Die Stahlindustrie steht vor dem größten Umbruch ihrer Geschichte. In den kommenden Jahren muss sie sich fundamental wandeln, um weiterhin ihre Rolle als Basis unserer Volkswirtschaft zu erfüllen, indem sie ihre Produktion auf klimaneutrale Verfahren umstellt. Dazu braucht es mutiges Handeln der Unternehmen und verlässliche politische Rahmenbedingungen, möglichst über Legislaturperioden hinaus.
Klar ist, dass dieses Jahrhundertprojekt anstrengend und teuer wird, zugleich aber unerlässlich ist. Denn die Stahlindustrie in unserem Land verursacht ein Drittel aller Industrieemissionen. Ihre Dekarbonisierung ist damit zentrale Voraussetzung für die Klimaneutralität unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Entscheidend ist dabei, dass Stahl weiterhin in Deutschland und Europa produziert wird. Denn nur dann können Wertschöpfung, Wohlstand und Resilienz unseres Wirtschaftsstandorts erhalten bleiben. In Zeiten zunehmender geoökonomischer Instabilität gilt dies umso mehr.
Mit anderen Worten: Die Erreichung der Klimaneutralität muss einhergehen mit dem Erhalt unserer industriellen Wettbewerbsfähigkeit. Und dafür muss sich die Politik einsetzen!
Unsere Stahlindustrie ist dabei ein entscheidender Schlüssel: Sie steht am Anfang nahezu aller industrieller Wertschöpfungsketten – von der Automobilindustrie, über die Bauindustrie bis zum Maschinenbau. Für das Projekt Energiewende ist Stahl unverzichtbar: Windkraftanlagen, Solarmodule, Strommasten, Wasserstoff-Pipelines und Elektrolyseure benötigen enorme Mengen an Stahl. Ein Megawatt Photovoltaik-Zubau braucht 35 bis 45 Tonnen Stahl, für ein Megawatt Windkraft werden etwa 120 bis 180 Tonnen Stahl benötigt. Mit über 2.500 Sorten Stahl stellt unsere Branche zudem die Ausgangsmaterialien für fast alle modernen Industrien her. Und so ist es nicht verwunderlich, dass zwei Drittel der deutschen Exporte stahlintensiv sind.
Ein Alleinstellungsmerkmal der deutschen Industrie sind ihre eng vernetzten Wertschöpfungsketten, in denen sich Zulieferindustrie, Grundstoff-Produktion, Weiterverarbeitung und Abnehmerbranche auch räumlich aufeinander verlassen. Die Stahlindustrie ist unerlässlicher Bestandteil dieser industriellen Wertschöpfungsnetzwerke, was eindrucksvoll durch eine aktuelle Studie[1] belegt wird: Gemeinsam mit Zulieferern und Abnehmern steht die Stahlbranche für fast ein Viertel des gesamten Produktionswerts in Deutschland – das entspricht 1,7 Billionen Euro. Wenig bekannt ist, dass insbesondere der industrielle Mittelstand in Deutschland stark auf Stahl angewiesen ist. Etwa die Hälfte seines Produktionswerts hängt direkt vom Wertschöpfungsnetzwerk Stahl ab.[2] Die Stahlindustrie stellt mithin nicht nur 80.000 direkte Arbeitsplätze in der reinen Produktion, sondern sorgt auch für über vier Millionen Jobs in stahlintensiven Branchen.
Kreislaufwirtschaft und Ressourceneffizienz: Stahl ist der weltweit am häufigsten recycelte industrielle Werkstoff überhaupt
Zu wenig bekannt ist auch die Vorreiterrolle der Stahlindustrie in der Kreislaufwirtschaft. In der Produktion wird zirkuläres Wirtschaften seit Jahrzehnten großgeschrieben: Integrierte Hüttenwerke nutzen anfallende Gase zur Strom- und Wärmeerzeugung. Schlacken werden als Nebenprodukte in der Bau- und Zementindustrie verwertet, Metalloxide für Pigmente und chemische Rohstoffe genutzt. Große Teile des benötigten Wassers werden mehrfach wiederverwendet.
