Ein europäisches Manifest – ein Appell an die nächste US Präsidentin oder US Präsidenten
Dieses Manifest ist ein Appell an die neue US Präsidentin oder US Präsidenten anläßlich der Wahlen in den USA am 5 November. Führende strategische Köpfe aus Politik, Diplomatie, Parlamenten und Militär erklären, wie sich das Verteidigungsbündnis angesichts der Herausforderung durch den russischen Angriff auf die Ukraine und die damit einhergehende Bedrohung des Westens verändern muß, um die USA und Europa auch in Zukunft geeint zu wissen. Zu den 13 prominenten Ko-Autoren/Autorinnen gehören die früheren Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski (Polen), Toomas Ilves (Estland), der frühere rumänische Ministerpräsident Razvan Ungureanu, der ehemalige spanische Verteidigungsminister Eduardo Serra Rexach, die frühere bulgarische Außenministerin Nadezhda Michailova und der frühere britische Europaminister Denis MacShane. Aus Frankreich ist Admiral Jacques Lanxades, ehemaliger General-Inspekteur der französischen Streitkräfte dabei. Aus Deutschland hat neben den beiden Initiatoren, Professor Margarita Mathiopoulos, Unternehmerin, ehemalige FDP-Außenpolitikerin und Mitglied im SPD-Wirtschaftsforum, sowie dem ehemaligen Bundeswehr-Generalinspekteur und Vorsitzenden des NATO Militärausschusses, General a.D. Klaus Naumann, auch der CDU-Außenpolitiker und langjährige Europaabgeordnete Elmar Brok mitgewirkt. Das Manifest ist in Washington DC vom ATLANTIC COUNCIL und in Paris von MODERN DIPLOMACY veröffentlicht worden.
Der Washingtoner Gipfel zum 75. Jubiläum der NATO war eine beeindruckende Manifestation der transatlantischen Allianz und ihres Erfolgs, die Transformation vom 20. ins 21. Jahrhundert zu meistern. Das ist die gute Nachricht.
Heute aber leben wir in einer neuen Welt voller multipler strategischer Unsicherheiten, Instabilitäten und Herausforderungen. Der Krieg, den Vladimir Putin gegen den Westen entfacht hat, indem er 2022 in die Ukraine einmarschiert ist, Chinas Aufstieg zur zweiten globalen Macht neben den USA, eine feindlich gesinnte Moskau-Peking Achse gegenüber dem Westen, wachsende Droh-Gebärden von Schurken-Staaten wie den Iran und Nord-Korea, und die andauernde katastrophale Krise im Nahen Osten spiegeln ein unberechenbares und höchst unstabiles geopolitisches Umfeld. Und in Europa ist die Lage so ernst wie noch nie in den letzten 75 Jahren. Das neo-revanchistische Gebaren des russischen Präsidenten, immer wieder gespickt mit imperialen nuklearen Erpressungsversuchen, macht deutlich, daß es ihm nicht nur um die Eroberung ukrainischen Gebiets geht. Tatsächlich führt er seit dem völkerrechtsdrigen Angriff auf die Ukraine einen Rachefeldzug gegen den verhassten Westen. Putin’s Narrativ, daß der Westen Rußland in den letzten 30 Jahren immer wieder gedemütigt hat, ist altbekannt. Neu ist, daß er sich heute für militärisch stark genug hält, den Sicherheitsbund zwischen Europäern und Amerikanern zu brechen.
Daher beschreiben wir in einem europäischen Manifest, warum eine Neue NATO imperativ ist: um die Amerikaner an Bord zu halten, ist eine Europäisierung der NATO das Gebot der Stunde. Ohne die Amerikaner wird die NATO aufhören zu existieren. Und ohne die NATO wird die kollektive europäische Sicherheitsstruktur kollabieren. Wenn wir dann im Krieg mit Rußland erwachen sollten, dann wird jeder für sich und niemand für den anderen kämpfen. Dann wäre Europa wieder da, wo es vor 100 Jahren war.
Was bedeutet eine Neue NATO, und was ist zu tun von den Europäern, aber auch von den Amerikanern.
Erstens brauchen wir eine europäische Verteidigungskonsolidierung. Wir müssen die innovativen europäischen militärisch-technologischen und industriellen Bereiche stärken und die Beschaffungsbasis in Europa harmonisieren, damit in einem worst-case-scenario die benötigten Fähigkeiten vorhanden sind. Wir brauchen aber auch eine beschleunigte transatlantische Verteidigungskonsolidierung: die Amerikaner müssen ihr Zögern überwinden und ihre Verteidigungsfähigkeiten in die NATO-Streitkräfte integrieren. Nur so kann eine vollständige Interoperabilität aller NATO-Streitkräfte gewährleitet werden. Das impliziert „friend-sourcing“, transatlantische Produktions-Diplomatie sowie Resilienz der Lieferketten.
