1. Eine Welt im Wandel
Die globale Wirtschaft befindet sich in einer Phase tiefgreifender Umbrüche. Einige Schwellenländer verzeichnen ein beispielloses Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP), während etablierte Wirtschaftsräume wie Deutschland und der Euroraum mit Stagnation kämpfen. Ein Blick auf aktuelle Indikatoren für Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten – zum Beispiel Publikationen in Fachzeitschriften oder Patentanmeldungen – verdeutlicht, dass nicht mehr allein die USA und Europa die globalen Wissenschafts- und Innovationsführer sind. Insbesondere China, aber auch andere Schwellenländer, haben stark aufgeholt bzw. sind in vielen Bereichen bereits vorbeigezogen und etablieren sich als neue Schrittmacher bei Spitzentechnologien.
Gleichzeitig steht Europa – und insbesondere Deutschland – vor zusätzlichen, noch tiefergreifenden Herausforderungen. Eine sicherheits-, wirtschafts- und innovationspolitische Neuausrichtung ist unumgänglich, da bestehende Bündnisse und Handelsbeziehungen in Frage gestellt werden. Günstiges Gas aus Russland stellt keine Option mehr dar. Zudem gerät die exportorientierte Wirtschaft nicht nur durch neue Wettbewerber unter Druck, sondern auch durch unberechenbare Zoll- und Handelspolitiken, allen voran jene der USA. All diese Entwicklungen verschärfen den Druck auf das gesamte Innovationssystem und machen deutlich, dass Deutschland sich im globalen Wettbewerb nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch behaupten und neu positionieren muss. Dazu braucht es ein zukunftsfähiges, starkes Innovationsökosystem, das flexibel genug ist, um mit geopolitischen und wirtschaftlichen Umbrüchen Schritt zu halten.
Parallel dazu zeigt sich eine zunehmende Abhängigkeit vieler Volkswirtschaften von Schlüsseltechnologien, die im Ausland entwickelt werden. Insbesondere aus den USA und – verstärkt in den letzten Jahren – aus China gelangen auf Schlüsseltechnologien basierende Produkte auf die Weltmärkte. Die globale politische Landschaft bewegt sich dabei weg von Multilateralismus und Freihandel: Isolationistische Tendenzen und protektionistische Maßnahmen gewinnen an Bedeutung. Für Unternehmen und Regierungen wird es daher immer wichtiger, technologisch souverän zu sein und strategische Allianzen sowie Handelsbeziehungen neu zu justieren.
Eine weitere fundamentale Veränderung wird in den Innovationsökosystemen selbst deutlich – besonders in den USA und in China. Große Tech-Konzerne investieren beträchtliche Summen in die eigene Grundlagenforschung und verkürzen dadurch den traditionellen Innovationszyklus: Der klassische Transfer von Universitäten oder Instituten in die Industrie verliert an Bedeutung, weil Unternehmen viele FuE-Aktivitäten direkt selbst übernehmen. Diese rasch fortschreitende Integration von Forschung und Entwicklung in großen Technologieunternehmen ist ein sich selbst verstärkender Prozess und bedeutet einerseits kürzere Innovationszyklen, andererseits aber auch höhere Einstiegshürden für mittelständische Unternehmen oder Standorte, die nicht Teil dieser Konzerne sind.
2. Geschäftsmodell Deutschland auf dem Prüfstand
Deutschland gilt traditionell als stark in Forschung und Entwicklung (FuE) – insbesondere in der Grundlagenforschung. Betrachtet man einschlägige Rankings, steht Deutschland (noch) gut da. Trotzdem zeigen viele Trendindikatoren, dass es zunehmend kritisch wird, insbesondere beim Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis.
Deutschland ist im mittleren Technologiebereich (z.B. Maschinenbau oder Automobilindustrie) weiterhin an der Weltspitze. Allerdings offenbaren sich Schwächen im Hightech-Sektor – dies zeigt sich etwa an den schwachen Exporten von hochwertigen und Spitzentechnologien. Zwar besitzt Deutschland eine solide Basis, muss jedoch dringend handeln, um den Anschluss nicht zu verlieren und noch abhängiger von Spitzentechnologien aus dem (außereuropäischen) Ausland zu werden.
