Die Eurozone und insbesondere Deutschland leiden an akuter Wachstumsschwäche. Ein Grund dafür ist die geringe Dynamik der Exporte. Im Jahr 2023 ist der Weltgüterhandel nach Angaben des CPB in Den Haag preisbereinigt um fast 2% geschrumpft. Die Exporte der Eurozone liegen gerade einmal um 1,2% über dem Niveau des Vorkrisenjahres 2019. Vom globalen Güterhandel geht also schon seit geraumer Zeit kein Wachstumsimpuls mehr aus. Mehr noch, in den letzten beiden Jahren ist der Welthandel deutlich weniger stark gewachsen als die globale Industrieproduktion: die Staaten orientieren sich nach Innen und setzen höhere Anteile der Produktion im Inland ab.

Die Daten zeigen also erstmals Deglobalisierungstendenzen auf, nachdem von 2007 bis 2021 im Durchschnitt der Weltgüterhandel mit derselben Rate gewachsen war, wie die globale Industrieproduktion – ein Phänomen, das das britische Magazin The Economist als „Slowbalisation“ bezeichnet hat.[1] Vor 2007 konnte noch von „Hyperglobalisierung“ die Rede sein,[2] weil der Handel seit Mitte der 1980er Jahre deutlich schneller als die Industrieproduktion wuchs.

Die Slowbalisation kann als Prozess der Normalisierung nach der stürmischen Öffnung großer Volkswirtschaften wie jene Chinas oder Osteuropas für die Weltwirtschaft, einem Boom von Freihandelsabkommen auf multilateraler und bilateraler Ebene und einer außergewöhnlichen Kooperationsbereitschaft. Die gebräuchlichen Theorien der Außenhandelslehre sagen voraus, dass der Handel in Normalzeiten ungefähr mit der Wachstumsrate der Produktion wachsen sollte, woraus aber keine zusätzlichen Wohlstandsgewinne resultieren.

Nun aber scheint der Grad der internationalen wirtschaftlichen Integration zurückzugehen, was eine Folge steigender Handelskosten sein dürfte. Die Standardtheorien des internationalen Handels erwarten bei zurückgehender internationaler Arbeitsteilung negative Effekte auf die realen Prokopfeinkommen. Der aktuelle World Trade Report der Welthandelsorganisation zeichnet in der Tat ein Bild langsam aber stetig zunehmender Handelsbarrieren. Auch die Unsicherheit über die Höhe der Handelskosten kann als Hemmnis verstanden und als solches quantifiziert werden. Ob sich die Deglobalisierung der letzten Jahre fortsetzt, ist unklar, aber die Zeichen sprechen nicht für eine rasche Trendumkehr: der Präsidentschaftskandidat Donald Trump kündigt im Fall seiner Wiederwahl neue und noch höhere Schutzzölle für die US-Wirtschaft an und will die wirtschaftliche und vor allem technologische Entkoppelung mit China weiter vorantreiben („Decoupling“). Europa und seine asiatischen Partner sind eher an einer Politik der Diversifizierung („Derisking“) interessiert. Einseitige, bilaterale Abhängigkeiten von Handelspartnern, vor allem von China, sollen abgebaut werden. Das Ziel ist die Steigerung der Widerstandsfähigkeit der heimischen Wirtschaft – ihrer Resilienz – angesichts von Schocks aus dem Ausland, die Hoffnung, dass dies ohne hohe Wohlstandsverluste gelingen kann.

Wenn man den Handelspartnern nicht immer vertrauen kann, dass sie einseitige bilaterale Abhängigkeiten nicht zu ihren Gunsten ausnutzen, dann existiert in der Tat politischer Handlungsbedarf. Ob die Gefahr darin besteht, dass ausländische Mächte durch die Ausnutzung von Monopolstellungen wirtschaftliche Vorteile zu erreichen trachten oder politische Zugeständnisse erzwingen wollen, immer handelt es sich dabei bestenfalls um Nullgewinnphänomene, bei denen das Inland zu verlieren droht, was das Ausland gewinnt. Privatwirtschaftliche Anreize reichen in der Regel nicht aus, hinreichende Diversifizierungsgrade zu erzeugen, weil Unternehmen die Auswirkungen ihres wirtschaftlichen Handelns auf die Außen- und Sicherheitspolitik nicht internalisieren.[3] Die Frage ist, mit welchen Instrumenten der Staat das Derisking betreiben kann und soll.

