Als Francis Fukuyama in den 1990er Jahre schrieb, dass die westliche liberale Demokratie das Ende der Geschichte sei, war er kein Utopist, sondern hat die damalige Realität wiedergegeben. Zu diesem Zeitpunkt schritt die Demokratisierung der Länder der Welt immer weiter voran. Inzwischen dominiert die Vermutung, dass die Entwicklung hin zur Demokratie weder ein Selbstläufer ist, sondern eher einer unberechenbaren Wellenbewegung gleicht, und es nach Phasen des Fortschritts auch wieder zur Stagnation oder sogar des Rückschrittes kommen kann. So stieg die Zahl der Demokratien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stetig an, insbesondere mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Demokratisierung des Ostblocks wuchs die Zahl der Demokratien schlagartig, was Fukuyama zur obigen These veranlasste. Seit dem Ende der 1990er Jahre jedoch sinkt die Anzahl der Demokratien fast stetig.
So zeigen aktuelle Beobachtungen, dass die Demokratie weltweit in der Defensive ist. Der Economist Intelligence Index 2023[1] ist zu dem Ergebnis gekommen, dass mit 45.4 Prozent weniger als die Hälfte der Weltbevölkerung in einer Demokratie leben. Immer mehr Länder befinden sich wieder auf dem Weg in ein autokratisches Herrschaftsregime. Besorgniserregend ist, dass sowohl der Anteil wie auch die Qualität der Demokratie zurückgeht. Nur 7,8 Prozent der Weltbevölkerung leben in einer sogenannten „vollständigen Demokratie“; dagegen rund 40 Prozent unter autoritärer Herrschaft. Diese weltweite Regression der Demokratie wird von gewaltsamen Konflikten und autoritären Übergriffen begleitet. Zugleich verfestigen sich autoritäre Regime und Staaten; aber auch jene, die bisher als hybride Regime eingestuft wurden, tendieren immer häufiger in Richtung Autokratie.
Die Frage, ob dieser Rückgang der Demokratien nur kurzzeitig ist und es eine nächste Welle der Demokratisierung gibt, wird gegenwärtig eher negativ beantwortet. Alle Staaten sind mit globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel, Pandemien, Kriegen und den damit einhergehenden Migrationsbewegungen und Wirtschaftsentwicklungen konfrontiert. Für die Demokratien stellt sich die Frage, ob sie diese Herausforderungen in ihren demokratischen Strukturen bewältigen können. Um sich den Herausforderungen zu stellen, braucht es Strategien, um die Qualität der Demokratie zu stabilisieren und weiterzuentwickeln.
Wie steht es in Deutschland um die Demokratie?
Die Demokratie in Deutschland befindet sich laut der vergleichenden Demokratieindexe in einem sehr guten Zustand, Deutschland gehört in diesen Indizes zu den stabilsten und besten Demokratien weltweit. Im Economist Intelligence Index[2] lag Deutschland auf Platz 12 der 23 „vollständigen Demokratien“ und mit einem sehr guten Wert von 8,8 von 10 schnitt es von den G7 Staaten am besten ab. Gerade weil Deutschland eine der stabilsten und vor allem größten Demokratien weltweit ist, hängt viel davon ab, ob sich unser Land gegenüber den auch hier vorhandenen und stärker gewordenen Polarisierungsunternehmern und Entdemokratisierungskräften behaupten kann. Es braucht deshalb klare „rote Linien“ gegenüber dem Gegenern der liberalen und sozialen Demokratie. Zur Demokratie gehört die Anerkennung des Pluralismus, der Wille Freiheit und soziale Gerechtigkeit so auszutarieren, dass Interessenunterschiede fair und angemessen im politischen Prozess verhandelt und berücksichtigt werden können.