Dieses Bild wird durch die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen noch weiter verschärft. Es ist ein grundlegender Wandel von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft erforderlich, um den Herausforderungen begegnen und einen Spurwechsel realisieren zu können.
Strukturelle Schwächen in der Unternehmens-FuE
Deutschland profitiert stark vom forschungsaktiven Mittelstand, der in vielen Branchen eine technologische Vorreiterrolle innehat. Allerdings müssen sich kleine und mittlere Unternehmen (KMU) an die veränderte Weltlage anpassen. Während die Wirtschaft in Summe nach wie vor den größten Beitrag zur FuE finanziert, gehen wichtige Kennzahlen zurück. Laut dem jüngsten Bericht der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) sinkt die Innovatorenquote, also der Anteil der Unternehmen, die in den letzten drei Jahren eine Innovation hervorgebracht haben, und zwar besonders in Hochtechnologiebranchen. Gleichzeitig verlagern manche Unternehmen ihre Forschung ins Ausland, wie etwa Umfragen des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) nahelegen. Dadurch sinkt die Quote der Drittmittel, die Universitäten und Forschungseinrichtungen von Unternehmen erhalten – womit ein wesentlicher Transferweg für Innovation an Bedeutung verliert.
Start-ups als Motor für Erneuerung?
Schon seit einiger Zeit wird Hoffnung in die deutsche Start-up-Szene gesetzt, um das „Geschäftsmodell Deutschland“ zu erneuern. Berlin und München sind bereits attraktive Zentren für Neugründungen und ziehen auch international Kapital an. Allerdings liegt die Gründerquote in Deutschland noch immer deutlich hinter jener in den USA zurück.
Ein weiterer Engpass: die Verfügbarkeit von Risikokapital. Für die Finanzierung von innovativen Geschäftsideen finden sich in Deutschland oft keine Investoren – im Vergleich mit den USA ist das Wagniskapitalvolumen in der EU über alle Gründungsphasen zwischen 73 und 82 Prozent geringer als in den USA. Nicht wenige deutsche Start-ups weichen deshalb auf US-amerikanische Geldquellen aus – mit der Gefahr, dass Unternehmenssitz und Know-how langfristig ins Ausland abwandern. Zwar existieren bereits starke Player, und es gibt auch einige Einhörner („Unicorns“) aus Deutschland, doch um mit internationalen Innovationszentren Schritt zu halten, müsste das VC-Umfeld noch deutlich ausgebaut werden.
Demografischer Wandel und Fachkräftemangel
Eine weitere Herausforderung für das deutsche FuE-System ergibt sich aus dem demografischen Wandel und dem Fachkräftemangel, gerade in technischen Berufen. In vielen Branchen fehlt es an hochqualifizierten Mitarbeitenden, um ambitionierte Forschungsprojekte zu realisieren und neue Geschäftsmodelle zu skalieren. Gerade für die Erneuerung der Infrastruktur oder die Transformation des Energiesystems fehlen Fachleute.
Mangelhafte Digitalisierung und bürokratische Belastungen
Zudem erschweren bürokratische Prozesse und regulative Hürden, etwa bei der Unternehmensgründung oder der Beantragung öffentlicher Fördermittel, die Entwicklung. Auch die noch nicht flächendeckend erreichte Digitalisierung mindert die Standortattraktivität. Hier muss Deutschland dringend aufholen, um Anschluss an die global schnell wachsenden Tech-Ökosysteme zu finden.
3. Wie der Spurwechsel gelingen kann
Wie die Analyse zeigt, ist die deutsche Wirtschaft aktuell auf einem Entwicklungspfad unterwegs, der eher auf traditionelle Stärken setzt und durch die globalen sicherheitspolitischen disruptiven Veränderungen unter Druck steht. Das Geschäftsmodell Deutschland ist zugleich durch Fachkräftemangel und die Abhängigkeit von Spitzentechnologien aus dem Ausland gefährdet – letzteres könnte sich bei weiteren Verwerfungen der globalen politischen und wirtschaftlichen Ordnung zum Damoklesschwert entwickeln. Bürokratische Hürden binden Ressourcen und hemmen Veränderung auf allen Ebenen von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Es ist also ein Spurwechsel erforderlich, um diesen wenig zukunftsweisenden Entwicklungspfad verlassen zu können.
