1. Wir waren selten so gefordert wie heute
Wir leben in Zeiten, in denen wir uns bewähren müssen. Die geopolitische und geoökonomische Konkurrenz hat sich verschärft. Die internationale Ordnung ist unter Druck. Ihre Regeln werden von immer weniger Ländern befolgt. Wie eine zukünftige Ordnung aussehen wird, ist offen. Der einstmals weit verbreitete Fortschrittskonsens aus freiem Handel, offenen Märkten und mobilem Kapital wird in vielen Hauptstädten und Bevölkerungen so nicht mehr geteilt. Die Phase von Aufschwung und Stabilität, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in der Welt dominierte, ist Vergangenheit.
Unser Land profitierte als global vernetzte und technologisch führende Volkswirtschaft explizit vom status quo ante und ist daher jetzt besonders gefordert. Autoritäre Kräfte versuchen, den Liberalen Demokratien das Wasser abzugraben und den sozialen Zusammenhalt in den Gesellschaften zu unterminieren. Spätestens der russische Überfall auf die Ukraine hat den Nachholbedarf bei unserer Verteidigungsfähigkeit offengelegt. Wir haben massiv an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Unser Land hat mittlerweile eine strukturelle Wachstumsschwäche. Die Alterung der Gesellschaft gleichen wir noch nicht durch ein angemessenes Produktivitätswachstum aus. In den vergangenen zehn Jahren ist unser Potenzialwachstum von 1,5 Prozent auf nur noch rund 0,5 Prozent gesunken. Unsere wirtschaftliche Schwäche ist daher nicht zyklischer, sondern struktureller Natur.
Dennoch gab es wirtschaftspolitisch in den vergangenen Jahren durchaus Erfolge. Die wirtschaftlichen Konsequenzen der Corona-Pandemie und des russischen Angriffskrieges konnten wir begrenzen. Bei der ökologischen und digitalen Transformation unseres Landes sind wir vorangekommen. Noch niemals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland waren so viele Menschen in Arbeit wie in den vergangenen Jahren. Wir haben Fortschritte gemacht, jetzt sind jedoch Sprünge nach vorne notwendig.
2. Wirtschaftspolitik in unsicheren Zeiten
Wir sind gefordert uns zu bewähren, insbesondere wirtschaftlich. Deutschland ist grundsätzlich attraktiv, wir verfügen über einen starken Mittelstand und viele innovative, zukunftsorientierte Unternehmen. Die Chancen sind gut, wieder auf den Wachstumspfad zurück zu kommen. Es ist die Zeit für eine Wirtschaftspolitik, die uns wettbewerbsfähiger macht und gleichzeitig unserer Sicherheit und dem Klimaschutz dient sowie die demokratischen und gesellschaftlichen Grundlagen unseres Wohlstands stärkt. Aus meiner Sicht braucht es diese Initiativen:
Höhere Arbeitsanreize und mehr Fachkräfte:
Die geburtenstarken Jahrgänge der Baby-Boomer gehen in Rente und stehen dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. Um dem Mangel gegenzusteuern, hat die Bundesregierung unter Bundeskanzler Scholz wichtige Schritte unternommen, die den Arbeitsmarkt mobilisieren. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und die Fachkräftestrategie sind umgesetzt. Mit der Wachstumsinitiative liegen zahlreiche Maßnahmen vor, an die die nächste Bundesregierung anknüpfen und damit Anreize stärken kann, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder eine bestehende auszuweiten.
Menschen, die über die Regelaltersgrenze hinaus beruflich aktiv sind, stützen unseren Wohlstand. Für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer soll es daher leichter und finanziell attraktiver werden, länger erwerbstätig zu sein. Auch Überstunden sollen sich lohnen. Das Kabinett Scholz hat deshalb im Rahmen der Wachstumsinitiative beschlossen, Zuschläge für Mehrarbeit, die über die tariflich vereinbarte Vollzeitarbeit hinausgehen, steuer- und beitragsfrei zu stellen. Wenn Arbeitgeber außerdem eine Prämie für die Ausweitung der Arbeitszeit zahlen, soll diese Prämie steuerlich begünstigt werden.
