Wirtschaftswachstum als Schlüssel zur Zukunft Deutschlands und Europas

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Deutschland steht im Jahr 2025 nach zwei Jahren der Rezession vor einer entscheidenden Weichenstellung. Sollte die Wirtschaft auch in diesem Jahr schrumpfen, wäre dies das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass die Wirtschaft drei Jahre in Folge rückläufig wäre. Aber auch wenn eine erneute Rezession abgewendet werden kann, bleiben die Wachstumsprognosen düster. Der Abstand zur Wachstumslokomotive USA wird immer größer.

Dabei stellt sich eine zentrale Frage: Ist Wirtschaftswachstum in Deutschland gewollt? Konzepte wie »Degrowth« oder »Postwachstum« erfreuen sich wachsender Beliebtheit, auch in politischen Kreisen. Doch so berechtigt und wichtig das Ziel einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise ist, ein pauschaler Wachstumsverzicht wäre fatal. Wirtschaftswachstum bedeutet nicht nur Wohlstandssteigerung, sondern ist essenziell für soziale Stabilität, Klimaschutz und geopolitische Sicherheit.

Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen, mit denen Deutschland konfrontiert ist, sind komplex und vielschichtig. Sie lassen sich nicht allein durch Umverteilung oder Sparmaßnahmen bewältigen, sondern erfordern eine zukunftsgerichtete Wirtschaftspolitik, die auf nachhaltiges Wachstum setzt. Wirtschaftswachstum ist kein Selbstzweck, sondern die zentrale Voraussetzung für sozialen Zusammenhalt, den erfolgreichen ökologischen Wandel und geopolitische Handlungsfähigkeit. Ohne eine dynamische Wirtschaft drohen steigende soziale Unsicherheit, eine nachlassende Innovationskraft und ein Verlust an internationaler Standortattraktivität.

Es gibt fünf Hauptgründe, warum Wachstum unverzichtbar ist:

1. Soziale Sicherheit und Wohlstandssicherung

Der demografische Wandel stellt Deutschland vor enorme Herausforderungen. Während die Zahl der Rentnerinnen und Rentner steigt, schrumpft die erwerbstätige Bevölkerung. Schon jetzt steigen die jährlichen Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt an die Rentenversicherung massiv an und liegen bei deutlich mehr als 100 Milliarden Euro pro Jahr. Auch die Kranken- und Pflegeversicherung geraten unter Druck. Ohne nachhaltiges Wirtschaftswachstum geraten die sozialen Sicherungssysteme an ihre Grenzen – mit der Folge steigender Steuer- und Abgabenlasten, die wiederum Investitionen und Konsum bremsen würden.

2. Nachhaltige Transformation und technologische Innovationskraft

Klimaschutz ist eine globale Herausforderung – und eine riesige wirtschaftliche Chance. Deutschland kann sich nur dann als weltweit führender Standort für grüne Technologien etablieren, wenn es Innovation mit wirtschaftlichem Erfolg verbindet. Ein schwaches Wachstum hingegen führt dazu, dass Unternehmen zögern, in neue, nachhaltige Technologien zu investieren. Ohne wirtschaftliche Dynamik droht Deutschland seine führende Rolle in der Umwelt- und Energietechnik an Länder wie die USA oder China zu verlieren.

Gleichzeitig reicht es nicht aus, wenn Deutschland seine Emissionen reduziert, während sie weltweit steigen. Entscheidend ist, dass andere Länder Deutschland als Vorbild und nicht lediglich als Vorreiter sehen. Nur wenn die nachhaltige Transformation wirtschaftlich erfolgreich ist, werden andere Länder folgen. Wirtschaftswachstum ist kein Gegensatz zu Klimaschutz, sondern eine Voraussetzung dafür.

3. Geopolitische Stabilität und strategische Handlungsfähigkeit

Die sicherheitspolitische Lage hat sich seit dem 24. Februar 2022 drastisch verändert. Deutschland kann sich nicht mehr auf die sogenannte Friedensdividende verlassen, die es Jahrzehnte lang ermöglichte, wenig in Verteidigung und strategische Unabhängigkeit zu investieren. In einer Welt wachsender geopolitischer Spannungen braucht Deutschland eine starke Wirtschaft, um seine sicherheitspolitischen Interessen zu wahren.

