Im Februar 2025 präsentierte die EU-Kommission (KOM) den Clean Industrial Deal (CID) als Kommunikation an das Europäische Parlament, den Rat und andere EU-Institutionen. Das Strategiedokument ist zunächst rechtlich nicht bindend, formuliert aber Vorschläge für Reformen und Neuausrichtungen zahlreicher EU-Instrumente. Ziel ist es, die anvisierte Klimaneutralität bis 2050 mit der Wettbewerbsfähigkeit heimischer Schlüsselindustrien zu verbinden. Zwar ist der CID formal-rechtlich unabhängig vom Green Deal, der 2019 während der ersten Amtszeit von KOM-Präsidentin von der Leyen vorgestellt wurde. In der Praxis allerdings flankiert er den Green Deal mit konkreten Vorschlägen zur beschleunigten Industriedekarbonisierung.
Anstatt eine vollumfängliche Analyse der breiten Ziele und Maßnahmen vorzunehmen, stellt der vorliegende Beitrag einige Merkmale des CID heraus, um eine Einordnung zur sich verändernden Rolle der EU im globalen Wettbewerb vorzunehmen. Der CID positioniert die EU als ambitionierte Gestalterin einer grünen Transformation, die europäische Interessen und Werte zu wahren sucht. Dies bietet große Chancen, geht aber auch mit neuen außenpolitischen Herausforderungen einher.
Vom Green Deal zum Clean Industrial Deal: Veränderung des geopolitischen Umfelds
Die Verabschiedung des CID erfolgte vor dem Hintergrund eines drastisch veränderten außenpolitischen Umfelds. Die Bedeutung grüner Technologien ist in den vergangenen Jahren weltweit gewachsen – und mit ihr die geopolitische Dimension der grünen Transformation. Etablierte Industrienationen und aufstrebende Schwellenländer streben gleichermaßen nach neuen Absatzmärkten und ökonomischem Einfluss. Die grüne Transformation ist längst Projektionsfläche für industrie- und wirtschaftspolitischen Wettbewerb. Dabei ist der CID – gemeinsam mit bestehenden EU-Instrumenten wie dem Critical Raw Materials Act (CRMA) und dem Net Zero Industry Act (NZIA) – auch eine Reaktion auf industriepolitische Entwicklungen, insbesondere in den USA und China. Die USA haben im Rahmen des Inflation Reduction Act während der Biden-Administration milliardenschwere Förderungen für Firmen bereitgestellt, die Investitionen für grüne Industrieproduktion im eigenen Land tätigen. Die chinesische Regierung unterstützt heimische Firmen seit Jahren massiv durch Subventionen und Förderprogramme. Eine Dominanz chinesischer Unternehmen in grünen Lieferketten ist die Folge. Hier muss sich die EU behaupten, wenn sie im Wettbewerb der Industriemächte nicht den Anschluss verlieren will.
Übergeordnetes Ziel ist bei all dem, dass gerade energieintensive Industrien nicht einfach in Drittstaaten abwandern, sondern in Europa bleiben und den Wandel zur Klimaneutralität vollziehen. Neben der industriepolitischen Komponente gibt es auch eine klimapolitische Motivation: Es soll verhindert werden, dass CO2-Emissionen lediglich ins Ausland verlagert, statt tatsächlich global reduziert werden. Die Verhinderung solcher „Carbon Leakage“-Effekte ist auch Beweggrund des CO2-Grenzausgleichmechanismus („Carbon Border Adjustment Mechanism“, CBAM). Mit dem CID setzt die EU positive Anreize, die komplementär zum CBAM wirken sollen. Die robuste Verteidigung klimapolitischer Ziele wird umso wichtiger, da Klimapolitik angesichts multipler Krisen global unter Druck gerät und etwa die USA unter Präsident Trump nationale und internationale Bemühungen zum Klimaschutz untergraben.