Vor allem aber ist Stahl der weltweit am häufigsten recycelte industrielle Werkstoff überhaupt. Rund 85 Prozent des seit der Industrialisierung erzeugten Stahls befinden sich noch immer in Nutzung. Die Recyclingquote ist enorm hoch und etablierte Sammel- und Aufbereitungsstrukturen ermöglichen eine nahezu unendliche Rückführung und Wiederverwertung.
Stahlschrott als Sekundärrohstoff ist also eine Schlüsselressource. Aber er ist auch knapp, und sein Bedarf wird in Zukunft weiter steigen – und das weltweit. Ein ausreichendes Schrottaufkommen in der benötigten Qualität ist deshalb eine zentrale Voraussetzung für einen erfolgreichen Umbau zur Klimaneutralität in Deutschland und Europa. Die erforderlichen Schrottmengen abzusichern, ist strategische Aufgabe der Politik.
Herausforderungen einer nachhaltigen Stahlproduktion
Um die Stahlproduktion zu dekarbonisieren, muss auf neue, klimaschonende Verfahren umgestellt werden. Zum einen werden statt CO2-intensiver Hochöfen derzeit Direktreduktionsanlagen (DR-Anlagen) errichtet, die aus Eisenerz zunächst mithilfe von Erdgas und perspektivisch mit Wasserstoff Eisenschwamm herstellen – und statt CO2 dann H2O emittieren. Zweiter Baustein der Dekarbonisierung sind die oft mittelständisch geprägten Elektrostahlwerke, die Schrott mit Strom zu neuem Stahl erschmelzen und in Deutschland für 30 Prozent der Stahlproduktion stehen. Sie können dann klimaneutral produzieren, wenn sie auf grünen Strom in der Produktion und auf Wasserstoff in der Weiterbearbeitung umstellen.
Bei diesem Umbau auf emissionsarme Produktionstechniken und erneuerbare Energien stehen die Unternehmen vor immensen Herausforderungen: Es fallen Baukosten in Milliardenhöhe an, und der Technologiewechsel ist mit dauerhaft höheren Betriebskosten verbunden. Enorme Nachteile für eine Branche, die im globalen Wettbewerb steht und das in einem massiv verschärften Umfeld:
- Geoökonomische Spannungen wachsen, internationale Wettbewerber wie China oder die USA betreiben aktive Industriepolitik und erhöhen den globalen Konkurrenzdruck.
- Es herrscht eine anhaltende Konjunkturschwäche mit dramatischen Nachfrageeinbrüchen bei den Kundenbranchen.
- Unfaire, oft CO2-intensive Billigimporte aus Asien führen zu massiven Wettbewerbsverzerrungen und setzen den Markt unter Druck.
- Die Energiekosten sind in Deutschland im internationalen Vergleich nicht wettbewerbsfähig und stellen eine existenzielle Belastung dar.
In dieser Lage ist eine konsequente politische Flankierung der Industrie schlichtweg unerlässlich. Doch hier bestehen noch deutliche Lücken.
Schutz vor Carbon Leakage und außenhandelspolitische Absicherung jetzt!
In Zeiten geopolitischer und geoökonomischer Verwerfungen und einem Krieg mitten in Europa muss die EU Handlungsfähigkeit beweisen und Deutschland wieder mit einer geeinten Stimme in Brüssel auftreten. Wichtigster Punkt ist hier der Schutz vor den Auswirkungen der global weiter ungebremst wachsenden Stahl-Überkapazitäten. Nach Berechnungen der OECD sind diese Überkapazitäten 2023 auf über 550 Millionen Tonnen angewachsen – vor allem im Bereich der kohlebasierten Erzeugungsrouten und vor allem in Asien. Knapp die Hälfte der globalen Rohstahlkapazitäten fokussieren sich auf China, das weiterhin zum Großteil auf traditionelle kohlebasierte Erzeugungstechnologien setzt und sich damit für Jahrzehnte auf CO2-intensive Produktionsmethoden festlegt.
Als Konsequenz dieser Überkapazitäten wird Europa mit massiven, oft unfairen Billigimporten insbesondere aus China überschwemmt. Durch diese seit Jahren immer stärker werdenden Importe haben sich die Wettbewerbsbedingungen für die europäische Stahlindustrie immer weiter verschlechtert.
