Die Feststellung, dass „die Industriepolitik zurück ist“, ist mittlerweile längst nichts Neues mehr. Damit hat sich die Debatte enorm schnell verändert. Noch 2019 wurde die Industriepolitik in einem Arbeitspapier des Internationalen Währungsfonds (IWF) als „Politik, die nicht genannt werden darf“ bezeichnet (Cherif & Hasanov, 2019), und Ökonomen versuchten regelmäßig, die Diskussionen über Industriepolitik auf breitere und allgemeinere wachstumsfördernde Maßnahmen zu lenken (Enderlein et al., 2019). Doch im Jahr 2024 gibt es nicht nur zahlreiche Belege für die wachsende Verbreitung industriepolitischer Maßnahmen rund um den Globus (Juhász et al., 2022), sondern es ist auch ein neues Wiederaufleben der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung zu diesem Thema zu beobachten.1
In allen wichtigen Volkswirtschaften der Welt gibt es inzwischen zahlreiche industriepolitische Initiativen. Bereits 2015 startete China seine Strategie „Made in China 2025“, mit der das Land seine ohnehin langjährig und aktiv eingesetzte Industriepolitik auf neue Ziele drehte – auf das Erreichen einer Technologieführerschaft in wichtigen Schlüsselsektoren und das Ersetzen technologisch fortgeschrittener Importe durch im Inland produzierte Waren. In den USA wurde mit dem Inflation Reduction Act (IRA) der Regierung Biden und dem CHIPS Act ein ganzes Portfolio von Instrumenten zur Förderung von Investitionen und Produktion in den Bereichen Erneuerbare Energien und Elektromobilität, einschließlich Batterien und Halbleiter, eingeführt. Auch die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben mit Initiativen wie dem Net Zero Industry Act (NZIA), der Ausweitung der Subventionen und der Unterstützung von Important Projects of Common European Interest (IPCEI) und generell mit einem größeren Spielraum für nationale Beihilfen zur Förderung einzelner Unternehmen oder bestimmter Sektoren reagiert.
Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrages ist noch nicht abzusehen, welche Ergebnisse diese industriepolitischen Initiativen letztendlich bringen werden. Während eine gründliche Analyse der Auswirkungen industriepolitischer Maßnahmen mit gravierenden Identifikationsproblemen zu kämpfen hat (Juhász et al., 2024), deuten die Indizien auf erste Erfolge des IRA hin, zumindest wenn es um die Förderung von Photovoltaik- und Batterieanlagen sowie die Produktion von Batterien für batterieelektrische Fahrzeuge in den Vereinigten Staaten geht (Bauermann et al., 2024). Darüber hinaus werden die jüngsten Technologie- und Exporterfolge in China häufig auf die im Rahmen der Strategie „Made in China 2025“ umgesetzten Maßnahmen zurückgeführt.
Skeptiker weisen auf eine Reihe von Risiken und Herausforderungen bei diesen industriepolitischen Initiativen hin. Erstens sind die derzeitigen industriepolitischen Initiativen fiskalisch teuer. In vielen Fällen gibt es keine angemessene Kosten-Nutzen-Analyse. Im Zusammenhang mit der Frage der fiskalischen Kosten besteht auch immer die Gefahr eines Kaperns des politischen Prozesses und der Implementierung der Industriepolitik durch den Unternehmenssektor. Unternehmen könnten versuchen, industriepolitische Programme so zu beeinflussen, dass ihre jeweiligen Sektoren von Förderungen profitieren. Die Unternehmen in den Zielsektoren könnten zudem versuchen, die Bedingungen für die Förderungen aufzuweichen und die industriepolitische Unterstützung auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Handelspolitische Maßnahmen, die mit Blick auf industriepolitische Ziele durchgeführt werden, könnten die Verbraucherpreise erhöhen und zu Ineffizienzen in der Wirtschaft führen. Wenn der Industriepolitik Vorrang vor der Integrität des Welthandelssystems eingeräumt wird, könnte dies zu einer Verschlechterung der regelbasierten, multilateralen Handelsordnung und letztlich zu einem Rückgang des internationalen Handels und zu Verlusten bei den Handelsgewinnen führen.