Ein Qualitätsverlust der Demokratie in Deutschland zeigt sich in den empirischen Daten bislang fast nicht, dennoch ist die Demokratie mit Herausforderungen konfrontiert, die sehr anspruchsvoll sind. So breitet sich etwa bei größer werdenden Teilen der Bevölkerung das Gefühl aus, dass die Demokratie zurückgeht, was sich etwa im abnehmenden Vertrauen in Parteien und Staat niederschlägt. Zudem nehmen antidemokratische Positionen wie Verschwörungsglaube, populistische und völkisch-autoritär-rebellische Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft zu[3]. Zugleich entwickelt sich ein problematisches Gewaltniveau, das durch die Verrohung der Sprache und Konflikte in den sozialen Medien ein eigener Brandbeschleuniger ist. In einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Demokratievertrauen in Krisenzeiten[4] kam heraus, dass 50,5 Prozent der Bürger:innen Deutschlands der Meinung sind, dass sich der Zustand der Demokratie in den letzten Jahren verschlechtert hat. Die Institutionen der Demokratie sind also mit einem Vertrauensverlust konfrontiert. Sowohl Bundestag als auch Bundesregierung werden von einer Mehrheit der Bürger:innen wenig oder gar kein Vertrauen entgegengebracht (57,7 und 57,6 Prozent). Nur dem Bundesverfassungsgericht und der Wissenschaft werden von einer Mehrheit der Bürger:innen (sehr) großes Vertrauen geschenkt (70,9 und 80,6 Prozent).
Auch die Medien haben mit Vertrauensproblemen zu kämpfen. Die öffentlich-rechtlichen Medien schneiden hier sogar noch am besten ab, 41,8 Prozent haben (sehr) großes Vertrauen, während die anderen Medien nur auf 31,7 Prozent kommen. Mit dem Vertrauensverlust in die Institutionen geht ein Anstieg an demokratiegefährdenden Einstellungen wie Verschwörungsglaube und populistischen Einstellungen in der Gesellschaft einher.
Verschwörungsdenken ist besonders am rechten Rand des politischen Spektrums verbreitet, findet in einzelnen Bereichen jedoch auch den Weg in die Mitte der Gesellschaft. Kritik am liberalen Wahrheitsregime gehört zwar zu liberalen Demokratie, doch ein sich zementierender Wahrheitsrelativismus ist schädlich. Immer mehr Menschen sind zudem der Auffassung, dass die Meinungsfreiheit nicht mehr vollständig gegeben ist. So äußerte in einer Allensbach Umfrage erstmals eine relative Mehrheit von 44 Prozent, dass man vorsichtig sein müsse, was man sagt, während nur 40 Prozent meinten, sie könnten sich frei äußern[5].
In manchen Entscheidungsfeldern – Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg sind Beispiele dafür – ist für die Bürgerinnen schwer nachvollziehbar wer, aus welchen Gründen welche Entscheidungen fällt und wer deshalb auch Verantwortung trägt. Stattdessen entwickelt sich eine Kultur der Entscheidungen durch die Exekutive und Judikative. Die Grenzen der Zuständigkeiten im politischen Prozess verschwimmen zunehmend, dadurch entsteht eine Unübersichtlichkeit für die Bürger:innen und demokratische Prozesse verlieren an Unterstützung.
Die Krise der Demokratie hat multiple Ursachen. Dabei sind diese Ursachen nicht Deutschlandspezifisch, sondern finden sich in fast allen Ländern wieder. Eine erste Ursache ist das zurückgehende wirtschaftlichen Wachstum. Dies befeuert die Angst vor Wohlstandsverlust, wodurch die Skepsis in demokratische Institutionen und Prozesse begünstigt wird. So wissen wir etwa aus empirischen Studien, dass die Angst vor Wohlstandsverlust und das Gefühl, nicht in gerechter Weise am gesellschaftlichen Wohlstand zu partizipieren, entscheidende Gründe für die Wahlentscheidung zugunsten der AfD sind. Die wachsende Einkommensungleichheit in Deutschland hat negative Auswirkungen auf das Demokratievertrauen. Die Qualität der Demokratie und die Wirtschaftsentwicklung sind interdependente Beziehungen. Eine wirtschaftlich sichere Situation der Bürger:innen begünstigt eine stabile Demokratie. Die empirischen Daten zeigen etwa, dass das Demokratievertrauen mit steigendem Einkommen und Bildungsniveau zunimmt. Im Umkehrschluss kann daraus geschlossen werden, dass die unteren Schichten sich nicht angemessen repräsentiert fühlen und nicht den Eindruck haben, dass „die Politik“ etwas in ihrem Sinne verbessert.
