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Klammer für intakte Umwelt und nachhaltiges Wirtschaften

 

Deutschland Mitte der 2020er Jahre: in Teilen ein Bild des Jammers. Eine Volkswirtschaft, die mit anhaltendem Mini-Wachstum ihren Rang als Nummer Drei in der Welt gefährdet. Deren stolze Industrien den Boden unter den Füßen verlieren. Und eine Nation, die in Hoffnungslosigkeit, Missmut und Polarisierung abzugleiten droht.

Im aktuellen Edelman Trust Barometer rechnet nur noch jeder siebte damit, dass es der nächsten Generation einmal besser geht. Und ebenso ausgeprägt wie die Depression ist der Frust: Ganze 69 Prozent – auch hier eine deutliche Abweichung vom globalen Durchschnitt – empfinden in Deutschland Groll. Gegen politisch Verantwortliche, gegen Unternehmen, gegen die „oberen Zehntausend“. Eine Unzufriedenheit, die bedenklich ins Extreme tendiert – fast vier von zehn Befragten befürworten einen feindseligen Aktivismus.

Es ist offensichtlich: Unser Land befindet sich nicht nur in einer teils kläglichen wirtschaftlichen Verfassung, sondern auch in einer eklatanten Vertrauenskrise. Immer dringlicher wird der Handlungsbedarf, es wieder nach vorn zu bringen. Der Wirtschaft die richtigen Stimuli sowie den Bürgerinnen und Bürgern überzeugende Perspektiven und Zuversicht zu geben. Zu den drängenden Fragen zählt dabei, ob unser Wohlstands- und Wachstumsmodell in seiner vorherrschenden Form noch tauglich ist. Denn die vielzitierten „Grenzen des Wachstums“ sind ja längst überschritten.

Deutschland Mitte der 2020er Jahre – das ist nämlich auch eine Nation, die eigentlich drei Planeten bräuchte, um sich ihr bisheriges Konsumverhalten und ihre Produktionsweisen zu erlauben. Über ein halbes Jahrhundert leben wir schon über unsere Verhältnisse. Borgen uns immer mehr Öl, Kohle, Wasser, Holz, Erze von der Erde, unserem geduldigen Gläubiger. Seit 1970 hat sich der globale Ressourcenverbrauch mehr als verdreifacht. Der Preis wird immer erdrückender: Die Menschheit zahlt für ihren Lebensstil mit Gesundheitsschäden, Klimaveränderungen, Abfallbergen, Artensterben.

Öko-Risiken nicht vergessen

In der Momentaufnahme von heute sind es zwar vor allem die akuten Krisen und Probleme, die weltweit und hierzulande im Blickpunkt stehen: Krieg in Europa und Nahost, geopolitische Verschiebungen, anhaltender Inflationsdruck und schwächelnde Konjunktur insbesondere in Europa. Doch wenn wir auf das Morgen und Übermorgen schauen, über Deutschland und seine Rolle in der Welt nachdenken, dann dürfen wir auch die unterschwelligen langfristigen Risiken nicht aus dem Blick verlieren.

Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass zum Beispiel seit 1990 rund drei Viertel aller Insekten in Deutschland verschwunden sind. Dass es hierzulande schleichend immer wärmer wird: Binnen 140 Jahren ist die Lufttemperatur im Mittel um 1,6 Grad gestiegen, deutlich stärker als der weltweite Durchschnitt. Und wir müssen Antworten darauf finden, wie wir unseren anscheinenden unersättlichen Appetit auf Rohstoffe zügeln.

Dazu gilt es zum einen, die Ressourceneffizienz insgesamt weiter zu erhöhen (wofür der Spielraum freilich immer kleiner wird, denn die tiefhängenden Früchte sind fast abgeerntet). Vor allem aber müssen wir weniger von den falschen Ressourcen verbrauchen. Und das heißt ganz klar: Weg von den fossilen Quellen, deren Nutzung dem Klima schadet, und hin zu alternativen Rohstoffen.