In diesem Beitrag werden die Gründe für das erneute Interesse an der Industriepolitik untersucht. Er weist auf einige der Herausforderungen hin, skizziert die notwendigen Bedingungen für eine erfolgreiche europäische Politik und zeigt auf, wo die bestehende Landschaft der Industriepolitik in der EU in Bezug auf diese Kriterien Defizite aufweist.
Warum Industriepolitik und warum jetzt?
Das klassische ökonomische Argument, wann Industriepolitik eingesetzt werden sollte, basiert auf der Idee ökonomischer Effizienz: Wenn die Marktergebnisse ohne staatliche Eingriffe aufgrund von Marktversagen nicht optimal sind, sollten staatliche Eingriffe in Betracht gezogen werden. Wenn davon auszugehen ist, dass diese staatlichen Eingriffe weniger kostspielig sind als die erwarteten Vorteile aus der Korrektur des Marktversagens, würden Ökonomen diese Eingriffe unterstützen (Corden, 1974). Effizienz wurde hier gewöhnlich als Pareto-Effizienz angesehen. Vertikale Industriepolitik (also jene, die nur bestimmte Branchen oder bestimmte Unternehmen fördert) wurde in diesem Rahmen nur als eine von vielen staatlichen Interventionen betrachtet und oft als ein Instrument, das auf der Liste der empfohlenen Interventionen ganz unten stand, da die potenziellen Kosten der Industriepolitik als hoch und die Erfolgsaussichten bei der Korrektur von Marktversagen als gering eingeschätzt wurden.2
Industriepolitik wurde dabei vor allem für jene Marktineffizienzen empfohlen, bei denen es um externe Effekte insbesondere in Form von F&E, Learning by Doing Effekte oder Koordinations- (oder Agglomerations-) Versagen (Juhász et al., 2024) ging. Hausmann und Rodrik (2003) fügten diesen eher traditionellen externen Effekten das Konzept der positiven Kostenentdeckungsexternalität („spillovers from cost discovery“) hinzu, nach der der erste Akteur, der eine neue Produktion in einem Land versucht, Informationen über deren tatsächliche lokale Kosten generiert, die danach auch von anderen Marktteilnehmenden genutzt werden können. Alle diese externen Effekte könnten im Prinzip durch industriepolitische Maßnahmen angegangen werden.
Bereits in den späten 2010er Jahren wurde die Idee der Korrektur von Marktversagen durch Mariana Mazzucatos Konzept einer Industriepolitik ergänzt, die Märkte schafft und dadurch den Raum für wirtschaftliche Aktvititäten verbreitert und somit zusätzliches Wirtschaftswachstum erzeugt (Cimoli et al., 2015).
Nach der COVID-19-Pandemie und dem Einmarsch Russlands in der Ukraine, aber auch im Zuge der zunehmenden geopolitischen Spannungen zwischen den USA und China, rückten weitere, bisher im ökonomischen Diskurs eher vernachlässigte Typen von externen Effekten in den Mittelpunkt. Die COVID-19-Pandemie zeigte, dass die anfälligen Lieferketten eines einzelnen Unternehmens negative externe Effekte auf andere Teile der Wirtschaft haben können. Wenn beispielsweise bei einer Pandemie die Versorgung der Unternehmen mit Schutzausrüstung oder Antibiotika aus dem Ausland versiegt, kann der Schaden weit über die Umsatzeinbußen des einzelnen Unternehmens hinausgehen. Ähnlich verhält es sich, wenn Unternehmen wichtige Inputs für ihre Produktion (z. B. Energie) überwiegend aus einzelnen Ländern importieren, die nicht ohne Weiteres ersetzt werden können (wie im Falle von über Pipelines geliefertem Erdgas). Dann kann ein ganzes Land erpressbar werden und infolgedessen seine strategische Autonomie verlieren (Dullien et al. 2022). In beiden Fällen kann nicht davon ausgegangen werden, dass individuelle wirtschaftliche Entscheidungen diese negativen Auswirkungen berücksichtigen, und eine rein marktbasierte Lösung für diese Externalitäten ist schwer vorstellbar. Daher sind Resilienz und strategische Autonomie zu wichtigen Argumenten für die Industriepolitik geworden.