Wir können uns in der politischen Diskussion in unserem Land nicht über unzureichende Anreize zur Arbeitsaufnahme und über hohe Teilzeitquoten insbesondere bei Frauen beklagen und gleichzeitig wesentliche steuer- und abgabenrechtliche Regelungen unberücksichtigt lassen. Die Übergänge in qualifizierte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sollten sowohl bei der Ehegattenbesteuerung als auch im Sozialrecht erleichtert werden. Insbesondere im unteren Einkommensbereich kann das Zusammenspiel verschiedener staatlicher Transferzahlungen dazu führen, dass sich Mehrarbeit nicht immer lohnt, da die Transferentzugsraten zu hoch sind. Ein steigendes Einkommen wird dann größtenteils durch geringere Transferleistungen absorbiert. Die Wachstumsinitiative legt daher fest, dass „ein wesentlicher Anteil jedes zusätzlich verdienten Euros“ bei den Erwerbstätigen verbleiben soll. Eine Prämie für die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit soll darüber hinaus auf Bürgergeldempfänger motivierend wirken, den Lebensunterhalt wieder selbständig verdienen zu können. Auch arbeitsvertragliche Regelungen wie das Vorbeschäftigungsverbot sollten an die Realitäten angepasst werden.
Für Bürgergeldbezieher hat die Wachstumsinitiative vorgeschlagen, die Mitwirkungspflichten und Zumutbarkeiten zu verschärfen. Zudem gilt es weiterhin, internationale Arbeitskräfte für den deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen und die Integration sich bereits in Deutschland befindlicher ausländischer Fachkräfte zu beschleunigen. Es gibt Potenzial, die Förderung von Weiterbildung einfacher und somit effektiver zu gestalten und so das Qualifikationsniveau der Beschäftigten anzuheben.
Damit sich Arbeit mehr lohnt, müssen wir auch die Steuer- und Abgabenbelastung generell im Blick behalten. Wenn wir uns Spielräume für Entlastungen erarbeitet haben, dann sollten davon insbesondere untere und mittlere Einkommen profitieren. So kann der Arbeitsmarkt zu einem Wachstumsmotor für die gesamte Gesellschaft werden.
Den Staat vereinfachen
Der Bund hat beim Bürokratieabbau zuletzt Fortschritte gemacht. So haben wir Planungszeiten verkürzt und genehmigen heute Schlüsselinfrastrukturen im überragenden öffentlichen Interesse in Rekordgeschwindigkeit. Das ist insbesondere beim Ausbau der Erneuerbaren Energien spürbar. Die Bundesregierung unter Olaf Scholz hat vereinbart, künftig jährliche Bürokratieentlastungsgesetze vorzulegen, um sicherzustellen, dass die Belastung aus Bundesgesetzen von Jahr zu Jahr abnimmt. Dieser Kurs sollte beibehalten werden. Aber auch die Bundesländer und Europa sind bei dem Thema in der Pflicht. Der Erfüllungsaufwand auf europäischer Ebene ist hoch. Ich habe mich daher intensiv dafür eingesetzt, dass die Europäische Kommission den Bürokratieabbau zu einem ihrer Schwerpunkte macht. Insbesondere halte ich es für wichtig, dass wir zu einem verschlankten, effektiven und effizienten System der Nachhaltigkeitsberichterstattung kommen. Soziale und Umweltstandards möglichst bürokratiearm umzusetzen, ist für die Erreichung dieser Ziele eher zu- als abträglich.
Zielgerichtete Impulse für private Investitionen setzen
Deutschland ist ein attraktiver Wirtschaftsstandort. Nationale und internationale Beispiele bestätigen das. So baut Eli Lilly für 2,3 Milliarden Euro sein erstes Werk in Deutschland – eine der größten Investitionen des Unternehmens weltweit. Rheinmetall errichtet im niedersächsischen Unterlüß ein neues Munitionswerk, um die Versorgung der Bundeswehr sicherzustellen. Amazon und Microsoft haben Investitionen in Höhe von mehreren Milliarden Euro in KI-Rechenzentren und Cloud-Infrastruktur in Deutschland angekündigt. Carrier und Viessmann schließen sich zusammen, um einer der weltweit führenden Anbieter von Klimalösungen zu werden. Und beim Bau der LNG-Terminals hat Deutschland bewiesen, dass es auch unkompliziertes Tempo kann.