Komplexe Transformation bewältigen

Eine riesige, überaus komplexe Transformation. Sie betrifft nicht nur die Chemie- und Kunststoffindustrie und das produzierende Gewerbe insgesamt, sondern auch die anderen klimarelevanten Sektoren: Energie, Verkehr, Landwirtschaft sowie Bauen und Wohnen. Immerhin haben sie den technologischen Fortschritt auf ihrer Seite. Denn überall da, wo bislang noch fossiler Kohlenstoff die Hauptrolle spielt, gibt es vielversprechende Alternativen. Sie müssen nur skaliert und wettbewerbsfähig gemacht werden.

So sind Abfälle beziehungsweise ausgediente Produkte ein schier unerschöpfliches Kohlenstofflager, das es konsequent auszubeuten gilt. Ferner ist CO2 nicht mehr nur der Klimakiller, sondern entwickelt sich zunehmend zum nützlichen Rohstoff, unter anderem in der Kunststoffproduktion. Wir sollten uns daher weder der Nutzung noch der Abscheidung und Speicherung von CO2 (CCU und CCS) verschließen. Komplettiert wird das Trio der alternativen Ressourcen durch Biomasse, die besonders umweltverträglich ist, wenn sie aus Pflanzenbestandteilen der nächsten Generation wie Rinde, Stroh oder Zellulose besteht.

In vielen Fällen existieren bereits handfeste Technologien für alternative Rohstoffe oder stehen an der Schwelle zur Markreife. In der Kunststoffbranche zum Beispiel ein völlig neues Verfahren, um die wichtige Chemikalie Anilin – unter anderem Bestandteil von Dämmplatten für Gebäude und Kühlgeräte – komplett aus pflanzlicher Biomasse herzustellen.

Einigende Vision bieten

Eine Umwälzung der Ressourcenbasis ist also nicht nur möglich, sondern bereits im Gange. Damit sie ein durchschlagender Erfolg wird, brauchen wir aber nicht allein gute Technologien, ambitionierte Ziele und großes Engagement. Wir brauchen auch ein ideelles Koordinatensystem. Eine einigende Vision, die uns mitreißt und motiviert – die Wirtschaft, die Politik, die Gesellschaft, jeden Einzelnen. Das ist für mich das Konzept der Kreislaufwirtschaft. Sie sollte zum globalen Leitprinzip werden mit Deutschland als treibender Kraft.

Der Übergang zu einer stärker kreislauforientierten Wirtschaft könnte Innovationen anregen, das Wachstum ankurbeln und Arbeitsplätze schaffen. So könnten Studien zufolge auf EU-Ebene bis 2030 rund 700.000 neue Jobs entstehen.

Zirkularität heißt: Güter öfter und länger nutzen und damit Konsumismus, Obsoleszenz und Übersättigung etwas entgegensetzen. Zirkularität bedeutet: Produkte so zu gestalten und herstellen, dass sie einfach repariert, mehrfach verwendet und gut wiederverwertet werden können. Des einen Müll muss den anderen Rohstoff werden. Kunststoffabfall etwa wird derzeit weltweit nur zu neun Prozent recycelt, und auch in Deutschland ist die Quote mit 35 Prozent noch ausbaufähig.

Noch etwas weiter und breiter gedacht, müssten wir unser gesamtes Wirtschaftssystem deutlich nachhaltiger machen. Wenn ich mir das Deutschland der Zukunft vorstelle, dann sehe ich ein Land vor mir, das konsequent auf nachhaltige Wertschöpfung ausgerichtet ist. Das die Ziele für nachhaltige Entwicklung klar adressiert, die auf der globalen Agenda stehen, und die Chance nutzt, zu einem Zentrum für entsprechende Zukunftstechnologien zu werden.

Ich sehe ein Land, das mit einem nachhaltigeren Wirtschaftsmodell auf zirkulärer Basis auch das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Menschen befördert. Und sich so eine zukunftsfähige gesellschaftliche Basis schafft – solidarisch, robust und insgesamt zufriedener.