Ein letztes Argument für die Industriepolitik auf nationaler Ebene ist die Sicherung von Wohlstand, Einkommen und Arbeitsplätzen. Gomory und Baumol (2000) haben gezeigt, dass sich in einer Welt mit Skaleneffekten, Transportkosten und Spillover-Effekten Schlüsselindustrien an einer begrenzten Anzahl von Standorten konzentrieren werden. Die Länder, in denen am Ende die Produktion dieser Schlüsselindustrien stattfindet, werden höhere Einkommen (aus Monopoleinkünften), mehr Forschung und Entwicklung, schnelleren technologischen Fortschritt und höhere Steuereinnahmen verzeichnen. Daher haben die Länder ein Interesse daran, diese Schlüsselindustrien anzulocken. Wenn nun einige große Länder eine aggressive Industriepolitik betreiben, um Schlüsselindustrien anzuziehen, werden andere Länder gezwungen sein, diesem Beispiel zu folgen, um die Verlagerung von Unternehmen und künftige Verluste an nationalem Wohlstand zu verhindern.
Wenn industriepolitische Maßnahmen am Ende allerdings nur bestimmen, in welchem Land eine Investition getätigt wird, ohne zusätzlichen technologischen Fortschritt oder zusätzliche Kapitalakkumulation zu schaffen, wäre eine koordinierte industriepolitische Zurückhaltung aller beteiligten Staaten aus globaler Sicht natürlich überlegen. Alle Länder könnten sich dann die fiskalischen Kosten für industriepolitische Interventionen sparen. Wenn jedoch nicht-ökonomische Erwägungen wie das Bestreben, die größte Volkswirtschaft der Welt zu werden (im Falle Chinas) oder den Aufstieg einer anderen Macht zu verhindern (das Vorgehen der Vereinigten Staaten gegenüber China), in die Gleichung einfließen, wird deutlich, dass eine solche Verhandlungslösung zur industriepolitischen Zurückhaltung kaum zu erreichen beziehungsweise durchzusetzen sein dürfte. Und wenn die USA und China aggressive Industriepolitik betreiben, Europa aber vornehme Zurückhaltung übt, ist klar, wer am Ende der Verlierer sein wird: Die europäischen Staaten.
Die jüngsten geopolitischen Veränderungen ebenso wie die Erfahrungen mit der Verwundbarkeit von Lieferketten haben damit die Argumente für industriepolitische Maßnahmen verstärkt und erklären zumindest zum Teil den neuen Appetit für industriepolitische Interventionen.
Was kann schon schiefgehen?
Obwohl die Argumente für eine Industriepolitik angesichts der oben beschriebenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen überwältigend sind, ist es leider nicht ganz klar, wie genau eine richtige Industriepolitik aussehen sollte. So finden sich in der Literatur zwar Hinweise auf erfolgreiche industriepolitische Beispiele wie die Entwicklung der Stahlproduktion und des Schiffbaus in Südkorea (Amsden, 1989), die Industrialisierung und technologische Modernisierung in China oder die Gründung des Flugzeugherstellers Airbus, doch gibt es ebenso zahlreiche Beispiele für eine gescheiterte Industriepolitik wie Brasiliens Versuch, eine nationale Computerindustrie aufzubauen (Luzio & Greenstein, 1995) oder Malaysias Versuche, eine einheimische Automobilindustrie zu schaffen (Lee et al., 2021).
In den dokumentierten Fällen des Scheiterns wurden häufig öffentliche Gelder verschwendet und die Preise auf Kosten der Verbraucher hochgehalten, ohne dass die gewünschten Ergebnisse erzielt wurden, was zu einer Verringerung des allgemeinen Wohlstands führte. Abgesehen von der Tatsache, dass es völlig normal ist, dass ein Teil der industriepolitisch geförderten Projekte scheitern wird (wie auch in dem Portfolio jedes Risikokapitalgebers ein Teil der Projekte scheitern wird), ist ein Grund für das Scheitern zumindest einiger Projekte in der Vereinnahmung des Politikprozesses durch die geförderten Unternhmen zu sehen, d. h. in Situationen, in denen es den betroffenen Industrien gelungen ist, die Politiker davon zu überzeugen, den Schutz oder die Unterstützung zu verlängern, obwohl es eindeutige Signale dafür gab, dass die Industrien keine zufriedenstellende Leistung erbracht hatten.