Zweitens sind die Gesellschaften durch Zuwanderung diverser geworden. Das kann zwar eine Chance sein, setzt aber die Demokratie unter Stress. Vor allem dann, wenn die aufnehmenden Gesellschaften die wachsende Diversität nicht positiv gestalten wollen oder können. Die sozio-kulturellen Fragen dürfen von der Politik nicht ignoriert, sondern müssen sensibel aufgenommen und fair debattiert werden. Dabei müssen die sozio-ökonomischen Fragen zusammen mit den sozio-kulturellen betrachtet werden. Die Selbstwirksamkeit und Teilhabe der Bürger:innen an politischen Prozessen ist nicht unabhängig von den ökonomischen und kulturellen Fortentwicklungen. Verteilungsfragen müssen in den Vordergrund gerückt werde; ohne dass die Herausforderungen, die mit der soziokulturelle Dimension einhergehen, vernachlässigt werden.
Drittens spielen auch der Wandel des Mediensystems und des medialen Konsums eine Rolle. Worüber wir sprechen und diskutieren und wie wir das tun, wird ganz wesentlich auch durch die Medien geprägt. Reißerische Berichterstattung und die ständige Suche nach dem nächsten Skandal, können dabei zu einer Instabilisierung demokratischer Prozesse beitragen. Durch die Art und Weise der Berichterstattung können Medien zudem Einfluss auf die Meinungs- und Willensbildung der Bevölkerung nehmen. Zudem hat sich mit dem Aufkommen des Internets und sozialer Netzwerke das Verhältnis zwischen Medien und Bürger:innen drastisch geändert. Neben den etablierten Qualitätsmedien entstanden sogenannte „alternative“ Medien, durch die sich heute etwa Verschwörungserzählungen und Falschmeldungen viel schneller verbreiten können. Außerdem sind die Bürger:innen heute nicht mehr nur Empfänger, sondern auch Sender. Jede und jeder kann seine Meinung ins Internet schreiben und findet selbst für die radikalste Ansicht noch Mitstreiter. Die Infragestellung des liberalen Wahrheitsregimes durch die empörungsverstärkenden sozialen Medien hat eine alltägliche Verstetigung gefunden.
Stabilisierungsmaßnahmen
Auch wenn die Qualität der Demokratie in Deutschland zum Teil als abnehmend betrachtet wird, liegt Deutschland – unter den großen Staaten – weiterhin ganz vorne. Trotzdem ist es nicht selbstverständlich, dass die Interessenunterschiede und Konflikte weiterhin friedlich und kompromissorientiert, also demokratisch, ausgetragen werden. Dafür braucht es jetzt Stabilisierungsmaßnahmen, welche sich in Zukunft positiv auf die Demokratiequalität auswirken.
Für eine stabile Demokratie braucht es die Stärkung von Mitbestimmung. Die Parteien dürfen direktdemokratische Beteiligungsverfahren nicht verhindern, sondern müssen sie fördern. Auch die Mitbestimmung im Betrieb hat einen demokratiefördernden Einfluss, da die Menschen so ganz konkret erleben, dass sie etwas verändern können und somit Selbstwirksamkeit erfahren. Angriffe auf die Unternehmensmitbestimmung müssen somit zurückgewiesen werden und Betriebsräte im Gegenzug gestärkt werden. Zur Stärkung der Selbstwirksamkeit könnten zudem vor allem auf der kommunalen Ebene Beteiligungsformate wie etwa Bürgerräte etabliert werden. Auch der Zivilgesellschaft kommt eine wichtige Rolle zu, sie muss als „Verfassungsschutz von unten“ darauf achten, dass der demokratische Geist der Verfassung die Wirklichkeit prägt, das beginnt in der organisierten Zivilgesellschaft, die sich zu nehmend mit den Angriffen von Rechtsaußen konfrontiert sieht.