Damit Deutschland bei Sicherheit, Digitalisierung, Zukunftstechnologien und dem Übergang zur Klimaneutralität mithalten kann, braucht es aber mehr. Wir brauchen weitere Investitionsanreize und Anreize für Forschung und Entwicklung. Mit dem Wachstumschancengesetz und dem Zukunftsfinanzierungsgesetz wurden in der 20. Legislaturperiode erste Impulse gesetzt. Der Entwurf der Bundesregierung für das Steuerfortentwicklungsgesetz hatte neben den Entlastungen für Familien und dem Ausgleich der Kalten Progression auch gezielte steuerliche Anreize und beschleunigte Abschreibungsregelungen vorgesehen. Auch die Forschungszulage sollte ausgeweitet werden, um unsere Innovationskraft zu stärken. Darauf sollte eine neue Bundesregierung aufbauen.
Einen leistungsfähigen Energiemarkt für die Wirtschaft von morgen schaffen
Bezahlbare, sichere und umweltverträgliche Energie ist wichtig für die Wirtschaft und für die gesellschaftliche Stabilität. Die Bundesregierung hat die Grundlagen für eine deutlich stärkere Dynamik beim Ausbau von Erneuerbaren Energien gelegt, um die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern nachhaltig zu verringern. Wind- und Solarenergie nehmen einen immer größeren Stellenwert ein. Wir beschleunigen außerdem den Markthochlauf von Wasserstofftechnologien und den Aufbau eines Wasserstoffnetzes. Um unsere Gasversorgung auch aufgrund sicherheitspolitischer Erwägungen resilienter zu machen, treiben wir die Diversifikation von Gaslieferquellen konsequent voran.
Der schnellere Ausbau des erneuerbaren Energieangebots trägt zu sinkenden Strompreisen an den Kurzfristmärkten bei. Nun gilt es, die Systemkosten zu reduzieren. Der sichere Systembetrieb bei großen Mengen volatiler Erzeugung, der Ausbau der Netzinfrastruktur sowie das Engpassmanagement verursachen derzeit hohe Kosten, die perspektivisch weiter ansteigen dürften. Daher ist es wichtig, dass die von der Bundesregierung beschlossenen Anreize zu Investitionen in Speichertechnologien ebenso umgesetzt werden, wie ein wettbewerblicher und technologieneutraler Kapazitätsmarkt. An die in dieser Legislaturperiode nicht mehr verabschiedeten Vorhaben Kraftwerksstrategie und Kohlendioxid-Speichergesetz (KSpG) sollte eine künftige Regierung anknüpfen. Die Strategie ist wichtig, um den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft voranzutreiben und die Stromproduktion zuverlässiger zu machen. In Verbindung mit dem KSpG und der damit einhergehenden Möglichkeit zur CO2-Abscheidung und -Nutzung/Speicherung (CCU/S) öffnet sie den Weg für eine kostengünstige Dekarbonisierung der Wirtschaft überall dort, wo eine direkte Elektrifizierung nicht möglich ist. Perspektivisch sollten die Übertragungsnetzentgelte für die Unternehmen gedeckelt werden, um der Wirtschaft in der Energiewende mehr Planungssicherheit zu geben.
Wo es auf Größe ankommt, ist Europa unser Trumpf
Wo es auf die Größe von Märkten ankommt, ist eine europäische Lösung naheliegend, denn die Europäische Union ist der größte Binnenmarkt der Welt. Wir müssen mehr Kapital mobilisieren – auch durch eine Stärkung der privaten und betrieblichen Altersvorsorge. Unsere Wachstumsperspektiven sind immer noch ungünstiger als beispielsweise in den USA. Es mangelt unseren Unternehmen an Eigenkapitalfinanzierungen. Dies liegt auch am fragmentierten EU-Kapitalmarkt. Nach Fortschritten in der vergangenen Legislaturperiode habe ich daher die neue Kommissarin für Finanzmärkte mit einem Konzept zur Vertiefung der Kapitalmarktunion begrüßt. Ziel ist es unter anderem, die Verbriefungsmärkte dynamischer und die Sparprodukte in Europa mit Hilfe des Kapitalmarkts attraktiver zu gestalten.