Neben der Gefahr, die Preise in die Höhe zu treiben, inländische Ressourcen ineffizient zu verteilen und öffentliche Mittel zu verschwenden, besteht eine weiteres Risiko darin, dass die Industriepolitik zu Handelskonflikten führt und damit dem internationalen Handelssystem schadet. Auf Zölle, Einfuhrbeschränkung oder sonstige handelspolitische Instrumente, die zur Erreichung industriepolitischer Ziele eingesetzt werden, könnten die Handelspartner mit Vergeltungsmaßnahmen reagieren, wodurch das Marktergebnis weiter verzerrt wird (Internationaler Währungsfonds, 2024a).
Notwendige Bedingungen für eine erfolgreiche Industriepolitik
So gibt zwar leider kein Patentrezept (oder technisch ausgedrückt, keine Liste mit hinreichenden Bedinungen), um zu verhindern, dass industriepolitische Maßnahmen scheitern und negative Auswirkungen haben, aber die wachsende Literatur bietet einige Erkenntnisse über notwendige Bedingungen für eine erfolgreiche Industriepolitik, also die Mindestvoraussetzungen, wie Industriepolitik gestaltet sein sollte, um ein Scheitern unwahrscheinlich zu machen.
Eine erste und wichtige Voraussetzung scheint zu sein, dass die Ziele für spezifische industriepolitische Interventionen klar definiert werden müssen. Dies gilt insbesondere für missionsorientierte industriepolitische Maßnahmen, wie sie von Mazzucato (2024) vorgeschlagen werden, aber auch für alle zweckorientierten industriepolitischen Maßnahmen, da ohne die Definition spezifischer Ziele eine Erfolgskontrolle nicht möglich ist. Die Aussage, dass eine bestimmte Politik umgesetzt wird, um das Wirtschaftswachstum im Allgemeinen anzukurbeln oder um unspezifisch „Arbeitsplätze“ zu fördern, sowie die Kombination einer zu großen Anzahl von Zielen gleichzeitig scheint eindeutig dem kosteneffizienten Erfolg der Industriepolitik abträglich zu sein. Darüber hinaus und damit verbunden sollte die Industriepolitik einer strengen Kosten-Nutzen-Analyse unterzogen werden (Internationaler Währungsfonds, 2024b).
Die Festlegung von leistungsbezogenen Meilensteinen für die geförderten Unternehmen und Sanktionen bei Nichterreichen der Meilensteine sind weitere Elemente erfolgreicher Industriepolitik. Meilensteine sind dabei zwar wichtig, aber die Natur der Industriepolitik drängt die Unternehmen manchmal in unbekanntes Terrain, und das bedeutet, dass diese Meilensteine flexibel sein müssen. Eine besondere Herausforderung besteht hier darin, eine angemessene Flexibilität zu gewährleisten, ohne dass sich die Politik vereinnahmen lässt, und eine sinnvolle Leistungskontrolle umzusetzen. Zu diesem Zweck scheint ein Ansatz der „eingebetteten Autonomie“ (Juhász et al., 2024) am vielversprechendsten. Dieser Begriff bezieht sich auf staatliche Institutionen, die in enger Interaktion mit dem Wirtschaftssektor und den betroffenen Unternehmen Ziele setzen, Instrumente entwerfen und Leistungskontrollen durchführen, aber autonom sind, wenn es darum geht, die Unterstützung zu entziehen.
Es liegt zwar auf der Hand, dass „eingebettete Autonomie“ bestimmte Voraussetzungen in Bezug auf die Qualität der Governance erfordert, aber die Beispiele für die erfolgreiche Ausübung dieser Art von Autonomie in Juhász et al. (2024) aus Ländern mit unterschiedlichem Entwicklungsstand und aus verschiedenen Regionen deuten darauf hin, dass dies in der Europäischen Union (mit einem im globalen Vergleich eher hohen Niveau der Qualität von Institutionen) grundsätzlich möglich sein sollte.
Neben den Leistungskriterien, die vom öffentlichen Sektor festgelegt und durchgesetzt werden, ist ein wirksamer Marktdruck ein weiterer Mechanismus, der die Unternehmen davon abhalten kann, träge zu werden und so genannte X-Ineffizienzen zu entwickeln.3 Zu diesem Zweck sollte die Industriepolitik idealerweise so gestaltet werden, dass sie es neuen Unternehmen in den geförderten Sektoren erlauben, bestehende Unternehmen wirksam herauszufordern.