 

 

Masterplan für Deutschland entwickeln

Doch zurück in die Gegenwart. Die ist leider ernüchternd. Kirchturmpolitik und Partikularinteressen dominieren. Wir verheddern uns in Diskussionen über Tempolimits, Heizungsverbote, überbieten uns mit hastigen Vorschlägen etwa in der Migrationspolitik, während wir doch endlich einen kohärenten, langfristigen Masterplan für Deutschland brauchen. Das geht aber nur, wenn auch ein neuer Kooperationsstil Einzug hält, mit einem Höchstmaß an Agilität, Flexibilität und Pragmatismus.

Die Chemie- und Kunststoffbranche jedenfalls steht bereit, um mit ihrem eigenen Masterplan die grüne Transformation zu unterstützen. Indem sie klimaneutrale Produkte aus alternativen Rohstoffen für viele Schlüsselsektoren bereitstellt – vom Elektroauto bis zum Windrad. Und indem sie ihre eigene Ressourcenbasis umbaut. Ein Riesenprojekt. Mutige Entscheidungen sind zu treffen, Expertentum auf höchstem Niveau ist gefragt. Wir brauchen einen langen Atem, werden neue Wege gehen, müssen vieles ausprobieren. Es gilt, Investitionsströme umzuleiten, funktionierende Märkte zu schaffen, nachhaltige, zirkuläre Produktionsweisen zu gewährleisten. Und, vermutlich die größte Herausforderung: Den Kunden müssen überzeugende Lösungen angeboten werden.

Daher brauchen wir für diesen Totalumbau richtig gute Rahmenbedingungen. Wir müssen wissen, woran wir sind, worauf wir zählen können. Ganz besonders ist das die Aussicht auf sehr viel klimaneutrale Energie zu wettbewerbsfähigen Preisen. Nötig ist zudem eine flächendeckende Infrastruktur, um die Versorgung vor allem mit Wasserstoff und Kohlendioxid sicherzustellen. Ein weiteres großes Thema: die durchgängige Digitalisierung des Landes; für die Kreislaufwirtschaft unter anderem zur Einführung von digitalen Produktpässen. Und selbstredend braucht es weniger bürokratische Auflagen und mehr Tempo in den Planungs- und Genehmigungsverfahren.

Zu echter Marktwirtschaft zurückkehren

Was wir absolut nicht brauchen, sind zum Beispiel gedankliche Scheuklappen. Vorgaben, welche Technologien wie zu nutzen sind und welche nicht, helfen nicht weiter. Wir brauchen keinen Dirigismus, sondern echte Marktwirtschaft und eine Rückkehr zu einer rahmensetzenden Politik. Nur auf diese Weise können wir bei Innovationen und Kosteneffizienz das volle Potenzial heben, um Deutschland nicht nur nachhaltiger, sondern auch wettbewerbsfähiger zu machen. So sollte etwa das noch neue chemische Recycling nicht zerredet, sondern unterstützt werden. Denn es ist bei bestimmten Kunststoffen, die nicht wie üblich geschreddert werden können, die einzig sinnvolle Methode der Wiederverwertung.

Das Potenzial, das hier steckt, lässt sich an einem Alltagsgegenstand verdeutlichen: Matratzen. 40 Millionen Stück werden davon jedes Jahr in Europa ausrangiert. Üblicherweise landen sie in Deponien oder in Müllverbrennungsanlagen. Doch es geht auch anders: Eine smarte neue Technologie für chemisches Recycling erlaubt es endlich, das Innenleben, also den bequemen Schaumstoff unter dem Überzug, wiederzuverwerten.

Recycling ausbauen, alternative Rohstoffe nutzen, die Kreislaufwirtschaft als Leitprinzip verwirklichen: Das sind für mich die Stellhebel für das Deutschland der Zukunft. Ich hoffe auf eine Nation, die in der zweiten Hälfte der 2020er Jahre das Steuer herumreißt. Die zu einem beispielgebenden Land erwächst, das die Ressourcennutzung in Einklang mit den ökologischen Grenzen bringt und Wertschöpfung in nachhaltige Bahnen lenkt.

 

Dr. Markus Steilemann ist Vorstandsvorsitzender von Covestro und Präsident des Verbands Chemischen Industrie (VCI).