Der Staat bildet den strukturellen Eckpfeiler unserer Demokratie. Er schafft den Rahmen, in dem Freiheit und Gerechtigkeit gedeihen können, und organisiert die Kernelemente unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wenn der Staat jedoch nicht mehr so funktioniert, wie er sollte, gerät unser demokratisches System in ernsthafte Schwierigkeiten. Insbesondere die Sozialdemokratie verlässt sich oft auf den Staat als zentrales Instrument der Politik. Dies setzt jedoch implizit voraus, dass der Staat leistungsfähig ist. Doch was passiert, wenn die Politik ihre Zusagen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr einhalten kann? Was, wenn staatliche Unzulänglichkeiten nicht nur den Alltag erschweren, sondern auch das Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen untergraben? Diese Fragen drängen sich auf, wenn wir die gegenwärtige Leistungsfähigkeit des deutschen Staates und seiner Verwaltungen betrachten.
Die Verwaltungen sind das Herzstück des modernen Staates. Sie fungieren nicht nur als Schnittstelle zwischen Bürgerinnen und Bürgern und dem Staat, sondern sind durch ihre Exekutivfunktionen auch das zentrale Werkzeug, mit dem Regierungen ihre Politik umsetzen. Doch genau an diesen Scharnierfunktionen hakt es oft. Statt Fortschritte voranzutreiben, stellen Verwaltungen heute häufig ein Hindernis dar. Verfahren ziehen sich in die Länge, Entscheidungen dauern unverhältnismäßig lange. Trotz erheblicher Investitionen bleibt die viel zitierte „digitale Verwaltung“ für die Bürgerinnen und Bürger im Alltag weitgehend unsichtbar. “A” wie analog kommt nicht nur im Alphabet vor “D” wie digital.
Diese Unzulänglichkeiten sind weit mehr als bloß ein Ärgernis. Sie gefährden das Fundament unserer Demokratie. Denn wenn Bürgerinnen und Bürger zunehmend die Erfahrung machen, dass der Staat seine Aufgaben nicht erfüllt, wächst die Frustration – und mit ihr die Versuchung, sich radikalen Alternativen zuzuwenden.
Wie Prozessorientierung den Staat lähmt
Ein Grundproblem des Staates ist die tief verwurzelte Prozessorientierung der deutschen Verwaltung. Diese basiert auf Prinzipien, die Max Weber Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Bürokratiemodell formulierte: klare Regeln, Transparenz und Rationalität. Doch was einst Fortschritt und Legitimation bedeutete, hat sich längst in eine Sackgasse verwandelt. Prozessorientierung führt heute oft dazu, dass Ergebnisse zu kurz kommen. Statt von den angestrebten Zielen her zu denken, wird in erster Linie darauf geachtet, dass Verfahren und Abläufe eingehalten werden. Probleme, die dadurch an anderer Stelle entstehen, werden hingenommen. Ein aktuelles Beispiel ist der Aktionsplan gegen Desinformation, der seit 2022 zwischen Bund und Ländern erarbeitet wird und laut Berichten der Süddeutschen Zeitungfrühestens im Sommer 2025 beschlossen werden kann. Zum Zeitpunkt der vorgezogenen Bundestagswahl war also kein abgestimmter Plan vorhanden.
Der Staat wirkt hilflos und gelähmt. Bauprojekte, politische Initiativen und Reformen werden durch endlose Abstimmungen, Prüfungen und Genehmigungen verzögert. Die Vielzahl an Akteuren – von Bundes- über Landesbehörden bis hin zu Kommunen – führt zu unklaren Verantwortlichkeiten und langwierigen Entscheidungsprozessen. Ein weiteres Beispiel ist das Onlinezugangsgesetz (OZG) von 2017, das bis 2023 digitale Verwaltungsdienste flächendeckend verfügbar machen sollte. Bis heute ist davon nichts zu sehen. Solche Versäumnisse sind keine technischen, sondern strukturelle Probleme.
Der Baubereich ist ebenfalls betroffen. Die Ampelkoalition hatte sich das Ziel gesetzt, jährlich 400.000 neue Wohnungen zu bauen, davon 100.000 im sozialen Wohnungsbau. Tatsächlich wurden in keinem Jahr seit 2021 auch nur 300.000 Wohnungen gebaut, und der soziale Wohnungsbau blieb mit unter 50.000 Einheiten pro Jahr weit hinter den Erwartungen zurück. Dies ist ein drastisches Versagen, besonders vor dem Hintergrund, dass der historische Durchschnitt seit den 1950er Jahren bei rund 405.000 Wohnungen pro Jahr liegt. Wieso klappt heute nicht mehr, was vor Jahrzehnten gelang?
Die Konsequenzen dieses Versagens gehen weit über Frustration hinaus. Wenn politische Versprechen unglaubwürdig werden, weil der Staat sie nicht umsetzen kann, verliert die Demokratie insgesamt an Glaubwürdigkeit. Populisten profitieren von solchen Unzulänglichkeiten. Ihre einfachen Botschaften – „der Staat ist unfähig“, „die Eliten kümmern sich nicht um euch“ – finden Gehör, wenn Menschen regelmäßig ineffiziente Verwaltung erleben und politische Versprechen unerfüllt bleiben. Besonders in Ostdeutschland, wo die AfD vielerorts bereits stärkste Kraft ist, zeigt sich, wie gefährlich diese Dynamik für die Demokratie werden kann. Doch das Problem betrifft das gesamte Land.