Schließlich müssen in politischen Systemen mit mehreren Ebenen auch die Lehren aus der Theorie des Fiskalföderalismus berücksichtigt werden. Nach dieser Theorie ist ein Faktor bei der Entscheidung, welche Regierungsebene mit bestimmten Entscheidungen betraut werden sollte, dass externe Effekte auf andere Teile des Systems idealerweise internalisiert werden sollten. Dieser Grundsatz gilt auch für die Industriepolitik: Sie muss auf der richtigen Regierungsebene angesiedelt werden. Oder noch besser, es müssen verschiedene Regierungsebenen in die Gestaltung und Umsetzung der Industriepolitik einbezogen werden, damit diese keine negativen externen Effekte für andere Teile des Systems erzeugt. So können auch positive externe Effekte berücksichtigt werden, und Informationen, die nur dezentral verfügbar sind, können in den Prozess der Gestaltung und Umsetzung der Industriepolitik einfließen. Wenn die Zuständigkeiten für die Industriepolitik auf einer zu niedrigen Regierungsebene angesiedelt sind (im europäischen Kontext auf nationaler oder regionaler Ebene), besteht die Gefahr, dass die Politik hauptsächlich darauf ausgerichtet ist, Investitionen von anderen Standorten innerhalb des föderalen Systems anzuziehen, was dem Binnenmarkt schadet und negative externe Effekte für andere föderale Einheiten erzeugt.
Aktueller Stand einer europäischen industriepolitischen Strategie
Die europäische Industriepolitik hat in den letzten Jahrzehnten einige große Veränderungen erfahren (Dullien et al., 2022). In der Literatur werden für diesen Politikbereich für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der Regel drei bis vier Phasen unterschieden. Bis in die 1980er Jahre betrieben die nationalen Regierungen ihre eigene interventionistische Industriepolitik, indem sie Instrumente der vertikalen Industriepolitik einsetzten, wobei die Europäische Union (oder genauer gesagt ihre Vorläufer) zunächst den Nationalstaaten große Spielräume ließ. Ab den 1980er Jahren begannen die europäischen Institutionen, sich stärker auf die Marktliberalisierung und -harmonisierung zu konzentrieren und die nationale Autonomie bei der Gestaltung der Industriepolitik einzuschränken, um den Binnenmarkt zu fördern. Die vertikale Industriepolitik auf nationaler Ebene wurde zunehmend eingeschränkt, während die europäische Ebene auf eine vertikale Industriepolitik verzichtete. Dieser Ansatz wurde in den 1990er und 2000er Jahren verfolgt.
In den letzten Jahren4 war eine neue Verlagerung hin zu einem pragmatischeren Ansatz zu beobachten. In den 2010er Jahren gab es bereits eine Reihe neuer Initiativen, sowohl auf europäischer als auch auf mitgliedstaatlicher Ebene, wie etwa das gemeinsame Papier zur Industriepolitik der deutschen und französischen Wirtschaftsminister Anfang 2019.
Unter der Kommission von Ursula von der Leyen (ab 2019) haben sich die industriepolitischen Initiativen stark ausgeweitet. Bereits vor der COVID-19-Pandemie hatte die Kommission ihren Green Deal vorgestellt, um die europäische Wirtschaft bis 2050 klimaneutral zu machen. Neben dem Ziel, die CO2-Emissionen bis 2030 um 55 % zu senken, enthielt das Paket „Fit for 55“ eine Reihe spezifischer Instrumente zur Erreichung dieses Ziels, von denen ein erheblicher Teil als industriepolitische Maßnahmen betrachtet werden kann.
Industriepolitische Maßnahmen wurden auch aufgrund von Unterbrechungen der Lieferkette sowie einer begrenzten Verfügbarkeit von Schutzkleidung und anderen medizinischen Produkten während der COVID-19-Pandemie verabschiedet, gefolgt von einem großen Energiepreisschock infolge der Unterbrechung der Erdgaslieferungen in die EU im Zuge der russischen Aggression gegen die Ukraine. Zusätzlich zu den europäischen Maßnahmen zur Erhöhung der Resilienz der Energieversorgung der Mitgliedstaaten bestand ein wichtiges Instrument darin, den Mitgliedstaaten allgemeine Gruppenfreistellungen für die Gewährung staatlicher Beihilfen zu gewähren, sodass in diesen Fällen auf den sonst mühseligen Genehmigungsprozess auf EU-Ebene verzichtet werden konnte. Die allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung wurde zeitlich verlängert und in den Jahren 2020, 2021 und schließlich 2023 in ihrem Anwendungsbereich erweitert, was die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten zur Gewährung staatlicher Beihilfen für den Unternehmenssektor erhöhte.
