrte Weltbild führte dazu, dass große Teile der Ökonomenzunft zusammen mit der Ampelregierung die Krise bereits im Frühjahr 2023 für beendet erklärten. Doch die Lebensrealität der Menschen sah anders aus. Die Diskrepanz zwischen ökonomischer Realität und den politischen Äußerungen erzeugte Unmut in der Bevölkerung, und gab der AfD weiteren Auftrieb. Zudem konnte Christian Lindner im Frühjahr 2023 eine „Normalisierung“ der Finanzpolitik ausrufen, weil die Krise angeblich vorbei war – ohne Krise keine Krisenpolitik. Die restriktive Finanzpolitik der Ampelregierung hatte zur Folge, dass 2023 keine nennenswerten wirtschaftspolitischen Impulse gesetzt werden konnten und die wirtschaftliche Erholung ausblieb.

Drittens sind marktliberale Ökonom:innen und die FDP aus ideologischen Gründen gegen eine grüne Industriepolitik nach US-amerikanischem Vorbild. Denn sie glauben, dass ein hinreichend hoher CO2-Preis in Kombination mit magischen Marktkräften ausreichen würde, um die notwendige Transformation der Industrie erfolgreich zu gestalten. Doch die ökonomische Realität sieht anders aus: Ohne eine durchdachte Förderpolitik zieht die Industrie ins Ausland und die deutsche Wirtschaft leidet. Das wissen auch Bundeskanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck, und deshalb unterstützen sie — gegen die Widerstände vieler Ökonom:innen — eine grüne Industriepolitik. Doch die Industriepolitik der Ampelregierung ist häufig planlos und widersprüchlich, weil das übergreifende ökonomische Konzept fehlt und vieles Stückwerk bleibt. Das zeigt, dass schlechte wirtschaftspolitische Beratung — Industriepolitik nur mit „Bauchschmerzen“ – oft zu einer schlechten Wirtschaftspolitik führt — Industriepolitik ohne kohärenten Plan.

Viertens sind die meisten Ökonom:innen und große Teile der Politik nicht gewillt, sich ernsthaft mit den Aufgaben und Wirkungsweisen von Gewerkschaften und Mindestlöhnen auseinanderzusetzen. Gewerkschaften sind keine Lobby-Gruppe für Spezialinteressen und der Mindestlohn ist vornehmlich kein Instrument der Sozialpolitik, wie es häufig in der öffentlichen Debatte behauptet wird.  Gewerkschaften und Mindestlohn sind essentielle Institutionen der Sozialen Marktwirtschaft zum Ausgleich asymmetrischer Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt. Sie sorgen dafür, dass die vielen abhängig Beschäftigten – die große Mehrheit der Gesellschaft – einen angemessenen Anteil am produzierten Mehrwert erhalten. Die Stärkung der Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerseite ist nicht nur zentral für eine gerechte Verteilung der Markteinkommen, sondern sie steigert langfristig auch die Produktivität und das Wirtschaftswachstum. Anders gesagt: Die Produktivitätspeitsche wirkt! Doch die Mehrzahl der Ökonom:innen können oder wollen dies nicht sehen, weil Macht in ihrer marktliberalen Fantasiewelt nicht vorkommt. Diese ideologisch motivierte Realitätsverweigerung der Ökonomenzunft und der marktliberalen FDP führte in der aktuellen Legislaturperiode dazu, dass keine nennenswerten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen umgesetzt werden konnten.

Der Weg aus der Misere  

Die Mehrzahl der Ökonom:innen haben die Energiekrise falsch diagnostiziert und sie liegen auch jetzt wieder falsch, wenn sie versuchen, die aktuell schwierige wirtschaftliche Lage hauptsächlich mit dem Alter und der Faulheit der Beschäftigten zu erklären. Es sind Fehldiagnosen, die leider von Teilen der Medien unkritisch übernommen wurden. Der Weg aus der gegenwärtigen Misere erfordert eine ehrliche Auseinandersetzung mit solchen Fehlanalysen und den damit verbundenen politischen Fehlentscheidungen. Kritik der gegenwärtigen Verhältnisse ist nicht Selbstzweck, sondern der erste Schritt in eine bessere Zukunft.