Zweitens braucht es eine Stärkung der ökonomischen Verhältnisse. Die Bekämpfung sozialer Ungleichheit ist eine der wichtigsten Maßnahmen zur Stärkung des Institutionen- und Demokratievertrauens. Dazu bedarf es vor allem einer Steigerung des Lohnniveaus, was etwa durch einen höheren Mindestlohn und eine Stärkung der Tarifbindung zu erreichen ist. Die Leistungen des Staates müssen sichergestellt werden und funktionieren. Dies trifft insbesondere die Infrastruktur, deren Weiterentwicklung in den letzten Jahren vernachlässigt wurde. Wenn der Bus nicht mehr fährt, kein Arzt in der Nähe erreichbar ist und es in der Schule der Kinder durch die Decke tropft, erschüttert das das Vertrauen in den Staat. Auch der Sozialstaat muss wirksamer aufgestellt werden, nicht nur um die Menschen in Notlagen aufzufangen und Ungerechtigkeiten auszugleichen, sondern auch um präventiver zu wirken. All diese Maßnahmen werden sich ohne eine Reform der Schuldenbremse nicht umsetzen lassen.
Drittens ist die Aufrechterhaltung der sogenannten Brandmauer wichtig. Die demokratischen Parteien müssen in der Lage sein, sich ohne Beteiligung der AfD zu einigen. Vor allem aber muss die Politik die Probleme der Menschen, mit denen sie tagtäglich konfrontiert sind, lösen. Wenn die Parteien der demokratischen Mitte dies nicht mehr schaffen und die Menschen das Gefühl haben, dass ihre Sorgen nicht gehört werden, dann stärkt das die politischen Ränder, vor allem den rechten Rand.
Fazit
Deutschland zählt unter den großen Ländern der Erde zu den demokratischsten und sozialsten. Wenn die Situation in Deutschland kippt – und sie kann schnell kippen, wenn nicht Acht gegeben wird – hat nicht nur Deutschland, sondern auch die Welt viel zu verlieren. Timothy Snyder[6] fasst die Situation wie folgt zusammen: „Als wichtigste Demokratie in Europa und vielleicht – nach dem Amtsantritt von Donald Trump am 20. Januar – in der Welt ist Deutschland der zentrale Ort des Widerstandes. Wenn die Deutschen die Bedrohung nicht verstehen, haben wir anderen kaum eine Chance“. Deutschland muss also seine eigene Demokratie resilienter machen; für Europa und die Welt.
Prof. Dr. Wolfgang Schroeder
Professur für Politisches System der BRD – Staatlichkeit im Wandel, Universität Kassel
[1] Economist Intelligence (2024): Democracy Index 2023: Age of Conflict.
[2] Ebd.
[3] Küpper, Beate/Elif Sandal-Önal/Andreas Zick (2023): „Demokratiegefährdende Radikalisierung in der Mitte. In: Zick, Andreas/Beate Küpper/Nico Mokros: Die distanzierte Mitte. Rechsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23. Bonn: J.H.W. Dietz. Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 91-136.
[4] Best, Volker/Frank Decker/Sandra Fischer/Anne Küppers (2023): Demokratievertrauen in Krisenzeiten. Wie blicken die Menschen in Deutschland auf Politik, Institutionen und Gesellschaft? Friedrich-Ebert-Stiftung.
[5] Schatz, Roland/Thomas Petersen/Ralph Erich Schmidt (2023): Bricht die Mauer des Schweigens? Freiheitsindex 2023 – das Forschungsprojekt des Instituts für Demoskopie Allensbach und Media Tenor International. Zürich: InnoVatio Verlag.
[6] Snyder, Timothy (2025): Die AFD – ein Element einer oligarchischen Front. In: welt. Online unter: https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus255088470/Timothy-Snyder-AfD-entpuppt-sich-als-Element-einer-oligarchischen-Front.html (Zuletzt: 29.01.2025).