Die in Aussicht gestellten öffentlichen Mittel für den Aus- und Umbau der Infrastruktur eröffnen enorme Chancen – auch für Forschung und Entwicklung und damit für einen solchen Spurwechsel. Allerdings ist klar, dass zusätzliches Geld allein nicht automatisch zu besseren Ergebnissen führt. Ohne eine stimmige Strategie, klare Prioritäten und ausreichend Fachkräfte verpufft der Effekt schnell und führt im schlimmsten Fall zu Inflation und einer gravierenden Belastung zukünftiger Generationen. Was braucht es also, damit der Spurwechsel gelingt?
Strategiebildung und Priorisierung
Im Rahmen einer umfassenden FuE-Strategie müssen relevante Technologien- und Themenfelder identifiziert und priorisiert werden – und zwar möglichst konkret mit definierten Zielen und Meilensteinen. Wichtig ist, dass die am höchsten priorisierten Felder konsequent verfolgt werden, um dort einen möglichst hohen Impact zu erzielen. Welche Bereiche das sind – etwa Künstliche Intelligenz, Energie- und Umwelttechnologien, Quantentechnologie oder Biotechnologie – muss in einem transparenten Prozess definiert werden. Wesentlich ist, dass Deutschland bei den wichtigsten Zukunftstechnoligen seine technologische Souveränität erhält bzw. zurückerlangt. Dazu gehört auch eine Strategie für internationale Kooperationen, die den veränderten Vorzeichen Rechnung trägt.
Wissenschaft und Wirtschaft frühzeitig einbinden
Eine stringente Strategie kann nur gelingen, wenn Akteure aus Politik, Forschung und Industrie im Entwicklungsprozess einbezogen werden – gerne auch im Schulterschluss mit unseren europäischen Partnern. Eine gemeinsam getragene, klare und verlässliche Strategie trägt dazu bei, Vertrauen (wieder) herzustellen und ermutigt Unternehmen und VC-Geber, in zukunftsweisende Aktivitäten zu investieren. Vertrauen ist eine Voraussetzung dafür, dass Verkrustungen aufgebrochen werden können.
Private Investitionen mit öffentlichen hebeln
Öffentliche Fördermittel sollten nicht nur als reine Zuschüsse betrachtet werden. Vielmehr kommt es darauf an, durch kluge Ausgestaltung öffentlicher Förderung Multiplikatoreffekte zu erzeugen und private Investitionen anzustoßen. Hierzu gibt es vielfältige Anknüpfungspunkte, etwa darlehensfinanzierte Förderprogramme mit revolvierenden Fonds oder attraktive Regelungen für die Nutzung von Infrastruktur an Hochschulen durch private Unternehmen, insb. Start-ups. Gemeinsam können Staat, Wissenschaft, Unternehmen und Gesellschaft so ein Innovationsumfeld schaffen, das zu größeren Sprüngen bei der Wettbewerbsfähigkeit führt.
Bürokratieabbau und Digitalisierung
Gerade der Mittelstand muss von aufwendigen Berichtspflichten entlastet werden, um mehr Zeit und Ressourcen für Forschung und Entwicklung zu haben. So sollten Regulierungen bereits im Gesetzgebungsverfahren einem sog. Praxis-Check unterzogen werden, um unverhältnismäßige Belastungen für Unternehmen zu identifizieren. Beschleunigte, digitale Genehmigungsverfahren können Innovationsprozesse und die Beteiligung der Unternehmen deutlich fördern. Auch der Erprobung von innovationsfreundlichen Gesetzesänderungen in rechtlichen Experimentierräumen – sogenannten Reallaboren – kommt in diesem Zusammenhang erhebliche Bedeutung zu.
Fachkräftesicherung
Ohne gut ausgebildete Talente verpuffen selbst Milliardeninvestitionen. Neben einer Stärkung der MINT-Bildung, und zwar von Kindergarten und Grundschule an, gehört auch das duale Ausbildungssystem auf den Prüfstand, um es für ausländische Interessent*innen attraktiver zu machen. Ohne Zuwanderung von Fachkräften wird der notwendige Spurwechsel nicht gelingen. Nur durch ein ganzes Maßnahmenpaket lässt sich langfristig der wachsende Bedarf an qualifiziertem Personal decken.