Ein weiteres wichtiges Instrument war die Ausweitung des EU-Ansatzes, Förderungen von IPCEIs zu erlauben. Seit 2018 gewährt die EU ihren Mitgliedstaaten Ausnahmen von den Beihilfevorschriften, wenn mehrere von ihnen gemeinsam Investitionen und Innovationen in Projekte fördern wollen, die als von gemeinsamem europäischem Interesse gelten oder zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben angesehen wurden. Dieses Instrument wurde 2021 erweitert, indem es den Mitgliedstaaten erlaubt wurde, Mittel aus der Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) zur Unterstützung von IPCEIs zu verwenden.
Im Jahr 2023 verabschiedete die EU den European Chips Act, der es den Mitgliedstaaten ermöglicht, Halbleiterherstellern unter bestimmten Bedingungen staatliche Beihilfen für Investitionen und Innovationen zu gewähren, die Subventionen um einige europäische Mittel zu ergänzen und einen Koordinierungsmechanismus zwischen der Kommission, den Mitgliedstaaten und den Beteiligten einzuführen.
Schließlich verabschiedete die EU im Jahr 2024 den Net Zero Industry Act (NZIA), auch als Antwort auf den US-amerikanischen IRA. Während der NZIA Ziele für die inländische Produktion von umweltfreundlichen Technologien festlegte, fehlten ihm im Gegensatz zum IRA umfangreiche Subventionen und Finanzierungsbestimmungen (Redeker, 2024).
Mit der 2024 neu gewählten EU-Kommission könnte die Debatte um eine europäische Industriepolitik noch einmal an Fahrt gewinnen. Der von dem früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi im Auftrag von Ursula von der Leyen im September 2024 vorgelegte Report zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit enthält eine Vielzahl industriepolitischer Vorschläge, die die europäische Industriepolitik auf ein neues Niveau heben könnten.
Zumindest der aktuelle Stand der europäischen Industriepolitik (also ohne mögliche Umsetzungen der Draghi Vorschläge) lässt im Vergleich zu den oben skizzierten Schlüsselprinzipien für eine erfolgreiche Industriepolitik allerdings einige Lücken erkennen. Erstens gibt es, anders als z.B. bei der „Made in China 2025“-Strategie, keine klare übergreifende europäische industriepolitische Strategie mit konkreten Zielen, die bisher kommuniziert worden ist. Infolgedessen mangelt es wichtigen industriepolitischen Initiativen wie dem NZIA sowohl an Fokus als auch an spezifischen Instrumenten. Wie Redeker (2024) hervorhebt, wird mit dem NZIA vor allem die Regulierung gestrafft, aber nur sehr wenig an konkreten Instrumenten oder Finanzmitteln bereitgestellt. Das einzige echte industriepolitische Instrument des NZIA besteht darin, den Mitgliedstaaten mehr Möglichkeiten zu geben, das öffentliche Auftragswesen auf nationaler Ebene zur Förderung von CO2-neutralen Technologien zu nutzen.
Die Zielvorgaben im Rahmen des NZIA werden auf aggregierter Ebene festgelegt, nicht aber auf Unternehmens- oder Sektorebene, so dass kein strenger Rahmen für die Verfolgung der Leistungskriterien geschaffen wird. Angesichts der begrenzten analytischen Fähigkeiten der EU (Jäger, 2024) scheint die Vision einer „eingebetteten Autonomie“ zum jetzigen Zeitpunkt völlig unrealistisch.
