Die europäische Industrie steht unter Druck. Deutschland als stärkstes Industrieland Europas trifft das ganz besonders. Hohe Energiekosten, geopolitische Risiken, neue Handelsbarrieren und ein Mangel an Planungssicherheit stehen einem riesigen Investitionsbedarf für die notwendige digitale und klimaneutrale Modernisierung unserer Volkswirtschaft gegenüber. Diese dramatischen Rahmenbedingungen zeigen Wirkung: In den vergangenen Monaten sind bereits zehntausende von tarifgebundenen und mitbestimmten Industriearbeitsplätzen verloren gegangen. Dieser Entwicklung muss dringend durch eine strategische Wirtschafts- und Industriepolitik entgegengewirkt werden, idealerweise koordiniert auf EU-Ebene.
Die vorherige EU-Kommission hatte mit dem European Green Deal ambitionierte Klimaschutzziele festgelegt und erste Maßnahmenpakete umgesetzt. Insbesondere durch Pandemie und Energiekrise hat sich das wirtschaftliche Umfeld jedoch dramatisch verändert, gleichzeitig hat die Inflation vor allem in den nicht-tarifgebundenen Bereichen zu erheblichen Einkommensverlusten und einer schwächelnden Binnenkonjunktur geführt. Das hat auch den Pfad einer zügigen und erfolgreichen Transformation deutlich erschwert. Mit Blick auf den Klimaschutz ist dies besonders erschreckend, da die sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Klimaveränderungen dramatischer und spürbarer sind denn je!
Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage ist es folgerichtig und sinnvoll, dass die gegenwärtige EU-Kommission eine Weiterentwicklung des European Green Deal vornimmt und bestehende Schwachstellen sowie blinde Flecken der bisherigen Regulierung überarbeitet. Zugleich ist es ein wichtiges Signal, dass die langfristigen Klimaziele als Leitschnur für einen nachhaltigen Entwicklungspfads erhalten bleiben. Damit grenzt sich die EU bewusst und richtigerweise von den jüngsten politischen Entwicklungen in den USA ab und sendet ein klares Signal: Für Unternehmen, Beschäftigte und Verbraucher*innen gibt es keine Alternative zum klimaneutralen Umbau.
Mit dem Clean Industrial Deal (CID) hat die EU-Kommission nun ein umfassendes Maßnahmenpaket vorgelegt, um traditionelle Industrien beim klimaneutralen Umbau zu unterstützen und den aufstrebenden Clean-Tech-Sektor in der EU im harten Wettbewerb mit China und den USA zu stärken. Zugleich markiert das Paket einen Bruch mit der bislang vorherrschenden Marktgläubigkeit, , die angesichts des Wettbewerbs mit den USA und China ohnehin kaum aufrecht zu erhalten ist war. Aus Gewerkschaftsperspektive besonders positiv hervorzuheben ist, dass auch die strategische und volkswirtschaftliche Bedeutung der energieintensiven Grundstoffindustrie anerkannt wird und der notwendige Transformationsprozess politisch flankiert werden soll.
Um eine gute wirtschaftliche Entwicklung auf dem Weg in die Klimaneutralität zu gestalten, ist ein massiver Aufwuchs von Investitionen in die Modernisierung und Innovationsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsstandortes notwendig. Hierzu herrscht weniger ein Erkenntnisdefizit als vielmehr ein Umsetzungsproblem, wie auch der Draghi-Bericht aus dem Herbst 2024 attestiert hatte. Vielfältige Schätzungen unterschiedlicher Institute zeigen alleine für Deutschland Investitionsbedarfe im hohen drei-stelligen Milliardenbereich, die durch öffentliche und private Mittel finanziert werden müssen. Draghi sprach von rund 800 Mrd. EUR, die in der EU jährlich mobilisiert werden müssten.
Aus gewerkschaftlicher Perspektive muss sich ein neuer industriepolitischer Ansatz an vier essentiellen Handlungsfeldern orientieren:
- Wettbewerbsfähige Energiepreise, die insbesondere bei den energieintensiven Unternehmen für mehr Planungs- und Investitionssicherheit sorgt und grundlegend für Investitionen in die Modernisierung ist.
- Schneller und grenzüberschreitender Ausbau industrienaher Infrastrukturen in den Bereichen: europäisches Eisenbahnnetz, Energienetze, Wasserstoff- und CO2-Infrastruktur.
- Stärkung öffentlicher und privater Investitionen, durch eine strategische Investitionspolitik. Diese muss nicht nur einen deutlichen Aufwuchs öffentlicher Investitionen umfassen, sondern auch gezielt private Investitionen flankiert. Insbesondere die starke Fixierung auf die CO2-Bepreisung muss nach den gemachten Erfahrungen durch gezielte Förder- und Investitionsimpulse der öffentlichen Hand ergänzt werden, um bestehende Industriezweige weiterzuentwickeln und die Ansiedlung strategisch wichtiger Branchen zu erleichtern – ein zentraler Beitrag zur Stärkung der wirtschaftlichen Resilienz.
- Stärkung Guter Arbeit durch eine Konditionierung öffentlicher Fördermittel an Tariftreue und Standortsicherheit und Maßnahmen zur Fachkräftesicherung.
Was davon lässt sich im Clean Industrial Deal der EU-Kommission wiederfinden?
Das Ziel, die Energiepreise zu senken, muss mit Priorität verfolgt werden. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind jedoch kein großer Wurf, sondern lediglich kleinteilige Anpassungen am bisherigen Strommarktdesign. Insbesondere fehlt die Entkopplung des Strompreises vom Gaspreis – eine Maßnahme, die weiterhin zentral bleibt, solange Gas eine wichtige Rolle für die Versorgungssicherheit spielt.
