Der Jubel war ohrenbetäubend. Gemeinsam mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck stand ich im Dezember 2023 vor tausenden glücklichen Gesichtern im saarländischen Völklingen. Soeben hatten wir den Beschäftigten der saarländischen Stahlindustrie 2,6 Milliarden Euro für den klimaneutralen Umbau der Hütten zugesagt: Siebzig Prozent aus Bundesmitteln und dreißig Prozent aus dem saarländischen Transformationsfonds. Stahl soll im Saarland künftig mittels Wasserstoff klimafreundlich produziert werden. Bei all der Freude, die Politikerinnen nicht allzu oft so hautnah erleben, wurde mir seitdem von anderen nicht selten die Frage gestellt: So viel Geld für eine Branche, die mancher noch immer zur „old economy“ erklärt?“
Ich kann auch heute dazu nur mit voller Überzeugung sagen: Ja, das war die richtige Entscheidung. Diese gigantische Investition, die mit Mitteln des Unternehmens auf über 3,5 Milliarden Euro gehebelt wird, ist keine Subvention aus Nostalgie, sondern notwendiger Anschub für die Zukunft. Hier findet eine technologische Revolution statt. Und sie ist idealtypisch für eine politische Entscheidung, die auf den Kriterien des Magischen Fünfecks aus moderner Wirtschaftspolitik, nachhaltigem Wachstum, sozialer Teilhabe, geopolitischer Stabilität und einer starken Demokratie besteht.
Mit der Transformation hin zu Grünem Stahl halbieren wir letztlich in etwa den CO2-Ausstoß des Saarlandes. Letztlich kann die Stahlindustrie nur auf diesem technologischen Weg klimaneutral werden. Wir leisten einen Beitrag zur Modernisierung unserer Wirtschaft: Ohne Stahl weder Windräder noch E-Autos. Die Stahlindustrie ist seit langem unter Preisdruck. Lange konnten wir das vor allem durch technologische Kompetenz bei den Produkten ausgleichen: die Außenhaut der Ariane-Rakete, das Dubai Eye, die Dächer neuer Fußballstadien oder moderne Windräder sind „Made in Saarland“. Auch die Effizienz wurde gesteigert, was nicht zuletzt tausende Arbeitsplätze gekostet hat. Und nun sind wir erneut vorne dabei, wenn die Produktion revolutioniert wird. Wieder schaffen wir ein Alleinstellungsmerkmal und stärken unsere Wettbewerbsfähigkeit. Der grüne Stahl ist Zukunftsmusik mit saarländischer Melodie. Damit sorgen wir mit dafür, dass unsere Kompetenzen und Kapazitäten bei den Grundstoffen nicht verloren gehen und wir damit resilient und unabhängig bleiben als Wirtschaftsstandort Deutschland.
Neoliberale reden gerne einer Verlagerung der Grundstoffindustrien in andere Länder das Wort. Das wäre eine Katastrophe für unsere Wirtschaft und Sprengstoff für den sozialen Frieden. Und es hätte dauerhafte geopolitische Folgen für unser Land. Die Energiekrise nach der russischen Invasion in die Ukraine war uns eine Lehre. Resilienz und Autarkie sind auch Thema bei den Grundstoffen. Und apropos Energie: Auch hier macht die Investition Sinn. Die enorme künftige Nachfrage der Stahlindustrie zieht einen weitgehend marktgetriebenen Ausbau der Wasserstoff-Infrastruktur nach sich, der die Versorgung mit Wasserstoff auch für andere Branchen ermöglicht. Und wir fördern den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien, für die wir weder aus Russland noch aus den USA oder aus dem mittleren Osten eine Rechnung oder wahlweise keine Lieferung bekommen. Natürlich ist das auch ein Projekt regionaler Strukturpolitik und sorgt nicht nur bei der Stahlindustrie und ihren Beschäftigten, sondern auch im Mittelstand für Wachstum und Wohlstand. Und damit für soziale Teilhabe – durch hochwertige und gut bezahlte Arbeitsplätze. Es zahlt so auch auf die fünfte Ecke ein: eine stabile Demokratie, die eben auch von ihren Erfolgen abhängig ist.
Mark Schieritz verweist in seinem 2025 erschienenen provokanten Buch „Zu dumm für die Demokratie?“ darauf, dass Legitimation für die liberale Demokratie auch dadurch entstehe, „dass der Wohlstand steigt.“ Er verweist auf den Politikwissenschaftler Fritz W. Scharf, der von der „Output Legitimation“ liberaler Demokratien spricht. Oder, wie Schieritz ausführt, bekanntlich „wichtig ist was hinten rauskommt“. Die Frage nach Wachstum und Wohlstand ist also eine mitentscheidende, wenn auch nicht die einzige, Überlebensfrage liberaler Demokratien.