Zweitens, in den letzten 30 Jahren haben Amerikaner und Europäer über die Notwendigkeit von „burden-sharing“ debattiert. Heute ist das Thema „Lastenteilung“ zu einer Frage des Überlebens der NATO geworden. Das bedeutet konkret, daß alle 32 Mitgliedstaaten – so lobenswert es auch ist, daß in diesem Jahr 23 von den 31 Staaten das militärische Ausgaben- Ziel von 2% erreichen – in naher Zukunft dafür Sorge tragen müssen, eine substantielle konventionelle Aufrüstung ihrer Streitkräfte zu Land, zur Luft und zur See mit entsprechenden Fähigkeiten so aufzustellen, daß ein potentieller Aggressor – für absehbare Zeit bleibt es Vladimir Putin – glaubhaft abgeschreckt werden kann. Das bedeutet übersetzt in NATO-Strategie: die Europäer müssen 50% aller konventionellen Streitkräfte und strategischen Fähigkeiten liefern, die zur Abschreckung und Niederlage eines Großmacht-Aggressors notwendig sind. Heute werden 68% des NATO-budgets von den Amerikanern aufgebracht, 32% von den Europäern. Dieses Ungleichgewicht ist für jede zukünftige US Präsidentin oder US-Präsidenten, nicht nur für Donald Trump, unhaltbar vis a vis der neuen multiplen Herausforderungen, mit denen sich die Amerikaner in Asien oder im Nahen Osten konfrontiert sehen. Die großen player in der NATO, Großbritannien, Frankreich und Deutschland werden mehr schultern müssen als die kleineren Länder. London hat bereits verkündet, daß es seinen NATO-Beitrag auf 2,5% aufstocken will. Was Berlin angeht, so hat es im Kalten Krieg 3,5 bis 4 Prozent seines BIP für die Verteidigung aufgewandt ohne daß dabei das Land unsozial oder militaristisch geworden wäre. Die Zukunft der Allianz wird entscheidend von der Rolle Deutschlands und seiner politischen Bereitschaft, Verantwortung für eine signifikante Aufstockung seiner militärischen Fähigkeiten zu übernehmen , um den europäischen Pfeiler der NATO zu stärken, abhängen. Daß Berlin am Rande des NATO-Gipfels in Washington eine Vereinbarung mit den Amerikanern getroffen hat, 2026 landgestützte US-Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren, ist ein wichtiger Schritt, Fähigkeitslücken zu schliessen.
Drittens, ausgelöst durch die wirren und unverantwortlichen Aussagen des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, die NATO in Zukunft schwächen zu wollen, hat in den europäischen Hauptstädten eine offene Debatte über eine erweiterte glaubhafte nukleare europäische Abschreckung begonnen. Um Putin‘s unverantwortlichen nuklearen Erpressungs-Drohungen basierend auf Moskaus beträchtlichem Nuklear-Arsenal entgegenzutreten, schlagen wir als ersten Schritt vor, daß der neue NATO Generalsekretär, Mark Rutte, die Kündigung der Bindung aus der NATO Rußland Akte, keine Atomwaffen in Beitrittsländern nach 1997 zu stationieren, der Allianz nahelegt. Die Begründung dafür ist klar: Rußland hat mit seiner Stationierung von Kurzstreckenraketen in Belarus und mit den nuklearfähigen Mittelstreckenraketen Iskander und den Überschall-Raketen Kinshal in Kaliningrad den IMF Vertrag verletzt, die NATO Ost-und Nord-Allierten somit einer direkten Bedrohung ausgesetzt, und damit eine vor 1997 nicht bestehende Realität geschaffen. Wir schlagen als einen zweiten Schritt vor, um die Fähigkeitslücke vis a vis Rußlands zunehmender nuklearer Aufrüstung zu schließen, eine vertiefte Analyse und gründliche Debatte unter den NATO Partnern über die operationalen und strategischen Risiken und Vorteile einer Stationierung von taktischen amerikanischen Nuklearwaffen in Polen, Rumänien und Bulgarien zu starten, insbesondere im Lichte der sich weiterentwickelnden russischen Nuklear-Doktrin. Die polnische Debatte dazu ist in vollem Gang. Im Juli wurden zwei nuklear-fähige B-52s Bomber in einer rumänischen Militär-Basis der NATO stationiert. In Bulgarien hat eine Diskussion hinter verschlossenen Türen begonnen. Als dritten Schritt schlagen wir vor, daß Deutschland den Vorschlag machen sollte, eine europäische, mit amerikanischen Waffen ausgerüstete multinationale, schnell verlegbare NATO Strike Component Force aufzustellen. Dieser Vorschlag würde sich zuerst an die Länder der heutigen nuklearen Teilhabe richten und würde