Eine leistungsfähige Wirtschaft bedeutet, dass Deutschland seine Verteidigungsausgaben finanzieren kann, ohne andere gesellschaftliche Bereiche zu vernachlässigen. Ebenso ermöglicht wirtschaftliche Stärke, in Schlüsseltechnologien wie Cybersicherheit und Künstliche Intelligenz zu investieren – essenzielle Faktoren für eine souveräne europäische Sicherheitsarchitektur.

4. Standortattraktivität und internationale Handlungsfähigkeit

Deutschland befindet sich in einem intensiven Wettbewerb mit anderen Wirtschaftsnationen. Während die USA und China massiv investieren, verliert Deutschland an Standortattraktivität. Höhere Energiekosten, Bürokratie und Fachkräftemangel bremsen das Wachstum und führen dazu, dass Unternehmen zunehmend ins Ausland abwandern.

Ohne eine wachstumsfreundliche Wirtschaftspolitik droht Deutschland in eine Abwärtsspirale aus sinkenden Investitionen, schwacher Produktivitätsentwicklung und nachlassender Innovationskraft zu geraten. Ein starkes Wachstum hingegen sichert die wirtschaftliche Souveränität.

5. Gesellschaftlicher Zusammenhalt und soziale Teilhabe

Wirtschaftswachstum schafft nicht nur materielle Werte, sondern auch soziale Stabilität. In stagnierenden oder schrumpfenden Volkswirtschaften nehmen Spannungen und gesellschaftliche Polarisierung zu, weil Verteilungskämpfe zunehmen. Fehlt wirtschaftliches Wachstum, bleibt weniger Spielraum für Investitionen in Bildung, Infrastruktur und soziale Projekte. Dies verstärkt soziale Ungleichheiten und schürt gesellschaftliche Unzufriedenheit.

Eine wachsende Wirtschaft bietet Chancen für alle. Sie ermöglicht sozialen Aufstieg, kulturellen Fortschritt und eine Gesellschaft, die sich nicht nur mit der Bewältigung von Krisen beschäftigt, sondern aktiv eine bessere Zukunft gestaltet. Sinnstiftende Arbeit, Innovationen und Fortschritt entstehen nicht durch Verzicht, sondern durch kluge Investitionen in Menschen und Technologien.

Diese fünf Säulen – soziale Sicherheit, ökologische Nachhaltigkeit, geopolitische Stabilität, Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftlicher Zusammenhalt – sind eng miteinander verbunden. Wirtschaftswachstum bildet die Grundlage für eine widerstandsfähige, innovative und zukunftsfähige Gesellschaft. Es erfordert eine mutige, strategische und investitionsfreudige Politik, die auf Talente, Kapital und technologische Innovation setzt.

1. Talente: Ein Magnet für die klügsten Köpfe der Welt

Deutschland kann durch politische Stabilität, eine hohe Lebensqualität und eine starke Bildungslandschaft ein Magnet für internationale Talente sein. Doch es bedarf gezielter Anreize: unkomplizierte Visa-Verfahren, eine echte Willkommenskultur und gezielte Forschungsförderung. Wissenschaftler, Entwickler und Unternehmer müssen aktiv angeworben werden.

2. Kapital: Effiziente Nutzung vorhandener Ressourcen

Deutsche Privathaushalte gehören mit ihrer Sparquote zur europäischen Spitze, doch große Teile dieses Kapitals liegen brach oder werden in risikoarme Anlageformen investiert. Durch bessere Rahmenbedingungen für Venture Capital kann mehr Kapital in innovative Unternehmen gelenkt werden. Programme wie die WIN-Initiative der Bundesregierung sind ein erster Schritt, doch Deutschland braucht eine entschlossenere Wachstumsstrategie.

3. Innovation: Deutschland als Deep-Tech-Standort stärken

Deutschland ist nach wie vor ein Land der Erfinder. Doch während die USA und China ihre Investitionen in Zukunftstechnologien massiv ausbauen, droht Deutschland den Anschluss zu verlieren. Besonders im Bereich Deep Tech – also bahnbrechender, wissenschaftlich fundierter Technologien mit langfristiger Wirkung – muss Deutschland seine Anstrengungen verstärken. Dazu gehören Quantencomputing, Robotik, Künstliche Intelligenz (KI), Cybersicherheit und Clean Tech.