Dazu gehört eine ehrliche politische Kommunikation und Führung. Wir dürfen die Herausforderungen und Risiken auf diesem Wege nicht verschweigen und trotzdem vor allem Chancen und Perspektiven beschreiben. Nur so schaffen wir Sicherheit im Wandel für alle. Denn viele warten in ihrer Meinung nicht im Scharf´schen Sinne auf das gute Ende, sondern suchen auch nach Sicherheit auf dem Weg. Das ist inzwischen auch den Stahlarbeitern anzumerken, nachdem die Euphorie des Augenblicks vorbei war und die Kärrnerarbeit des Umbaus begonnen hat. Wird die Mission gelingen? Werden wir über genügend Wasserstoff verfügen? Werden die Leitmärkte geschaffen, die wir zum Start brauchen? Berechtigte Fragen, berechtigte Sorgen. Sie aufzulösen ist eine Frage der Tat. Und der Weg dahin muss begleitet sein von Transparenz, die hergestellt wird durch soziale und politische Teilhabe, besonders durch den stetigen Austausch mit Unternehmen und Mitbestimmung.
Es ist höchste Zeit, dass Politik und Wirtschaft in Europa die Kriterien für Fortschritt und fair verteilten Wohlstand neu justieren. Die Debatte um das vom Wirtschaftsforum vorgeschlagene „Magische Fünfeck“ ist am Puls der Zeit. Es ist sogar allerhöchste Zeit. Systemkonkurrenzen, Marktradikalismus und zunehmende bewusst gestreute Zweifel an der Handlungsfähigkeit liberaler Demokratien fordern uns heraus. Unsere eigene Haltung, aber vor allem auch unser politisches Handeln braucht die Verlässlichkeit und Objektivität der richtigen Kriterien. Und wir brauchen ein Verständnis dafür, dass auch heute die Beziehungen der Ziele zueinander „magisch“ sind: Dass es also weiterhin ein Spannungsverhältnis zwischen diesen Zielen gibt. Das macht es leichter, Zielkonflikte zu benennen und gesellschaftlich zu entscheiden. „Alles wird irgendwie gut“ ist keine Haltung und wird – zu Recht – nicht mehr akzeptiert. Aber das Gespräch darüber, wie es gut werden kann, wie welche Ziele erreicht werden können, welche Perspektiven sich dadurch für die Gesellschaft und den Einzelnen ergeben, das ist zentral für Zustimmung, mindestens aber für Verständnis und Akzeptanz politischer Maßnahmen. Wir brauchen ein Bewusstsein für die Größe der Aufgabe. Wir brauchen aber auch das Selbstbewusstsein, dass wir das bewältigen können, wenn wir es richtigmachen. Diese begründete Zuversicht ist notwendig, um Menschen in der Transformation nicht das Gefühl zu geben, dass der Boden unter ihren Füßen existenziell schwankt.
Die Bedingungen dafür sind aktuell nicht gut. Wir haben es mit der Verschränkung einer konjunkturellen Schwäche mit leider lange vernachlässigten strukturellen Problemen zu tun. Dafür ist nicht nur eine Bundesregierung oder eine staatliche Ebene, auch nicht eine politische Richtung oder nur die Versäumnisse von Unternehmen verantwortlich.
Wir stehen heute an einem Scheideweg: Sind die liberalen Demokratien in der Lage, die gleichzeitigen technologischen, ökologischen, ökonomischen und politischen Veränderungen dieser Welt mitzugestalten? Und zwar zum Vorteil der Vielen und nicht nur Weniger? Da hilft die Orientierung des Magischen Fünfecks, aber es müssen auch wichtige Voraussetzungen angegangen werden, um die Ziele zu erreichen. Denn wirtschaftliche, und ja eigentlich gesellschaftliche Leitplanken werden – zumal in Konkurrenz zu anderen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodellen in anderen Weltregionen – nur dann erfolgreich sein, wenn die Gestaltung des Wandels finanzierbar ist, so wie beim Stahl. Mit dem Fetisch der schwarzen Null und seinem Instrument, der kompromisslosen Schuldenbremse, wird das nicht gelingen. Und dies noch weniger, weil wir dringend grundlegende Defizite auffangen müssen. Wir haben riesige Investitionsbedarfe in Infrastruktur und innerer wie äußerer Sicherheit und überbordende Bürokratie, die für unsere Verwaltungen gar nicht mehr leistbar ist. Alle drei Aspekte haben für die nächsten Jahre eine eigenständige Relevanz für alle fünf Ecken des Modells.