Zunächst ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Gefahr einer opportunistischen Ausnutzung einseitiger Abhängigkeiten schon Adam Smith vor beinahe 250 Jahren dazu veranlasst hat, englische Handelsbarrieren gegenüber Holland zu rechtfertigen. Auch das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) kennt in Artikel XXI eine sicherheitspolitische Ausnahme. Das Welthandelsrecht erlaubt außerdem einem Land, unter der Einhaltung bestimmter Regeln auf unkooperative Maßnahmen seiner Handelspartner selbst mit restriktiven Politiken zu reagieren. Im Idealfall reicht die Drohung solcher Gegenmaßnahmen aus, um opportunistisches Verhalten einzudämmen und beiderseitig von bilateralem Handel zu profitieren. Damit ein solches „Gleichgewicht des Schreckens“ stabil ist, braucht es gegenseitige Abhängigkeiten, die beiden Handelspartnern Drohpotenzial in die Hand geben.

Eine erste Ableitung aus diesen Überlegungen ist, dass sich Europa und Deutschland genau so viel Gedanken über die eigenen Abhängigkeiten von Zulieferungen aus dem Ausland wie über Abhängigkeiten ausländischer Unternehmen von eigenen Zulieferungen machen sollten. Je weniger ausgeglichen die Abhängigkeiten sind und je weniger kooperationsbereit das Ausland erscheint, umso dringender sind Gegenmaßnahmen.

Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei fundamentale Strategien unterscheiden. Die erste Strategie zielt auf Subventionen für den Aufbau von Kapazitäten in jenen Bereichen, in denen bisher keine Produktion stattfindet. Damit werden Importe direkt reduziert, aber die Vorteile internationalen Handels aufgegeben. Die zweite versucht, existierende Stärken weiter auszubauen. Damit bleibt die Importabhängigkeit des Inlands bestehen, aber die eigenen Exporte in das Ausland werden unersetzlich, was in Konfliktfällen die Verhandlungsmacht stärkt. Beide Strategien werden zum Einsatz kommen, aber die zweite ist der erste wirtschaftlich insofern überlegen, weil sie nicht gegen die existierende Struktur komparativer Vorteile vorgeht sondern diese ausnutzt. Sie ist aus zwei Gründen ressourcensparend: einerseits, weil Spezialisierungsvorteile erhalten bleiben, und, zweitens, weil die erforderlichen Subventionen kleiner wären. Sie erfordert aber eine gewisse Risikobereitschaft, denn der Aufbau von Drohpotenzialen generiert zwar Anreize, Abhängigkeiten nicht als Waffe einzusetzen, kann das Ausland im Ernstfall aber nicht abhalten, dies zu tun.

Die zweite Strategie hat auch dynamische Vorteile. Wenn die geostrategischen Rivalen versuchen, ihre komparativen Vorteile etwa mit Hilfe von verstärkter Forschungsförderung weiter auszubauen, dann treiben sie die technologische Möglichkeitsgrenze weiter nach Außen. Wenn sie hingegen Lücken in der eigenen Produktionsstatistik füllen, dann erfolgt dies durch Allokation von Kapital und Arbeit in Sektoren mit komparativen Nachteilen bei gegebener Technologie. Ein Rennen um den Technologiefortschritt hat den Vorteil, dass die Welt insgesamt produktiver und innovativer wird. Gute Voraussetzungen für den hoffentlich realistischen Fall, dass das Vertrauen einmal wieder steigt und geopolitische Spannungen kleiner werden.

In der Zwischenzeit aber ist es wahrscheinlich, dass viele Länder auf die erste Strategie setzen, was im besten Fall die Struktur komparativer Vorteile einebnet, Spezialisierungsvorteile zerstört, aber die Sicherheit erhöht. Im schlechtesten Fall gelingt es nicht, langfristig Technologiegleichstand herzustellen. Dann stehen hohe Kosten einem möglicherweise nicht existenten Sicherheitsgewinn gegenüber. Deutschland und Europa sollten den notwendigen Mut aufbringen, das Derisking mit der zweiten Strategie voranzutreiben.

 

Prof. Dr. Gabriel Felbermayr

[1] https://www.economist.com/weeklyedition/2019-01-26.

[2] Dani Rodrik (2020), Das Globalisierungsparadox, C.H. Beck.

[3] Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2023), Leitplanken zur Stärkung der Versorgungssicherheit, Berlin.

 

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch »Geoeconomics – Ökonomie und Politik in der Zeitenwende“, unser vierter Sammelband, erschienen im Mai 2024 im Dietz-Verlag. 

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