Wir müssen uns darauf einstellen, dass es in Zukunft weniger „regelgebundenes“ Verhalten von Staaten und mehr „machtbasierte“ Verhandlungen geben wird, und bilaterale Wirtschaftsbeziehungen pluri- und multilateralen Abkommen vorgezogen werden. Um dem entgegenzuwirken, müssen wir uns um Einigkeit innerhalb der EU und um eine starke Zusammenarbeit mit solchen Partnern bemühen, die unsere Interessen teilen. Jüngste Äußerungen der neuen US-Administration sollten uns in diesem Ziel bestärken. Gute transatlantische Beziehungen bleiben für uns von grundlegender Bedeutung, und ich bin der festen Überzeugung, dass sowohl die USA als auch Europa davon profitieren. Naiv sollten wir jedoch nicht sein. EinHandelskonflikt kann in niemandes Interesse liegen, weil Zölle inflationstreibend wirken und die importierenden Unternehmen auch nicht wettbewerbsfähiger machen. Für diese Perspektive müssen wir werben.
Wir sind gut beraten, kritische Abhängigkeiten weiter zu reduzieren und unsere Lieferbeziehungen zu diversifizieren, um unsere wirtschaftliche Sicherheit und Widerstandsfähigkeit zu erhöhen. Neue Handelsabkommen und gezielte Kooperationen sind dabei der bessere Weg, um so viel wirtschaftliche Offenheit wie möglich zu bewahren und uns gleichzeitig vor Risiken zu schützen. Daher ist es entscheidend, dass das Mercosur-Abkommen mit Lateinamerika zügig umgesetzt wird. Darüber hinaus ist ein baldiger Abschluss von Freihandelsabkommen der EU mit Indien, Indonesien, Malaysia und dem Golfkooperationsrat, also mit Bahrain, Katar, Kuwait, dem Oman, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, geboten.
3. Öffentliche Investitionen in Infrastruktur und Sicherheit
Die Bundesregierung Scholz hat die investiven Ausgaben aus dem Bundeshaushalt stark erhöht und so den Rückstand bei staatlichen Investitionen in die öffentliche Infrastruktur abgebaut. Jedoch haben Schienen, Straßen, Brücken, die Schulen und Hochschulen jahrzehntelang unter zu geringen Investitionen gelitten. Der Nachholbedarf ist also weiterhin erheblich. Gleichzeitig werden wir in unsere Sicherheit investieren müssen. Wir sollten daher die Staatsausgaben konsequent priorisieren und weniger drängende Aufgaben zurückstellen. Ebenso sollte der Staat effizienter werden. Wir brauchen strukturelle Reformen auf nationaler und auf EU-Ebene, um das Wachstum zu erhöhen und so die wirtschaftliche Grundlage der Staatsfinanzen zu verbreitern. Aber bei den mit unseren Aufgaben verbundenen finanziellen Größenordnungen wäre es illusorisch zu denken, man finanziere diese alleine durch Einsparungen und Effizienzgewinne.
Neue Sondervermögen sind eine Option. Ich bin überzeugt, dass wir auch den finanzpolitischen Rahmen an die aktuelle Lage anpassen sollten. Die Schuldenbremse wurde 2009 in einer anderen Zeit beschlossen. Heute ist unsere Schuldenstandsquote vergleichsweise niedrig, das Kreditrating hoch. Wenn wir Generationengerechtigkeit umfassend verstehen, dann sollten wir unseren Nachkommen ein Leben in Wohlstand und Sicherheit mit einer intakten Umwelt, soliden Finanzen und gerechter Teilhabe ermöglichen. Eine zielgerichtete Reform der Schuldenbremse könnte hierzu einen Beitrag leisten. Das strukturell schwache Potenzialwachstum ist das Kernproblem unserer Volkswirtschaft. Daher muss eine Reform auf Maßnahmen fokussiert sein, die unser Wachstumspotenzial nachhaltig und dauerhaft steigern und die bestehenden Möglichkeiten innerhalb der Schuldenbremse besser nutzbar machen.
Schluss
Wollen wir uns bewähren und unsere Art zu leben behaupten, so brauchen wir wieder mehr wirtschaftlichen Erfolg, denn Wohlstand und Demokratie bedingen einander. Die Deutschen haben in den vergangenen Jahrzehnten mit Liberaler Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft breite Teilhabe an wachsendem Wohlstand bei demokratischer Mitbestimmung und Frieden in Sicherheit erreicht. Wenn wir jetzt dieses Wachstumsmodell weiterentwickeln, können wir selbstbewusst aus der Mitte heraus unsere Zukunft gestalten.
Dr. Jörg Kukies
Der Text ist ein Auszug aus dem neuen Buch des Wirtschaftsforums der SPD „Visionomics – Fünf Säulen für Wohlstand in einer sicheren Welt„, das am 14.4 im Dietz Verlag erschienen ist.