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Die deutsche Industrie steht mitten in unserer Gesellschaft vor gewaltigen Herausforderungen. Um den Wohlstand in Deutschland im Angesicht von Digitalisierung, Dekarbonisierung, demografischem Wandel und wachsenden geopolitischen Spannungen halten zu können, werden sich viele Bereiche des Lebens stark verändern müssen.

Für die Bewältigung dieser Herausforderungen durch Wirtschaft und Gesellschaft spielt die öffentliche Verwaltung eine entscheidende Rolle. Damit sie dieser Aufgabe gerecht werden kann, wird auch sie um tiefgreifende Reformen nicht umhinkommen. Entscheidend ist, diese Reformen als Chance für eine zukunftsfeste, dauerhaft leistungsfähige und für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter attraktive öffentliche Verwaltung zu verstehen und zu nutzen.

Unabhängig von einzelnen Maßnahmen gilt, dass es hierfür in erster Linie einer klaren politischen Ambition und Zielsetzung bedarf. Die Reform der öffentlichen Verwaltung muss deshalb von der neuen Bundesregierung mit oberster Priorität als Chefsache verstanden und umgesetzt werden.

Deutschland verfügt zwar über eine grundsätzlich leistungsfähige öffentliche Verwaltung, die Rechtsstaatlichkeit, Verlässlichkeit und Sachkompetenz vereint. Damit aber Unternehmen die großen Herausforderungen unserer Zeit erfolgreich bewältigen und zugleich als Chancen nutzen können, muss die öffentliche Verwaltung in Deutschland nutzungsfreundlicher, kollaborativer und agiler werden. Eine solche öffentliche Verwaltung ist für Unternehmen eine unverzichtbare Voraussetzung für internationale Wettbewerbsfähigkeit und damit ein entscheidender Standortfaktor.

Bislang werden Verwaltungsleistungen zu selten aus Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer geplant und viel zu häufig auf Grundlage verwaltungsinterner oder politischer Belange. Davon betroffen sind sowohl Bürgerinnen und Bürger als auch Unternehmen, letztere aber in ganz besonderem Maße. Denn mit über 200 Behördenkontakten pro Jahr sind Unternehmen Poweruser der öffentlichen Verwaltung.

Zudem hat sich die Digitalisierung behördlicher Prozesse nicht annähernd in demselben Tempo entwickelt, mit dem sie in anderen Lebensbereichen bereits Einzug gehalten hat – und im Privaten das Leben der Behördenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter selbstverständlich prägt. Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen sehen sich in Deutschland weiterhin langwierigen, aufwändigen, wenig nutzerzentrierten und aus dem Papierzeitalter stammenden Verfahren gegenüber.

Die bei der Digitalisierung beobachtete Innovations- und Transformationsschwäche der öffentlichen Verwaltung zeigt sich beispielsweise in der unzureichenden Umsetzung der Energiewende, der zögerlichen Bekämpfung der Klimakrise oder der dürftigen Umsetzung von Homeschooling in der Corona-Pandemie.

Damit die öffentliche Verwaltung in Deutschland – in Ballungsgebieten genauso wie in ländlichen Regionen – leistungsfähig bleibt, sind umgehend gewaltige Kraftanstrengungen nötig, die gleichzeitig eine einmalige Chance zur Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen bieten.

Für den Erfolg der Transformation der öffentlichen Verwaltung ist entscheidend, dass die neue Bundesregierung klar Verantwortung übernimmt und mutig die notwendigen Veränderungen angeht.

Strukturen auf Bundesebene koordiniert vernetzen – Die aktuellen Strukturen und Arbeitsweisen der Bundesregierung erschweren die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen. Das betrifft insbesondere die Digitalisierung und Transformation der Verwaltung, deren Planung und Umsetzung bislang noch über mehrere Ressorts verteilt ist. Deshalb müssen verwaltungsinterne Zuständigkeiten, Hierarchien und Entscheidungsstrukturen modernisiert und Projektstrukturen als Standard etabliert werden. Gelingen wird dies nur im Rahmen stärker horizontal ausgerichteter Strukturen, einer zentralen Koordinierungsstelle und einer durchsetzungsstarken Digitalagentur.