Reformfelder für eine zukunftsfähige Verwaltung
Um die Situation zu verbessern, bedarf es tiefgreifender Reformen und eines überparteilichen Konsenses der staatstragenden Parteien. Eine Modernisierung der Verwaltung ist kein Selbstzweck, sondern eine zentrale Voraussetzung, um die Handlungsfähigkeit des Staates und das Vertrauen in die Demokratie wiederherzustellen. Die traditionellen, hierarchischen Strukturen der Verwaltung sind ineffizient und behindern eine moderne, dynamische Arbeitsweise. Entscheidungsprozesse verlaufen durch die strikte Trennung von Zuständigkeiten schleppend, und Verantwortung wird oft vermieden.
Eine klare Ausrichtung auf politische Prioritäten, gebündelt in „Missionen“, könnte als erster Ansatzpunkt Abhilfe schaffen. Die Herangehensweise des britischen Premierministers Keir Starmer mit seinen „Mission Delivery Boards“ zeigt, wie solche Reformen schnell umgesetzt werden können. Zentralisierte Zuständigkeiten, klare Verantwortlichkeiten und systematische Überprüfungen der Umsetzung wären auch in Deutschland ein gangbarer Weg.
Auch das lebenslange Laufbahnmodell des Beamtentums spiegelt nicht die Anforderungen der modernen Arbeitswelt wider. Es braucht eine Kultur, die Diversität fördert – sowohl in fachlichen Hintergründen als auch in Denkansätzen. Der öffentliche Dienst sollte gezielt Talente aus Wissenschaft und Privatwirtschaft einbinden. Flexible Arbeitsbedingungen, leistungsorientierte Vergütung und projektbezogene Aufgaben könnten die Attraktivität des öffentlichen Dienstes steigern und eine neue Generation motivierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anziehen.
Auch der strategische Einsatz von Technologien wie Künstlicher Intelligenz (KI), automatisierten Prozessen und datenbasierter Entscheidungsfindung kann die Effizienz und Transparenz staatlicher Prozesse erheblich verbessern und Beteiligung fördern. Taiwan könnte hier als Vorbild dienen. Digitale Plattformen fördern dort schon lange die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger und stärken so das Vertrauen in staatliche Institutionen.
Verwaltungsmodernisierung und -digitalisierung sind untrennbar miteinander verbunden und müssen ganzheitlich durchdacht sowie umgesetzt werden. Dafür ist ein grundlegender Wandel erforderlich: weg von einer prozessorientierten hin zu einer ergebnisorientierten Arbeitsweise, in der technologiegestützte Prozesse eine zentrale Rolle spielen. Dazu zählen auch gezielte Investitionen in die Infrastruktur sowie in die digitalen Kompetenzen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Nur so lassen sich Innovation und Effizienz miteinander vereinen. Im Kern bedeutet Verwaltungsmodernisierung, die Menschen in der Verwaltung zu befähigen, ihr volles Potenzial zu entfalten – hier liegt der Schlüssel für nachhaltige Fortschritte.
Die Demokratie braucht einen handlungsfähigen Staat
Deutschland ist nicht das einzige Land, in dem Staatsreformen diskutiert werden. Ähnliche Debatten gibt es beispielsweise auch in den USA. Doch Initiativen wie das „Department of Government Efficiency“ (DOGE) von Elon Musk und Vivek Ramaswamy sind keine tragfähigen Vorbilder für eine nachhaltige Verwaltungsreform in Deutschland. Radikale Pauschalkürzungen und zielloser institutioneller Abbau nach dem „Rasenmäher-Prinzip“ sind der falsche Weg.
Effizienz in der Verwaltung entsteht nicht durch plakative Schnellschüsse, sondern durch gezielte Verbesserungen von Strukturen und Prozessen, eine vorausschauende Personalpolitik und den strategischen Einsatz moderner Technologien. Ein unüberlegter Abbau von Ressourcen und Institutionen hingegen schwächt die Funktionsfähigkeit des Staates – genau das Gegenteil dessen, was erreicht werden soll.
Eine stabile Demokratie erfordert einen leistungsfähigen Staat. Die Modernisierung der Verwaltung ist dafür von zentraler Bedeutung. Nur durch eine solche Erneuerung kann verlorenes Vertrauen zurückgewonnen und die Handlungsfähigkeit der Demokratie unter Beweis gestellt werden. Die Zeit drängt. Doch mit klugen Reformen kann die Verwaltung wieder zu dem werden, was sie sein sollte: das Rückgrat einer funktionierenden Demokratie und der Garant für eine bessere Zukunft. Um den Aufstieg populistischer Kräfte zu stoppen, müssen jetzt die richtigen Weichen gestellt werden.
Prof. Dr. Henning Meyer
CEO Social Europe Publishing & Consulting GmbH | Honorary Professor of Public Policy and Business, Eberhard Karls University of Tübingen | Research Associate | University of Cambridge