Stattdessen erhöhen die Vorschläge vor allem den Flexibilisierungsdruck auf Verbraucher*innen – was insbesondere für energieintensive Produktionsprozesse problematisch ist. Auch die Wettbewerbs- und Verteilungseffekte steigender CO₂-Preise bleiben weitgehend unberücksichtigt.
Zudem mangelt es an konkreten Maßnahmen zur gezielten Preisdämpfung für bestimmte Verbraucher*innengruppen sowie an Reformen des Preisbildungsmechanismus. Daneben braucht es Antworten auf die Finanzierungsfragen beim Ausbau der Stromnetzinfrastrukturen. Aus Gründen der Kosteneffizienz sollte hier in erster Linie öffentliches Eigenkapital eingesetzt werden, um die Realwirtschaft vor ausufernden Netzentgelte zu schützen, die der Einstieg privater Finanzinvestoren zur Folge hätte.
Mit Blick auf die Stärkung von Investitionen bleibt die Finanzierungsfrage in Anbetracht des schon zitierten Draghi-Reports absolut unzureichend beantwortet. So legt der CID den Fokus auf die Mobilisierung von privatem Kapital und einer freiwilligen Investitionsagenda in den Mitgliedsstaaten. Statt neuer Mittel sollen bestehende Fonds, wie die EU-Strukturfonds, umgeschichtet werden, was fatale Folgen für die Stärkung strukturschwacher Region haben kann. Stattdessen braucht es eine Erhöhung der EU-Eigenmittel, eine investitionsfreundliche Reform der EU-Fiskalregeln jenseits der Verteidigungsausgaben sowie eine Fortsetzung der gemeinschaftlichen Kreditaufnahme nach dem Vorbild von Next Generation EU. Hierzu hatte der DGB jüngst mit dem EU-Zukunftsfonds ein eigenes Konzept eingebracht. Positiv bleibt zumindest festzuhalten, dass mit der geplanten Lockerung des EU-Beihilferechts die Regeln des TCTF bis 2030 fortentwickelt werden, so dass die nationalen Spielräume für industriepolitische Maßnahmen geweitet werden.
Mit Blick auf den Ausbau von industrienahen Infrastrukturen enthält der CID einige Vorschläge insbesondere zum beschleunigten Ausbau von grenzüberschreitenden Stromnetzen und zum Hochlauf bei der Wasserstoffinfrastruktur. Die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren beim Infrastrukturausbau und auch eine gesonderte Strategie zum Carbon Management sind dabei sinnvolle Ansatzpunkte. Unbeantwortet bleiben auch hier jedoch die offenen Finanzierungsfragen.
Es ist sinnvoll, dass der CID die Relevanz der Kreislaufwirtschaft und Rohstoffversorgung mit Blick auf die strategische Autonomie besonders hervorhebt. Hierzu werden sinnvolle regulatorische Vorschläge gemacht, wie etwa die gemeinsame europäisch koordinierte Beschaffung von kritischen Rohstoffen. Die Stärkung der europäischen Rohstoffgewinnung wird nur unzureichend betrachtet, ist jedoch eine wichtiger Schritt Richtung Versorgungssicherheit und Diversifizierung.
Die Reform der europäischen Richtlinien zur Vergabe öffentlicher Aufträge sowie die Schaffung von grünen Leitmärkten können dazu beitragen, die europäische Wertschöpfung zu stärken und Zukunftstechnologien anzusiedeln. Hier wäre der EU mehr Mut anzuraten, um mit einer smarten „European-Content“-Regelung zumindest ein Level-Playing-Field für die Produktion in Europa zu schaffen. Die derzeit stattfindende Debatte um die Definition von Resilienzkritierien weist hierbei jedoch in die richtige Richtung.
Mit Blick auf die soziale Dimension geht der CID weiter als auf Basis der bisherigen Ankündigungen der EU-Kommission erwartbar gewesen wäre. So soll unter anderem, wie lange bereits vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) gefordert, die Einführung eines Just Transition Frameworks eruiert werden. Zudem will man eine stärkere soziale Konditionierung von öffentlichen Fördermitteln prüfen. Deutschland hat hierzu bereits im Rahmen der Förderrichtlinie Klimaschutzverträge erste Fortschritte erzielt. Ausdrücklich wird im CID im Zusammenhang mit der Konditionierung von Fördermitteln auch eine Stärkung der Tarifbindung erwähnt – ein absolutes Novum. Problemtisch ist, dass es sich bei den Vorschlägen nicht um konkrete Legislativmaßnahmen handelt. Die Gewerkschaften erwarten, dass die soziale Konditionierung als Querschnittsthema behandelt wird und insbesondere in der Überarbeitung der europäischen Vergaberichtlinien berücksichtigt wird.
Auch stehen einige der angekündigten Maßnahmen des Clean Industrial Deals, wie die Unterstützung von jenen Unternehmen, die Gute Arbeit fördern, in direktem Widerspruch zu anderen Plänen der EU-Kommission, wie dem jüngst vorgestellten Omnibus-Paket, nach dem das europäische Lieferkettengesetz verschoben und die Nachhaltigkeitsberichterstattung eingeschränkt werden soll. Unter dem Deckmantel der Entbürokratisierung werden so weitreichende und gezielte Deregulierung zu Lasten von Beschäftigten und Umwelt vorangetrieben.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es der EU-Kommission gelungen ist, die Herausforderungen umfassend und präzise zu beschreiben. Auch einzelne Maßnahmenvorschläge gehen in die richtige Richtung. Die alles und entscheidende Frage der Finanzierung einer Investitionsagenda wird jedoch vollkommen unzureichend beantwortet. Hier war der Draghi-Report deutlich klarer!
Frederik Moch, Abteilungsleiter. Struktur-, Industrie- und Dienstleistungspolitik beim DGB