Zusammenarbeit der föderalen Ebenen verbessern – Neben der horizontalen Vernetzung auf Bundesebene sollte auch die vertikale Zusammenarbeit der föderalen Ebenen verbessert werden. Um den Föderalismus als robustes Fundament unserer Demokratie zu stärken, müssen die Verantwortlichkeiten und Kompetenzen zwischen Bund, Ländern und Kommunen geschärft und Komplexität reduziert werden. Die Verwaltungsdigitalisierung sollte auf allen Ebenen beschleunigt und basierend auf einheitlichen Standards, Regeln und Schnittstellen gestaltet werden.

Rechtsetzung und Gesetzesvorbereitung modernisieren – Bei der Vorbereitung von Gesetzen sollte deren spätere Umsetzung stärker berücksichtigt und die Wirksamkeit anhand klar definierter Erfolgskriterien überprüfbar gemacht werden. Die Bundesregierung sollte daher ein angepasstes Standardvorgehen für die Vorbereitung ihrer Gesetzentwürfe festlegen, das es ermöglicht, über die Inhalte eines geplanten Gesetzes zu diskutieren, bevor einzelne Paragrafen ausgearbeitet werden. Alle neuen Rechtsvorschriften sollten außerdem von Anfang an auf einen digitalen Vollzug ausgerichtet werden. Der im Koalitionsvertrag vorgesehene Digitalcheck sollte deshalb möglichst schnell umgesetzt werden.

Verfahren und Prozesse serviceorientiert gestalten – Verwaltungsverfahren sind derzeit meist langwierig, umständlich und zu wenig nutzerorientiert. Deshalb braucht die öffentliche Verwaltung ein neues Ambitionsniveau, bei dem Prozesse stets digital, von Ende zu Ende und aus Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer entworfen werden. Die Bundesregierung sollte zunächst digitale Prozesse als Standard definieren und dieses politische Ziel mit einer Frist untermauern, ab der Daten und Nachweise zwischen Bundesministerien und ihren nachgeordneten Behörden ausschließlich digital ausgetauscht werden dürfen. Zudem sollte sie den Aufbau eines nutzerfreundlichen Ökosystems für digitale Identitäten, ein zentrales Nutzerkonto und die Registermodernisierung mit Hochdruck vorantreiben.

Innovations- und Transformationsmanagement zentral verankern – Wandel durch Innovation und Transformation darf nicht als einmaliger, punktuell zu adressierender Anpassungsprozess verstanden werden, sondern muss Teil des Selbstverständnisses einer sich an den aktuellen Anforderungen ausrichtenden Verwaltung sein. Konkret sollte die Bundesregierung den Nationalen Normenkontrollrat, als vom politischen Tagesgeschäft unabhängigen Mahner für eine anhaltende und tiefgreifende Reform der öffentlichen Verwaltung, stärken. Zudem sollten in jedem Ressort Projektteams für Transformations- und Innovationsmanagement eingerichtet werden, die Transformationsprojekte im eigenen Haus definieren und leiten.

Personal gezielt fördern und Fähigkeiten erweitern – Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der öffentlichen Hand sind der entscheidende Faktor, um die Verwaltung so zu transformieren, damit sie Wirtschaft und Gesellschaft bei der Bewältigung der anstehenden Herausforderungen im erforderlichen Maße unterstützen kann. Notwendig ist eine umfassende Modernisierung des Dienst- und Tarifrechts, damit die öffentliche Verwaltung Personal flexibler einsetzen und stärker projektbasiert arbeiten kann. Auch fehlt ein konsequenter Austausch von Personal zwischen öffentlichem und privatem Sektor. Projekte wie Work- und Tech4Germany zeigen, dass erfahrene Fachkräfte aus der Wirtschaft schon bei einem kurzen Einsatz innovative Ideen in die Verwaltung tragen.

Iris Plöger