Weiterentwicklung der EU als industriepolitische Gestalterin: Förderung strategischer Industrien
In diesem Kontext verändert sich die Rolle der EU: Sie ist nicht mehr „nur“ agnostische Regulatorin des Binnenmarktes, sondern avanciert zunehmend selbst zur industriepolitischen Gestalterin. Die EU und ihre Mitgliedstaaten unterstützen mit politischen und finanziellen Ressourcen als „strategisch“ angesehene Industrievorhaben – und greifen damit selbst in grüne Märkte ein. So plant die KOM etwa die Etablierung grüner Leitmärkte: Durch Nachhaltigkeitskriterien in der öffentlichen (und möglicherweise privatwirtschaftlichen) Beschaffung soll die Nachfrage für grüne Produkte in der EU steigen. Über sogenannte „local content requirements“ könnte eine teilweise Wertschöpfung innerhalb der EU zur Voraussetzung werden. Auch plant die KOM ein neues Rahmenwerk, das die Bereitstellung staatlicher Beihilfen für Dekarbonisierungs- und Clean Tech-Projekte vereinfacht. Ein weiteres Beispiel sind die bereits bestehenden Important Projects of Common European Interest (IPCEI). Dieses Förderinstrument ermöglicht Verbünden von Mitgliedstaaten milliardenschwere Beihilfen für Schlüsselprojekte in den Bereichen Forschung, Entwicklung und Industrie. Sie werden zwar von Mitgliedstaaten finanziert, aber länderübergreifend koordiniert. Zusammen verdeutlichen diese Maßnahmen einen Trend der wachsenden instrumentellen Nutzung von EU-Regularien und -Maßnahmen zur Erreichung industriepolitischer Ziele.
Mit dem CID verfolgt die KOM nun zwei zentrale Ziele: Zum einen sollen die Wettbewerbsbedingungen für energieintensive Industrien (z.B. Stahl, Chemie) verbessert werden. Zum anderen wird als industriepolitisches Ziel die gezielte Förderung von Unternehmen und Investitionen im Green Tech-Bereich angestrebt.
Zur Umsetzung sieht die KOM eine Bandbreite an Maßnahmen und Reformen vor. Hierzu zählen unter anderem die Senkung von Energiekosten als strukturelles Hindernis der Wettbewerbsfähigkeit, sowie eine Verschlankung von Berichtspflichten für Unternehmen. Vor dem Hintergrund des geopolitischen Kontexts sind jedoch vor allem finanzielle Anreizinstrumente relevant. Zentrales Vorhaben ist die Schaffung einer Industrial Decarbonization Bank, mit der auf der Basis des Innovation Funds 100 Mrd. Euro an neuen Mitteln für Innovation und Technologie zur Verfügung gestellt werden sollen – wobei noch zusätzliche Einnahmen aus dem Emissionshandel hinzukommen. Noch in diesem Jahr sollen sechs Milliarden Euro aus dem Innovation Fund in Vorhaben in Bereichen wie Clean Tech und Batterieherstellung fließen.
Um zudem größere private Investitionen zu mobilisieren, schlägt die KOM eine Reform des InvestEU-Programmes vor, mit dem Investitionsrisiken abgesichert werden. Durch die Ausweitung von Finanzgarantien sollen 50 Mrd. Euro an zusätzlichen Investments aus öffentlicher und privater Hand in grüne Märkte fließen. Die Förderumfänge sind zwar nicht ganz mit den in den USA oder China bereitgestellten Mitteln vergleichbar. Dennoch scheint bei entsprechender Umsetzung eine Sicherung heimischer Industrien im globalen Wettbewerb möglich.
Sektoral legt die KOM wichtige Schwerpunkte, etwa im Bereich der Förderung und Verarbeitung kritischer Rohstoffe, die für Technologien der grünen und digitalen Transformation zentral sind. Hier ist die EU stark vom Angebot aus einigen wenigen Ländern abhängig – insbesondere China dominiert Produktions- und Verarbeitungskapazitäten. Die KOM plant eine Plattform, um die Nachfrage nach kritischen Rohstoffen zu bündeln und somit eine stärkere Marktposition zu erlangen. Zudem soll ein Zentrum für Kritische Rohstoffe Einkäufe für die Privatwirtschaft und in Kooperation mit Mitgliedstaaten tätigen. Die Maßnahmen dienen der Implementierung des CRMA, der Abhängigkeiten reduzieren und heimische Kapazitäten etablieren soll. Hierin liegt ein weiteres Beispiel für die zunehmende Einflussnahme der EU in „strategischen“ Märkten: Das politische Ziel des De-Riskings – die Reduktion übermäßiger Abhängigkeiten, insbesondere von China – wird auch über den CID befördert.