Start-up-Kultur mit Booster
Start-ups können ein wichtiger Treiber für die Erneuerung des deutschen Wirtschaftsmodells sein. Damit sie diese Rolle ausfüllen können, brauchen sie passende Unterstützung und vor allem mehr Wagniskapital:
Unterstützung über die Frühphase hinaus
Viele Gründungsförderungen enden bereits nach der frühen Seed-Phase. Gerade beim Skalieren von Geschäftsmodellen, dem Eintritt in internationale Märkte oder dem Aufbau einer leistungsfähigen Vertriebsstruktur benötigen junge Unternehmen weiteren Rückhalt.
Verbesserte Rahmenbedingungen für Venture Capital (VC)
Wagniskapital ist entscheidend, um innovative Ideen schnell zu entwickeln, zu vermarkten und zu skalieren. Um attraktiver für internationale Investoren zu werden, braucht es unter anderem vorteilhaftere steuerliche Rahmenbedingungen, geringere bürokratische Hürden und klare gesetzliche Regelungen für VC-Fonds. Ein lebendiges Ökosystem aus Business Angels, institutionellen Investoren und staatlichen Förderinstrumenten kann die private Kapitalbasis zusätzlich stärken.
Risikobereitschaft in der Gesellschaft fördern
Eine lebendige Gründerkultur braucht Menschen, die den Schritt in die Selbstständigkeit wagen und dabei auch mögliche Misserfolge in Kauf nehmen. Dazu gehört, erfolgreichen Unternehmer*innen ihren Erfolg zu gönnen und gescheiterte Versuche als Lernchance zu begreifen.
4. Die Rolle der Institutionen im Innovationsökosystem schärfen
Mit zunehmender Komplexität und Dynamik der Innovationsprozesse wächst auch die Bedeutung von Institutionen, die Impulse setzen, Netzwerke aufbauen und Strategien mitgestalten. Dabei übernimmt jede Einrichtung eine spezifische Funktion.
Projektträger als Innovationsagenturen
Projektträger verstehen sich nicht mehr nur als reine Administratoren öffentlicher Förderprogramme, sondern agieren als Innovationsagenturen. Mit ihren zahlreichen Kontakten in die unterschiedlichen Bereiche von Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft hinein sind sie wichtige Akteure, wenn es darum geht, im Sinne einer übergreifenden Strategiebildung relevante Communities zusammenzubringen, zu unterstützen und in Lösungsfindungsprozesse einzubeziehen. Eine stärkere „Entfesselung“ analog zum Prinzip der Agentur für Sprunginnovationen (SprinD) könnte den Projektträgern mehr Freiheitsgrade geben, um Strategien wirksam voranzutreiben und umzusetzen.
Zusammenspiel mit SprinD
Die SprinD (Agentur für Sprunginnovationen) hat den Auftrag, radikal neue Ideen zu erkennen und zu fördern. Sie ist insofern komplementär zu den Projektträgern zu sehen. Sie screent die Innovationscommunity nach völlig neuen Lösungsansätzen – das, was vielfach als „unternehmerischer Entdeckungsprozess“ bezeichnet wird. Dadurch identifiziert sie visionäre Projekte, die langfristig zu völlig neuen Lösungsansätzen führen können. Damit ergänzen sich Projektträger und SprinD wechselseitig: Während Projektträger einen breiteren strategischen Rahmen organisieren und (bestehende) Communities zu neuen Themen miteinander ins Gespräch bringen, spürt SprinD völlig neue Trends und Technologien auf.
Insgesamt zeigt sich, dass der notwendige Spurwechsel nicht nur eine Frage einzelner Unternehmen oder öffentlicher Fördermittel ist. Vielmehr braucht es ein stimmiges Zusammenspiel verschiedener Akteure und Institutionen – von Projektträgern über spezielle Innovationsagenturen bis hin zu Hochschulen, Forschungseinrichtungen, Unternehmen und insbesondere auch Start-ups. Nur so lassen sich die Herausforderungen einer sich dramatisch verändernden globalen Wirtschaftsordnung und Sicherheitsarchitektur meistern und zugleich gesellschaftlich relevante Lösungen entwickeln.
Dr. Oliver Arentz und Dr. Silke Stahl-Rolf, VDI Technologiezentrum