Die sozialen Sicherungssysteme geraten durch verschiedene Einflüsse unter Reformdruck, ein wesentlicher Faktor ist dabei die demografische Entwicklung. Führt diese doch bei den umlagefinanzierten Sozialversicherungszweigen zu immer höheren Ausgaben und tendenziell zu geringeren Einnahmen. In der Konsequenz rückt damit die Finanzierbarkeit des derzeitigen Leistungsniveaus immer stärker in den Fokus. Gleichzeitig sorgen die Digitalisierung und der technische Fortschritt gerade in den Bereichen Gesundheit und Pflege für Anpassungsdruck bei der Leistungserbringung. Es ist also klar, dass Reformen der sozialen Sicherungssysteme unumgänglich sind, um auch künftig ein qualitativ hochwertiges Versorgungsniveau garantieren zu können, das gleichzeitig finanzierbar bleibt.
Spätestens seit den Diskussionen um die Krankenhausreform wissen wir, dass eine verlässliche Versorgung mit Gesundheits- und Sozialleistungen zentral ist, um das Vertrauen in Staat, Wirtschaftsordnung und Gesellschaft zu erhalten. Insbesondere Reformen im Bereich der sozialen Sicherung beschränken sich nicht auf die eigentliche Anpassung im jeweiligen System, sondern ziehen Gerechtigkeitsfragen und Kontroversen nach sich. Die soziale Sicherung muss im Kontext unserer Wirtschaftsordnung, der Sozialen Marktwirtschaft, betrachtet werden. Nur mit dieser Grundvoraussetzung können begründete und nachvollziehbare Reformmaßnahmen abgeleitet und angestoßen werden.
Die soziale Sicherung im System der Sozialen Marktwirtschaft steht für eine Absicherung der elementaren Lebensrisiken Arbeitslosigkeit, Unfall, Krankheit, Alter und Tod des
Versorgers. Bei der Ausgestaltung der sozialen Sicherung sind die drei Prinzipien Eigenverantwortung, Subsidiarität und Solidarität zu beachten: Nur wer unverschuldet in Not geraten ist, darf auf die Solidarität der Gemeinschaft vertrauen. Dieser sind aber durch die Eigenverantwortung des Einzelnen Grenzen gesetzt. Das ist entscheidend und muss zwingend eingefordert werden.
Welche Bedeutung die Eigenverantwortung hat, zeigt sich an den – mittlerweile leider auch populistisch aufgeheizten – Diskussionen zum Bürgergeld. Mit der Einführung des Bürgergelds wurde der für Hartz-IV-Reformen leitende Grundsatz von „Fördern und Fordern“ aufgeweicht und das „Fordern“ in den Hintergrund gerückt. Es sorgt aber nachvollziehbar für Unverständnis in der Breite der Bevölkerung, wenn Einzelne, die arbeiten könnten, Leistungen beziehen. Dies wiegt umso schwerer angesichts des Arbeitskräfte- und Fachkräftemangels, wenn offene Stellen bestehen und Betriebe ihren Personalbedarf nicht decken können. Das schadet nicht nur unserer wirtschaftlichen Entwicklung, sondern passt weder zum Gerechtigkeitsempfinden der Menschen, noch ist es solidarisch. Es widerspricht auch dem Gedanken der sozialen Teilhabe, in der Beschäftigung ein integraler Bestandteil für ein eigenständiges Leben ist. Klar ist: Leistungsbezug darf kein Dauerzustand sein. Wir brauchen dringend grundlegende Reformen der steuerfinanzierten sozialen Sicherung. Ziel muss es sein, Erwerbspersonenpotenziale durch Anreize für Arbeit zu heben und zielgerichtet sowie bedarfsorientiert nach dem Grundsatz ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ zu unterstützen.
Handlungsbedarf besteht auch im Bereich der Sozialversicherung. Mittlerweile liegt der Gesamtbeitragssatz bei 42 Prozent – Tendenz weiter steigend. Dieser Trend muss dringend umgekehrt werden. Gleiches gilt für die Debatte über eine Anhebung bzw. Angleichung der Beitragsbemessungsgrenzen – wir brauchen nicht mehr Abgabenlast, sondern weniger. Ständig steigende Sozialabgaben gefährden unsere Wettbewerbsfähigkeit massiv. Sie sind ein weiterer Baustein, der Deutschland unattraktiv für Unternehmen macht. Wir müssen dringend gegensteuern, sonst riskieren wir Arbeitsplatzverluste und empfindliche Wohlstandseinbußen.