Wir müssen dringend wieder für infrastrukturelle Grundlagen sorgen, deren Verlässlichkeit in der Vergangenheit eine Voraussetzung für unseren Erfolg war: Egal ob auf der Schiene, der Straße oder per Glasfaser, Wasserstoff-Pipeline und Stromtrassen.
Ein handlungsfähiger Staat macht sich nicht fest an der Anzahl oder Komplexität von Regeln, sondern an deren Inhalten und deren Effizienz. Wohlgemerkt: wer unter Bürokratieabbau das Schleifen von Arbeitnehmer- oder Verbraucherrechten oder den Türöffner zu einem unfairen Wettbewerb zwischen Unternehmen sieht, der schleift in Wahrheit die Verlässlichkeit des Staates. Aber wer über Regeln Fairness schaffen will, muss sich selbstverständlich an der Praktikabilität messen lassen, sonst gibt es dafür keine Akzeptanz. Das liegt im Argen.
Eines hat Europa hoffentlich aus der Vergangenheit gelernt: wirtschaftlicher Erfolg, der nicht auf kurzfristigen (Kriegs-)Renditen beruht, sondern langfristig und breit angelegt ist, braucht Sicherheit. Im Äußeren wie im Inneren. Die guten Seiten der Globalisierung, regelbasiert gegenseitig voneinander zu profitieren, geraten aktuell ins Hintertreffen. Kalte Konflikte bergen wieder das Potenzial, heiß ausgetragen zu werden. In der Ukraine, im Nahen Osten, in anderen Regionen ist das bereits tödliche Realität. An anderen Stellen wachsen die Drohkulissen. Sicherheit ist wieder zum Wirtschaftsfaktor geworden.
Die Klärung dieser strukturellen Defizite ist in Deutschland die Grundvoraussetzung, um überhaupt die Ziele des Magischen Fünfecks erreichen zu können. Es ist dabei die Gleichzeitigkeit, in der diese Herausforderungen bearbeitet werden müssen, die uns besonders fordert.
Es bleibt daher richtig, dass es in diesem Jahrzehnt der Polykrisen geboten ist, miteinander abzuwägen, wo die Ziele wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Handelns liegen. Schon die gesetzliche Verankerung des „Magischen Vierecks“ als Vorfahr des Fünfeck-Vorschlages im Stabiltäts- und Wachstumsgesetz fiel 1967 nicht zufällig auf einen Zeitpunkt, an dem das deutsche Wirtschaftswunder seine erste Delle erhielt. Die aus heutiger Sicht kleine Krise mit einer leicht steigenden Arbeitslosigkeit und einem pausierenden Wirtschaftswachstum reichte aus, um sich der Zielmarken wirtschaftlicher Entwicklungen zu versichern.
Nach dem Platzen der Dotcom-Blase und parallel zur Finanzkrise ab 2007 entstand erneut eine – diesmal internationale – Diskussion über die Kriterien zur Messung wirtschaftlichen Wachstum entbrannte. Der französische Präsident Sarkozy beauftragte die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission, die Grenzen des BIP als Wohlstandsindikator auszuloten und mögliche Wege einer umfassenderen Wohlstandsmessung aufzuzeigen.
Und auch in Deutschland diskutierte in der Folge die Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität des Deutschen Bundestages die Entwicklung eines ganzheitlichen Wohlstands- bzw. Fortschrittsindikators. Und die Friedrich-Ebert-Stiftung setzte zusammen mit dem Denkwerk Demokratie diese Debatte fort, um das magische Viereck mit den veränderten Anforderungen und einem neuen Wachstumsverständnis des 21. Jahrhunderts in Einklang zu bringen.
Es ging damals und es geht heute darum, Orientierung im Wandel zu geben, zum Beispiel den saarländischen Beschäftigten im Stahl. Aber auch und gerade uns als politischen Akteuren in unserem Tagesgeschäft und bei den langfristigen Perspektiven für unsere Gesellschaft.
Nicht jedes Vorhaben, das die Aspekte des Magischen Fünfecks berücksichtigt, muss die finanzielle Dimension haben wie der Umbau der saarländischen Stahlindustrie. Aber Vorbild für mutige, zukunftsgewandte und nachvollziehbare Ziele und Kriterien kann dieses Mammutprojekt sein. Vor der Menschheit türmt sich die Jahrhundertaufgabe der sozial-ökologischen und digitalen Transformation auf. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen: global und lokal. Mit Taten und mit der Haltung, diese Transformation so zu gestalten, dass sie alle Menschen zu Wohlstand und Sicherheit verhelfen kann. Wenn wir uns am Magischen Fünfeck orientieren, dann werden wir beweisen können, dass die liberale Demokratie am besten in der Lage ist, die Voraussetzung für technologischen gesellschaftlichen Wandel zu schaffen und zu realisieren. In Völklingen und anderswo.
Anke Rehlinger