Um die Unternehmen zu schützen und den Umbau der deutschen und europäischen Stahlindustrie abzusichern, braucht es ein Umdenken und konsequentes Handeln der Europäischen Kommission. Dazu gehört der konsequente Einsatz bestehender EU-Handelsschutzinstrumente unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten, die das WTO-Recht bietet. Und dazu gehört die effiziente Entwicklung des EU-Grenzausgleichs (CBAM) zu einem wirksamen Instrument, damit endlich ein Level Playing Field mit internationalen Wettbewerbern hergestellt wird, die keinen Emissionshandel kennen und keine CO2-Kosten zu schultern haben.
Energiekosten senken heißt Wettbewerbsfähigkeit erhöhen
Ein weiterer systemischer Standortnachteil sind die im europäischen und internationalen Vergleich nicht wettbewerbsfähigen Energiekosten in Deutschland. Dabei ist klar: Ausreichende Mengen an erneuerbarem Strom zu bezahlbaren Preisen sind die Voraussetzung für den Umbau zur Klimaneutralität. Denn dieser Umbau beruht auf Elektrifizierung – ob direkt durch den Einsatz von Strom oder indirekt durch den Einsatz elektrolytisch erzeugtem Wasserstoff. International wettbewerbsfähige Stromkosten sind daher ein entscheidender Schlüsselfaktor.
Doch genau hier liegt das Problem: Die Großhandelspreise für Strom liegen weit höher als in den USA und in China – und auch französische, spanische oder schwedische Unternehmen können mit niedrigeren Strompreisen kalkulieren. Dazu kommen in Deutschland die seit 2024 explosionsartig gestiegenen Übertragungsnetzentgelte, die allein in der Stahlindustrie 300 Millionen Euro jährliche Zusatzkosten verursachen. Geld, das nicht wie vorgesehen in Deutschland investiert werden kann, sondern buchstäblich „verbrannt“ wird.
Gerade für die Elektrostahlroute sind diese hohen Stromkosten eine existenzielle Belastung. Und auch die Hochofenroute wird in Zukunft auf wettbewerbsfähige Stromkosten angewiesen sein, denn ihr Strombedarf erhöht sich durch den Umstieg vom Hochofen zur Direktreduktionsanlage um den Faktor vier bis fünf. Und dieser muss – im Gegensatz zur heutigen Situation, in der die integrierten Hüttenwerke ihren Strom aus im Produktionsprozess anfallenden Kuppelgasen zum größten Teil selbst produzieren – vom Markt bezogen und über das öffentliche Netz transportiert werden. Der gesamte Strombedarf der Branche wird sich bis 2030 um 12 Terawattstunden erhöhen.
Deshalb brauchen wir von der Politik strukturelle und langfristig wirkende Lösungen! Ein planbarer und wettbewerbsfähiger Industriestrompreis, der Netzentgelte und Umlagen umfasst, wäre die beste Lösung zur Nivellierung dieses Standortnachteils – für die Stahlbranche wie für die gesamte energieintensive Industrie. In jedem Fall braucht es langfristig ein effizientes und funktionierendes Strommarktdesign, das auch eine staatliche Finanzierung der transformationsbedingten Netzkosten umfasst. Und als politische Sofortmaßnahme müssen die Übertragungsnetzentgelte so schnell wie möglich wieder auf das Niveau von 2023 gesenkt werden.
Wasserstoff und Erdgas – beides hilft dem Klima!
Für eine klimaneutrale Stahlproduktion wird klimaneutraler Wasserstoff gebraucht – für die Umstellung der Hochofenroute auf Direktreduktionsanlagen (DR-Anlagen), und perspektivisch auch in den Elektrostahlwerken als Ersatz für Erdgas zur Prozesswärmeerzeugung.
Doch für die im internationalen Wettbewerb stehende Stahlindustrie ist wesentlich, dass der Wasserstoff nicht nur vorhanden, sondern auch bezahlbar ist. Und in Deutschland und Europa sind wir davon weit entfernt. Als pragmatischer Zwischenschritt können die Unternehmen zunächst Erdgas einsetzen. Durch diese Flexibilität unserer Industrie können mögliche Verzögerungen beim Wasserstoffhochlauf abgefedert – und zugleich bereits über 60 Prozent CO2-Einsparungen erreicht werden. Schon aus diesem Grund muss das politische Augenmerk in den kommenden Jahren auch auf bezahlbaren Gaspreisen liegen.