Deutschland braucht einen neuen politischen Ansatz, der die Sorgen der Menschen ernst nimmt und gleichzeitig eine positive Zukunftsvision bietet. Dazu muss die Politik die Märchenwelt der selbstregulierenden Märkte hinter sich lassen und das alte Marktdogma durch eine realistische Theorie von Wirtschaft und Gesellschaft ersetzen. In dieser neuen Theorie spielen Unsicherheit (John Maynard Keynes), Anpassungskosten (Karl Polanyi) und Marktmacht (Karl Marx) eine zentrale Rolle. Das Ergebnis eines solchen Paradigmenwechsels ist eine Politik, die ökonomische Vernunft und soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt rückt. Dieser Ansatz steht im krassen Widerspruch zum marktliberalen Fundamentalismus mit seinen realitätsfremden Annahmen und gefährlichen Schlussfolgerungen, wie er immer noch die öffentlichen Debatten und große Teile der Politik dominiert.

Ganz konkret muss sich die Bundesregierung auf einige wichtige Maßnahmen konzentrieren und diese konsequent und ohne Rücksicht auf die üblichen Nebelkerzen umsetzen. Eine solche Maßnahme ist eine Strompreisgarantie bzw. eine Strompreisbremse bis mindestens 2030 für alle privaten Haushalten und Unternehmen – nicht nur für die energieintensive Industrie. Zudem erfordert die ökonomische Vernunft massive öffentliche Investitionen in die Infrastruktur, einen großvolumigen Investitionsbooster für den Mittelstand und eine stringente Industriepolitik. Einen konkreten Plan dafür skizziere ich in meinem Buch. Der Mindestlohn sollte bis 2026 auf 15 Euro erhöht und das Mindestlohngesetz verbessert werden. Schließlich muss ein effektives Bundestariftreuegesetz kommen und staatliche Investitionszuschüsse sollten an die Lohnzahlung gekoppelt werden, damit die Löhne steigen und die abhängig Beschäftigten einen fairen Anteil an dem produzierten Mehrwert erhalten. Ein solcher Fair New Deal würde den Wirtschaftsstandort und die soziale Gerechtigkeit stärken – und wahrscheinlich auch der AfD ein wenig den Wind aus den Segeln nehmen.

Der Marktliberalismus kommt durch die Hintertür

Der hier skizzierte Plan, den ich im Buch ausführlich beschreibe, ähnelt stark den Vorschlägen im wirtschaftspolitischen Strategiepapier, das der SPD-Parteivorstand kürzlich beschlossen hat (SPD, 2024). Auf den ersten Blick scheint dies meine These zu widerlegen, dass der Marktliberalismus seinen Siegeszug auch in der SPD fortgesetzt hat. Doch der Teufel steckt — wie so oft — im Detail.  Ein zweiter Blick auf das Strategiepapier zeigt, dass marktliberale Konzepte über die Hintertür ihren Weg in das SPD-Papier gefunden haben. Die folgenden drei Beispiele stehen stehlvertretend für die grundsätzliche Problematik, in einer marktliberalen Welt eine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik zu formulieren und umzusetzen.

Das Strategiepapier verspricht zurecht: „Wir werden verlässlich und dauerhaft verhindern, dass die Netzentgelte für Unternehmen und Privathaushalte weiter steigen und damit Planungssicherheit für Unternehmen schaffen.“ Eine Strompreisgarantie für alle Privathaushalte und Unternehmen ist der ökonomisch vernünftige und sozial gerechte Weg, dieses Versprechen einzulösen. Diese Garantie ist die einzige Möglichkeit, um die hohe Unsicherheit hinsichtlich zukünftiger Netzentgelte effektiv zu reduzieren und verspieltes Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Anders gesagt: Die Strompreisgarantie ist die staatliche Versicherung gegen ein Risiko, dass die Politik selbst geschaffen hat. Doch die Mehrzahl der Ökonom:innen und große Teile der Medien sehen in dieser Maßnahme den ersten Schritt in die sozialistische Mangelwirtschaft, und auch im Kanzleramt werden Strompreisbremsen eher kritisch gesehen. Womit sich die Frage stellt: Ist die SPD in der Lage, eine wirtschaftlich vernünftige und extrem populäre Strompreisgarantie in ihr Programm aufzunehmen? Oder werden die marktliberalen Bedenkenträger letztlich die Oberhand behalten?