Wachsende Sozialabgaben sind auch gegenüber den Versicherten problematisch. Wir stehen heute im OECD-Vergleich schon auf Platz zwei bei der Steuer- und Abgabenbelastung. Satteln wir hier weiter drauf, wird der Rückhalt gegenüber unseren Sozialversicherungssystemen weiter schwinden und das System als ungerecht empfunden werden. Die Menschen wollen, dass ihnen mehr Netto vom Brutto bleibt – nicht weniger. Es ist auch leistungsfeindlich, diejenigen immer weiter zu belasten, die das System durch Steuern und Abgaben am Laufen halten. Umgekehrt müssen wir uns dann auch nicht wundern, wenn die Leistungsbereitschaft in unserer Gesellschaft sinkt. Wir dürfen den Gedanken der Solidarität nicht überspannen, insbesondere nicht dahingehend, dass immer weniger jungen Menschen eine wachsende Finanzierungslast aufgebürdet wird.
Auch für den Bereich der Sozialversicherung gilt, dass die Eigenverantwortung weiter gestärkt werden muss. Bei der Altersvorsorge ist eine Ergänzung der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung durch kapitalgedeckte Elemente unumgänglich. Hierfür brauchen wir eine Stärkung der privaten und betrieblichen Altersvorsorge. Insbesondere bei der betrieblichen Altersvorsorge verschenken wir unheimlich viel Potenzial durch komplexe und intransparente Regelungen, die für kleine und mittlere Unternehmen abschreckend wirken. Wir brauchen einfache und händelbare Systeme, die auch Kleinstbetriebe ohne großen administrativen Aufwand und ohne Haftungsrisiken nutzen können.
Bei der Pflege treten wir ebenfalls für eine kapitalgedeckte Zusatzversicherung ein. Das ist wesentlich gerechter als eine Pflegevollversicherung, die solidarisch finanziert auch denjenigen unterstützt, der die Pflegekosten selbst tragen kann. Ebenso akut wie die Finanzierungsfrage müssen wir die Versorgung regeln. Wir brauchen ein starkes Netz aus ambulanten und stationären Pflegediensten und Einrichtungen. Die Herausforderung ist mit Blick auf den eklatanten Personalmangel im Bereich Gesundheit und Pflege immens. Wir müssen offen gegenüber innovativen Versorgungsmodellen sowie technischen und digitalen Assistenzsystemen sein. Eine flächendeckend und qualitativ hochwertige Pflegeversorgung ist auch für den Wirtschaftsstandort wichtig, um zu verhindern, dass sich Personalengpässe weiter verschärfen, weil Beschäftigte wegen der Pflege von Angehörigen ausfallen.
Handlungsbedarf besteht auch in Sachen Prävention. Die Pflegebedürftigkeit muss möglichst lange hinausgezögert werden. Der Reformbedarf im Gesundheitswesen ist groß und überfällig. Ein nüchterner Blick auf die Zahlen verrät, dass wir zwar international gesehen zur Spitzengruppe bei den pro Kopf Ausgaben für Gesundheit gehören, aber keineswegs am längsten leben oder am gesündesten sind. Reformen im Gesundheitswesen müssen deshalb in erster Linie an der Ausgabenseite ansetzen. Eine ehrliche Debatte über künftige Versorgungsstrukturen ist nötig. Aufgrund von Faktoren wie technischer Fortschritt sowie individualisierte Therapien und Personalmangel, lassen sich bestehende Versorgungsstrukturen nicht konservieren. Gleichzeitig müssen die Menschen in Stadt und Land auch künftig in der Gewissheit leben können, dass im Notfall schnell und rasch medizinische Hilfe bereitsteht. Die Krankenhausreform hat es nicht geschafft, die Ängste vor Versorgungsengpässen zu nehmen. Hier muss nachgearbeitet werden – auch, damit sich ländliche Räume nicht abgehängt fühlen und einer Polarisierung der Gesellschaft entgegengewirkt wird. Auch im Bereich Gesundheit gilt es, die Eigenverantwortung zu stärken. Die Spielräume sind groß, sie müssen nur konsequenter genutzt werden. So kann gesundheitsbewusstes Verhalten beim Krankenversicherungsbeitrag honoriert werden – die Digitalisierung und die Verbreitung und beständige Weiterentwicklung von mobiler Technologie schaffen hier völlig neue Optionen. Auch sollten wir offen über ‚Managed Care Systeme‘ diskutieren, mit denen die Versorgung der Patienten besser gesteuert, die Behandlungsqualität verbessert und Kosten gesenkt werden können.
Zusammengefasst: „Sozialpolitik ist auch Wirtschaftspolitik“. Die Zukunft unseres Wirtschaftsstandorts ist eng daran geknüpft, ob und wie es gelingt, den Sozialstaat zu reformieren und zukunftsfest auszugestalten.
Bertram Brossardt