Parallel sollte der ins Stocken geratene Wasserstoffhochlauf beschleunigt werden: Durch den raschen Aufbau des Wasserstoffnetzes, durch Offenheit für alle Wasserstofffarben und durch eine pragmatischere Regulierung.
Pilotmärkte als marktwirtschaftlicher Weg in die Zukunft
Der heutige Markt gibt einem klimafreundlich hergestellten Produkt noch keinen eigenen Wert, im Gegenteil: Die Produktion dieser Produkte ist teurer. Deshalb sollte die Nachfrage nach emissionsarmen Grundstoffen mithilfe marktwirtschaftlicher Anreize gesteigert werden. Das sieht auch der wissenschaftliche Beirat des BMWK [3] als unerlässlich an. Um die Mehrkosten der klimaschonenden Stahlproduktion aufzufangen und die Wirtschaftlichkeit zu ermöglichen, muss eine Nachfrage und Zahlungsbereitschaft für den emissionsarmen, aber teureren Stahl angereizt werden. Dazu sollten Leit- oder Pilotmärkte für klimafreundliche Grundstoffe geschaffen werden – begonnen bei der öffentlichen Hand. Denn ein Staat, der seiner Gesellschaft und der Wirtschaft das Ziel der Klimaneutralität politisch vorgibt, sollte dann auch mit gutem Bespiel voran gehen und die klimaneutralen Produkte kaufen. Auf nationaler Ebene muss deshalb das Vergaberecht novelliert werden, auf europäischer Ebene sollten die öffentlichen Beschaffungsrichtlinien konsequent auf den Einkauf nachhaltiger und CO2-armer Materialien ausgerichtet werden.
Fazit: Eine nachhaltige Stahlindustrie als Fundament für die Zukunft
Was notwendig ist, um unsere Industrie in diesen schweren Zeiten wettbewerbs- und zukunftsfähig zu machen, wurde bereits vielfach beschrieben – etwa im Handlungskonzept Stahl der Bundesregierung 2020[4]und im Nationalen Stahl-Aktionsplan 2024 [5].Was jetzt nottut, ist beherztes Handeln: Wir brauchen eine aktive Industriepolitik, die sich mit European-Content-Regeln klar zum Standort Deutschland und Europa bekennt.
Die kommenden Jahre werden entscheidend dafür sein, ob Deutschland und Europa ihren Platz als führende Standorte für nachhaltige Industrieproduktion behaupten können. Die Unternehmen stehen bereit, haben investiert, bauen um. Jetzt gilt es, die politischen Weichen zu stellen – für eine wettbewerbsfähige, klimaneutrale und resiliente Stahlindustrie, die Wohlstand und Stabilität für kommende Generationen sichert.
Kerstin Maria Rippel
Der Text ist ein Auszug aus dem neuen Band des Wirtschaftsforums der SPD „Visionomics – Fünf Säulen für Wohlstand in einer unsicheren Welt“. Das Buch ist am 14.4 erschienen im Dietz-Verlag und hier bestellbar.
[1] Vgl. Studie von Oliver Wyman und IW Consult „Die Stahlindustrie am Scheideweg – Wegbereiter für Transformation und gesamtwirtschaftliche Resilienz“ (16.12.2024): https://www.wvstahl.de/wp-content/uploads/20241216_Oliver-Wyman_Stahl_Studie.pdf
[2] Vgl. Studie Oliver Wyman / IW Consult (2024) S. 13.
[3] Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (Dezember 2022): „Transformation zu einer klimaneutralen Industrie: Grüne Leitmärkte und Klimaschutzverträge“, https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Publikationen/Ministerium/Veroeffentlichung-Wissenschaftlicher-Beirat/transformation-zu-einer-klimaneutralen-industrie.pdf?__blob=publicationFile&v=8; Abrufdatum: 11.02.2025
[4] Bundesregierung (Juli 2020): „Für eine starke Stahlindustrie in Deutschland und Europa“ – Handlungskonzept Stahl, https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Publikationen/Wirtschaft/handlungskonzept-stahl.pdf?__blob=publicationFile&v=1, Abrufdatum: 11.02.2025
[5] Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Stahlallianz (September 2024): Nationaler Aktionsplan Stahl, https://www.wirtschaft.nrw/system/files/media/document/file/aktionsplan_stahl_2024_final_web.pdf, Abrufdatum: 11.02.2025