Neben der Diversifizierung von Importen ist angesichts begrenzter heimischer Förderung und langer Investitionszyklen für Produktions- und Verarbeitungskapazitäten die Kreislaufwirtschaft ein wichtiges Element für mehr Resilienz. Bis 2030 sollen 24 % der EU-Rohstoffe in Kreisläufen genutzt werden – mehr als doppelt so viel wie im Jahr 2023. Zur Umsetzung will die KOM bis Ende 2026 Initiativen und Reformen vorschlagen. Diese Schwerpunktsetzung ist begrüßenswert, auch da die EU über eine Stärkung der Kreislaufwirtschaft eine globale Führungsrolle auf- und ausbauen könnte.
Fragen verbleiben indessen zur kurz- und mittelfristigen Umsetzung, insbesondere in Bezug auf die Bereitstellung der Finanzen. Forschende des Wuppertal Instituts weisen darauf hin, dass die Implementierung vielfach bei den Mitgliedstaaten liegt, die häufig die finanziellen Ressourcen bereitstellen. Einige zusätzliche Mittel dürften auch erst über das neue Multiannual Financial Framework (den langfristigen Haushalt der EU) ab 2028 zur Verfügung stehen. Multiple Krisen und wirtschaftspolitische Herausforderungen setzen die Mitgliedstaaten zwar unter Druck, doch gerade angesichts des geopolitischen Wettbewerbs sind neue Investitionen dringlich. Die Umsetzung sollte deshalb insbesondere von wirtschaftlich gewichtigen Ländern wie Deutschland vorangetrieben werden.
Außenpolitische Flankierung: Partnerschaften und Diplomatie stärken
Neben der innereuropäischen Implementierung bedarf es einer außenpolitischen Flankierung des CID. Zwei Punkte sind dabei zentral:
Erstens sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten eine Kommunikationsstrategie zu Zielen und Maßnahmen der grünen Industriepolitik entwickeln. Denn wenn die EU grüne Leitmärkte etabliert, Industriestandards setzt, und lokale Wertschöpfung fördert, betrifft dies ihre Handelspartner, die sich unter Umständen auf neue Exportbedingungen einstellen müssen. Nicht nur in den USA und China, sondern auch in wichtigen weiteren Ländern wie etwa den G20-Mitgliedern wird Europas Industriepolitik aufmerksam beobachtet. Die EU sollte vermeiden, dass ihre Politik als protektionistisch wahrgenommen wird. Hier sollte aus Erfahrungen beim CBAM gelernt werden, wo die außenpolitische Kommunikation mitunter vernachlässigt wurde. Eine strategische Kommunikation fördert außerdem Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit und erhöht die Planungssicherheit für Handelspartner. Diplomat:innen der KOM, des Europäischen Auswärtigen Dienstes und von Mitgliedstaaten sollten deshalb ihre legitimen Ziele und Beweggründe erläutern.
Zweitens sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten Rohstoff- und Handelspartnerschaften mit Drittstaaten ausbauen. Die im Rahmen des CID geplanten „Clean Trade and Investment Partnerships“ sind vor diesem Hintergrund zu begrüßen. Auch sollte die EU Rohstoffpartnerschaften ausbauen, um die Diversifizierungsziele des CRMA umzusetzen. Viele Industrie- und Schwellenländer teilen das Interesse der EU, sich im Zuge des De-Riskings unabhängiger von China zu machen. Das bietet Anreize für Zusammenarbeit. Zentral ist allerdings eine Ausgestaltung im gegenseitigen Interesse. Elemente für Partnerschaften auf Augenhöhe könnten dabei die gemeinsame Entwicklung und Anwendung von Technologien und Innovationen sowie eine Integration von Lieferketten mit substanzieller Wertschöpfung in Drittstaaten sein.
Mit dem CID setzt die KOM wichtige Impulse für eine Weiterentwicklung der heimischen Industrie. Die Verknüpfung mit außenpolitischen Handlungsfeldern wie der Handels- und Außenwirtschaftspolitik, aber auch der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der Klimadiplomatie kann die Glaubwürdigkeit der EU stärken. Eine außenpolitische Flankierung sollte deshalb die Umsetzung begleiten.
Tim Bosch, Research Fellow, Zentrum für Klima und Außenpolitik, DGAP