Der Erhalt und die Ausweitung der öffentlichen Infrastruktur ist aktuell eines der drängendsten Probleme in Deutschland. Im SPD-Papier heißt es richtigerweise: „Deutschlands Infrastruktur braucht ein Update“. Es ist eine zutiefst sozialdemokratische Idee, dass der Staat für eine qualitativ hochwertige und zugleich bezahlbare Infrastruktur sorgt. Umso überraschender ist es, dass im Strategiepapier des SPD-Parteivorstands indirekt die Teilprivatisierung dieser öffentlichen Aufgabe gefordert wird: „Darüber hinaus werben wir für die Einrichtung eines Deutschlandfonds, um privates und öffentliches Kapital für Zukunftsinvestitionen zu mobilisieren.“ In der Praxis bedeutet diese Vermischung, dass private Investmentfonds wie BlackRock und Union Investment eine risikofreie Rendite von acht bis zehn Prozent erhalten, obwohl die Finanzierungskosten des Bundes derzeit bei knapp über zwei Prozent liegen. Anders gesagt: Privates Kapital bereichert sich auf Kosten der vielen, hart arbeitenden Menschen in Deutschland, die letztlich die Zeche zahlen müssen – entweder über höhere Netzentgelte oder über höhere Zuschüsse. Warum fordert eine sozialdemokratische Partei den ökonomisch sinnlosen und politisch gefährlichen Ausverkauf der öffentlichen Infrastruktur?

Schließlich ist auch der Mindestlohn ein Thema im SPD-Vorstandsbeschluss. Dazu heißt es „Wir sind dafür, dass der Mindestlohn zügig und schrittweise auf 15 Euro steigt“. Diese Forderung ist richtig, aber sie wäre glaubwürdiger, wenn nicht die SPD-geführte Ampelregierung eine Mini-Erhöhung des Mindestlohns von 12 Euro auf 12,41 Euro im Jahr 2023 beschlossen hätte. Damals haben Bundeskanzler und Arbeitsminister den Vorschlag der Mindestlohnkommission, der gegen die Stimmen der Arbeitnehmervertreter in der Kommission zustande kam, klaglos angenommen und umgesetzt. Die Millionen Beschäftigten im Niedriglohnsektor hätten es der SPD sicherlich gedankt, wenn sie mehr Mut bewiesen und den arbeitnehmerfeindlichen Vorschlag der Kommissions-Mehrheit abgelehnt hätten. Nun ist das Vertrauen verspielt, und ein Bundestagswahlkampf „SPD fordert 15 Euro Mindestlohn“ wird kaum die erhoffte Wirkung entfalten. Nach dem 2023 erlebten Fiasko braucht es eine Reform des Mindestlohngesetzes, um Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Ein konkreter Vorschlag für eine solche Reform wird in meinem aktuellen Buch diskutiert.

Der Blick nach vorn

Deutschland steht vor einer Herkulesaufgabe, die sich nicht mit einer Politik der kleinen Schritte bewältigen lässt. Der Staat muss mutig sein und die Grundlage für eine Wirtschaftswende schaffen, indem er die Richtung vorgibt und die Beschäftigten und Unternehmen im Transformationsprozess aktiv unterstützt. Die SPD kann und muss dabei eine zentrale Rolle spielen. Doch dies wird nur gelingen, wenn sie sich konsequent zu ihren sozialdemokratischen Prinzipien bekennt und dem gängigen Marktliberalismus die Stirn bietet. Der Versuch, eine marktliberale SPD mit Anschlussfähigkeit bei den Mainstream-Ökonom:innen zu schaffen, ist zum Scheitern verurteilt und wird die SPD als sozialdemokratische Kraft in die Bedeutungslosigkeit stürzen.

SPD (2024) Beschluss des SPD-Parteivorstandes vom 13. / 14.10.2024: „Wir kämpfen für Deutschlands Zukunft: Wirtschaft ankurbeln, Arbeitsplätze sichern, Beschäftigte entlasten“

Krebs (2024): „Fehldiagnose: Wie Ökonomen die Wirtschaft ruinieren und die Gesellschaft spalten“.