vorsehen, landgestützte Raketensysteme mit Reichweiten bis etwa 2000 km, luftgestützte cruise missile und U-Boot gestützte Kurz-und Mittelstreckenraketen zu beschaffen und einsatzbereit zu machen. Deutsche U-Boote könnten auch amerikanische Waffen tragen, da ein solches Arrangement weder den Atomwaffensperrvertrag, den Deutschland unterzeichnet hat, noch den Zwei plus-Vier-Vertrag zur Deutschen Einheit, verletzen würde. In einem vierten Schritt schlagen wir die Gründung einer neuen multilateralen NATO nuclear planning force group vor, die die derzeitige NATO nuclear planning group (in der Frankreich kein Mitglied ist) ersetzen soll. Die Länder mit nuklearer Teilhabe: die USA, Großbritannien, Frankreich (das hier Mitglied werden sollte), Deutschland, Italien, die Niederlande, die Türkei, Polen, Rumänien und Bulgarien würden dieses Format nutzen, um eine erweiterte amerikanisch-europäische nukleare NATO Abschreckungs-Politik zu koordinieren und zu implementieren, und somit Moskau demonstrieren, daß kollektive Verteidigung sowohl auf konventioneller wie nuklearer Ebene funktioniert. Die Botschaft von NATO Generalsekretär Mark Rutte an Vladimir Putin muß klar zum Ausdruck bringen, daß diese Schritte durch Rußlands Vertragsverletzungen, seinen Krieg gegen die Ukraine, und seinen imperialen nuklearen Drohungen gegen den Westen ausgelöst wurden. Das Prinzip der Allianz bleibt unverändert: Es gilt, daß die NATO auch weiterhin als defensives Bündnis nur in Abwehr von Angriffen aller Art handelt; aber jeder Aggressor muß wissen, daß er mit unermesslichem Schaden auf seinem Staatsgebiet rechnen muß, wenn er auch nur einen Meter eines NATO-Staates angreift. Durch die Schließung von NATO Fähigkeitslücken öffnet sich gleichzeitig die Tür für potentielle Rüstungskontroll-Gespräche mit Rußland: das kann die positive Botschaft von Mark Rutte an Vladimir Putin sein.
Kein Zweifel, in Zukunft wird die „transatlantische co-habitation“ ansspruchsvoller, aber auch reifer werden, nicht nur innerhalb des Bündnisses. Die Amerikaner wissen ganz genau, daß die NATO und auch andere militärische Bündnisse keine Wohltätigkeits-Akte sind und auch nicht aufgrund warmer Gefühle gegenüber den Europäern gegründet wurden. Das NATO-Bündnis dient nicht nur vitalen europäischen Sicherheitsinteressen, sondern massiv auch nationalen amerikanischen Sicherheitsinteressen. Die NATO aufzugeben würde bedeuten, daß Washington sich als globale Macht verabschiedet. Wir sind davon überzeugt, daß jeder US-Präsident das versteht.
Autorinnen und Autoren:
Elmar Brok, former Chairman of the European Parliament Committee on Foreign Affairs; Senior Fellow ASPEN Germany
Charles Grant, Co-Founder and Director of the Centre for European Reform; former Brussels bureau chief of the ECONOMIST and former defense editor of the ECONOMIST
Ambassador Istvan Gyarmati, former Deputy Minister of Defense of Hungary; Univ.-Professor; initiator of the NATO Manifesto
Toomas Ilves, former President of Estonia
Aleksander Kwasniewski, former President of Poland
Admiral Jacques Lanxade, former Joint Chief of Staff of the French Armed Forces; former defense advisor to President Francois Mitterrand
Denis MacShane, former Europe Minister; former Labour MP
Professor Margarita Mathiopoulos, CEO, ASPIDE Technology; Prof.em.US Foreign and Security Policy at Potsdam Univ.; foreign policy advisor to the Chairman of the German FDP 2002-2011; initiator of the NATO Manifesto
Ambassador Nadeshda Michailova, former Minister of Foreign Affairs of Bulgaria; former Member of the European Parliament
General ret. Klaus Naumann, former Chairman of the Military Committee of NATO; former Joint Chief of Staff of the German Armed Forces; initiator of the NATO Manifesto
Eduardo Serra Rexach, former Minister of Foreign Affairs and former Minister of Defense of Spain
Mihai Razvan Ungureanu, former Prime Minister and former Minister of Foreign Affairs of Romania
Professor Rob de Wijk, Founder, The Hague Centre for Strategic Studies (HCSS); Professor of International Relations and Security at
Leiden Univ. and Professor of International Relations at the Royal Netherlands Military Academy)