Zwar sind die IPCEI grundsätzlich ein vielversprechendes Instrument für eine wirksame Industriepolitik, doch fehlt es ihnen an einer vorhersehbaren Finanzierung, und ihre Governance entspricht nur teilweise den Empfehlungen, die sich aus dem oben skizzierten Fiskalföderalismus ableiten lassen. Die erste Runde dieser Projekte wurde in erster Linie von den nationalen Mitgliedstaaten finanziert, was den Einsatz dieses Instruments in Mitgliedstaaten mit schwächeren öffentlichen Finanzen einschränkte. Bei der zweiten Projektrunde wurde dieses Problem durch die Finanzierung aus der ARF entschärft. Da die Sonderfazilität jedoch ausdrücklich als vorübergehender Mechanismus konzipiert wurde, wird in Zukunft ein größerer Anteil des Finanzierungsbedarfs von den Mitgliedstaaten erwartet. Wenn die Finanzierung hauptsächlich auf der Ebene der Mitgliedstaaten erfolgt, besteht die Gefahr, dass sich die nationalen Regierungen bei der Entscheidung über Projekte eher auf nationale als auf europäische Interessen konzentrieren, wodurch der Binnenmarkt möglicherweise untergraben und das Potenzial einer hypothetischen vollständig europäischen Industriepolitik nicht voll ausgeschöpft wird.
Der European Chips Act kann etwas positiver gesehen werden, da er konkrete Finanzierungszusagen enthält und eine Struktur schafft, aus der mit der Zeit eine effektive Koordination zwischen dem privaten und öffentlichen Sektor entstehen könnte. Allerdings fehlt auch dem Chips-Gesetz, wie allen anderen Initiativen, eine strenge Kosten-Nutzen-Analyse.
Der Draghi Report macht bei einigen dieser Schwachpunkte deutliche Verbesserungsvorschläge. So wird von Draghi eine klarere Fokussierung der Maßnahmen, mehr finanzielle Mittel und Reformen zur Steigerung der administrativen Effizienz eingefordert. All dies könnte die Schlagkraft der europäischen Industriepolitik erhöhen und ihre Erfolgschancen erhöhen. Allerdings ist viel von dem, was Draghi vorschlägt, derzeit Zukunftsmusik ohne klare politische Mehrheiten – etwa, wenn es um massive neue Finanzierungsvolumina für europäische Infrastruktur und europäische Industrieförderung geht.
Schlussfolgerung
So lässt sich zusammenfassend sagen, dass es gute Gründe für eine aktivere europäische Industriepolitik gibt, und dass die EU bei der Umsetzung industriepolitischer Maßnahmen bereits wesentlich aktiver geworden ist und den Spielraum der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung solcher Maßnahmen auf nationaler Ebene erweitert hat. Im Vergleich zu optimal gestalteter Industriepolitik ist der europäische Ansatz jedoch unzureichend. Das bedeutet nicht, dass die Maßnahmen der EU fehlgeleitet sind oder als gescheitert gelten. Schließlich würde eine eingehende Analyse des IRA sicherlich auch große Lücken zwischen der allgemeinen Konzeption des Gesetzes und den Erkenntnissen aus der Literatur aufzeigen. Und selbst wenn der Ansatz der EU unvollkommen ist, könnte er in einer Welt mit zunehmendem industriepolitischen Aktivismus besser sein als eine untätige Alternative. Der Kontrast zwischen einer ideal konzipierten Industriepolitik und der in Europa tatsächlich umgesetzten lässt jedoch erkennen, dass es reichlich Raum für Verbesserungen gibt, um die Chancen für eine erfolgreiche EU-Industriepolitik zu steigern. Im Draghi-Report finden sich eine Reihe sinnvoller Ansätze dafür.
Der Text basiert auf einer Übersetzung des zuerst in Intereconomics erschienenen Beitrags des Autors mit dem Titel „European Industrial Policy in the 2020s: Rationale, Challenges and Limitations“.
1) Für einen aktuellen Überblick siehe Juhász et al. (2024).
2) Für eine Diskussion dieses Arguments und seiner Geschichte siehe Weiss (2020). Der Internationale Währungsfonds (2024b) verwendet diesen Rahmen immer noch.
3) Der Begriff „x-Ineffizienz“ bezieht sich auf eine Situation, in der ein Unternehmen nicht mit allokativer Effizienz produziert. Für eine Diskussion des Begriffs und seiner Geschichte siehe Perelman (2011).
4) In der Literatur ist nicht klar, wann genau diese „letzten Jahre“ begannen, da dieser politische Wandel weniger eindeutig war. Es besteht jedoch Einigkeit darüber, dass sich in den 2010er Jahren traditionellere industriepolitische Interventionen eingeschlichen haben. Für eine eingehendere Diskussion siehe Bianchi und Labory (2020), Landesmann und Stöllinger (2020) oder Tagliapietra und Veugelers (2020).
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