Deep Tech unterscheidet sich von klassischen Innovationen dadurch, dass es sich nicht nur um inkrementelle Verbesserungen bestehender Technologien handelt, sondern um revolutionäre Durchbrüche mit weitreichenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen: Quantencomputer könnten die Rechenleistung ganzer Industrien verändern, KI wird zum zentralen Treiber der Automatisierung, und neue Materialtechnologien haben das Potenzial, ganze Produktionsprozesse zu revolutionieren. Besonders im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) läuft Deutschland Gefahr, entscheidende Entwicklungen zu verpassen. Während die USA 2023 über 54,8 Milliarden Dollar in KI-Start-ups investierten, waren es in Deutschland lediglich 2,2 Milliarden Dollar – ein alarmierendes Missverhältnis.

Deutschland muss daher stärker in Deep Tech investieren, universitäre Spitzenforschung mit unternehmerischer Dynamik verbinden und ein innovationsfreundliches Ökosystem schaffen. Die Zukunftsfähigkeit des Standorts hängt davon ab, ob es gelingt, disruptive Technologien nicht nur zu entwickeln, sondern auch in marktfähige Anwendungen zu überführen. Nur so kann Deutschland sich als führender Deep-Tech-Standort in Europa behaupten.

Die Politik muss den Rahmen für eine innovationsgetriebene Wirtschaft setzen. Dazu gehört:

1. Forschung und Entwicklung fördern

Bürokratische Hürden abbauen und exzellente Forschung gezielt unterstützen. Ein Vorschlag ist die Einrichtung eines Risikofonds für disruptive Start-ups, der ähnlich wie der European Research Council arbeitet – mit mindestens 20 Millionen Euro pro Projekt.

2. Leuchtturmprojekte initiieren

Spitzenforschung und Unternehmertum müssen enger verknüpft werden. Hier setzen Initiativen wie die Kooperation zwischen CISPA und ESMT Berlin an. Ziel ist es, ein europäisches Innovationszentrum aufzubauen, das wissenschaftliche Durchbrüche effizient in wirtschaftliche Wertschöpfung überführt.

Deutschland und Europa stehen vor einer entscheidenden Phase. Die Herausforderungen sind groß, aber die Chancen ebenso. Wirtschaftswachstum ist nicht nur möglich, sondern notwendig, um den Sozialstaat zu sichern, die Klimawende erfolgreich zu gestalten und geopolitische Stabilität zu gewährleisten. Deutschland hat die Talente, das Kapital und das Know-how, um eine neue Ära des Wachstums einzuleiten. Jetzt gilt es, die richtigen Weichen zu stellen – mit einer klugen und innovationsgetriebenen Wirtschaftspolitik.

Dafür brauchen wir nur eins: Mut!

 

Prof. Jörg Rocholl, PhD

Präsident und Deutsche Bank Professor in Sustainable Finance

ESMT Berlin

 

Jörg Rocholl ist Präsident der ESMT Berlin und Deutsche Bank Professor in Sustainable Finance. Er ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen und Vorsitzender des Steering Committee des Global Network for Advanced Management (GNAM). Darüber hinaus ist er Mitglied im Aufsichtsrat der RWE AG, Mitglied des Gesamtvorstands der Schmalenbach-Gesellschaft sowie Mitglied bei acatech (Deutsche Akademie der Technikwissenschaften), Research Fellow am Centre for Economic Policy Research (CEPR) und Research Member des European Corporate Governance Institute (ECGI).

 

Der Text ist ein Auszug aus dem neuen Band des Wirtschaftsforums der SPD „Visionomics – Fünf Säulen für Wohlstand in einer unsicheren Welt“.

In dem Buch wird mit dem „Magischen Fünfeck“ ein Kompass für nachhaltigen Wohlstand präsentiert, der wirtschaftliche Entwicklung, soziale Teilhabe, ökologische Verantwortung, globale Sicherheit und Stabilität und demokratische Qualität verbindet. Renommierte Autor:innen gehen der Frage nach, wie wir unseren Wohlstand in Zeiten multipler Krisen sichern können und liefern praxisnahe Ansätze, um Prioritäten zu setzen und Zielkonflikte zu meistern.

Das Buch erscheint Anfang April im Dietz-Verlag.