Zoom-Interview zur Lage der Corona-Pandemie von Dr. Nils Heisterhagen und Philipp Mischon mit Prof. Dr. Rüdiger Bachmann am 05. Februar 2021.
Nils Heisterhagen: Sie twittern regelmäßig den Fortschritt beim Impfen in Deutschland und in den USA – wie sieht es heute (05.02.2021) aus und wo liegt der große Unterschied zwischen den Ländern?
Rüdiger Bachmann: Die Zahlen für heute (05.02.2021) sind noch nicht veröffentlicht, daher bezieht sich der Tweet vom 05.02.2021 auf die Zahlen vom 04.02.2021. In den USA wurden bisher 11,17 Prozent (pro 100 Einwohner) geimpft, das sind jedoch nicht alles Zweifachimpfungen. Etwas über 2 Prozent (pro 100 Einwohner) wurden bisher zweifach geimpft. In Deutschland wurden bisher 3,43 Prozent (pro 100 Einwohner) geimpft. Insgesamt ruckelt es aber auch in den USA noch. Man ist nicht da, wo man eigentlich sein wollte. Die USA und Deutschland sind übrigens institutionell vergleichbar: In Deutschland liegt die Gesundheitsvorsorge bei den Bundesländern, und auch die Kreise (z.B. Gesundheitsämter) spielen eine große Rolle. Das ist in den USA genauso, die Gesundheitsvorsorge liegt bei den Staaten und „counties“. Beide Länder kämpfen mit der schwierigen Aufgabe, diese verschiedenen Gebietskörperschaften zu koordinieren. Anders gesagt: Der Föderalismus fordert einen auch sehr heraus.
Nils Heisterhagen: Trotzdem läuft es in den USA besser. Die USA sind bei den Impfungen pro 100 Einwohner besser, bei den Impfungen in Millionen und den Impfungen am Tag. Sie galoppieren uns davon.
Rüdiger Bachmann: Ja, es läuft besser, aber die USA haben auch ca. 14 Tage früher angefangen und mehr Impfstoff bestellt – liegt auch daran, dass dieser in den USA hergestellt wurde. Die Trump-Administration hat sich nicht lumpen lassen, hat von Anfang an auf den Impfstoff gesetzt. Das muss man tatsächlich sagen, Trump hat nicht viel gut gemacht, aber das hat er instinktiv richtig gespürt. Es gibt ja drei Auswege aus der Pandemie: Erstens: Herden-Immunität bei Massensterben (scheidet aus). Zweitens: Medikamente. Drittens: Vakzine. In diesem Fall war Trumps „whatever-it-takes-approach” bei den Vakzinen genau richtig.
Nils Heisterhagen: Wenn wir sehen, dass die USA zunehmende Fortschritte beim Impfen machen: Was können wir in Europa besser machen? Viele Ökonomen sprechen sich für Prämien für die Produktion und Lieferung von Impfstoffen aus, mittlerweile halten einige dies sogar für zu spät (z.B. der Ökonom Moritz Schularick) und fordern eine Not-Wirtschaft für die Impfstoffproduktion. Wie stehen Sie zu Letzterem?
Rüdiger Bachmann: Ich bin gegen die Not-Wirtschaft für Impfstoffproduktion. Eine Zwangswirtschaft setzt furchtbare Anreize. Wir werden weiterhin mit diesen Firmen zusammenarbeiten wollen, da wir aufgrund der Mutationen Modifikationen der Impfstoffe benötigen werden. Von einer antagonistischen Haltung gegenüber „Big Pharma“ halte ich überhaupt nichts.
Nils Heisterhagen: Was halten Sie von dem Prämienmodell?
Rüdiger Bachmann: Es kann schon sein, dass Moritz Schularick Recht hat. Eine Zwischenlösung wird aber gerade in den Ministerien umgesetzt. Dass der Staat die Koordinationsfunktion auf höchster Ebene erfüllen kann und eine industriepolitische Koordinierung startet, glaube ich schon und das wird ja auch gemacht, insofern geht es in die richtige Richtung. Dadurch, dass die Angebotselastizität kurzfristig relativ null ist, kann eine Prämie nicht den Effekt haben, dass es morgen besser wird. Trotzdem sollte man von Prämien Gebrauch machen. Der Markt als Findungsverfahren hat bereits funktioniert und die Erfindungskraft smarter Leute in der Pandemie hat Früchte getragen und zu genialen Lösungen geführt. Niemand hat gedacht, dass das so schnell gehen kann. Das wird nicht zu einer sofortigen Lösung für März oder April führen, aber es bleibt weiterhin das Ziel, die Produktion zu erhöhen, damit man früher mit dem Impfen fertig ist – da zählt jede Woche und jeder Monat angesichts der hohen Kosten der Pandemie.
Nils Heisterhagen: Angela Merkel hat sich in der ARD gegen die „Whatever-it-takes“-Philosophie gestellt und gesagt, man hätte die Hersteller bei dem Impfgipfel gefragt, ob man mit mehr Geld auch mehr und schneller Impfstoff hätte bekommen können und die Antwort sei „nein“ gewesen. Sie fügte zudem hinzu, dass die Produktionskapazitäten des Impfstoffs, z.B. bei Pfizer in den USA lägen, und diese nun mal kaum etwas exportieren würden. Das sei schade für Europa, aber da könne man ja jetzt nichts machen. Zudem hat Bayer-Chef Werner Baumann in der FAZ geäußert, eine Notwirtschaft für Impfstoffe bringe nichts. Was würden Sie Angela Merkels Aussage, Geld bringe nichts, entgegenhalten? Hätte Geld was bringen können?
Rüdiger Bachmann: Die Aussage, Geld bringe nichts, ist trivial richtig und trivial falsch. Es kommt halt darauf an, was man genau meint. Trivial richtig: Denn Geld bringt nichts, um morgen mehr Impfstoff zu haben. Ich würde aber behaupten, früher hätte mehr Geld etwas gebracht, eben mit einem gewissen Zeithorizont, denn Vakzine haben immer Investitionscharakter. Aber ihre Aussage war letztlich nicht präzise und daher nicht aussagekräftig.
Man hat aber auch andere Aussagen gehört. Zum Beispiel Biontech-Chef Uğur Şahin hat sich gewundert, warum aus Deutschland nicht früher bestellt wurde. Dann hat sein Finanzchef gesagt, Geld spiele keine Rolle, aber was soll er auch während eines solchen Gipfels sagen. Er wird seine Verhandlungspartner nicht antagonisieren wollen. Das ist „cheap talk“, viel Gerede. Es gab nie die Garantie (auch im Juli nicht), dass wenn man möglichst groß und breit in die Impfstoffproduktion vor der eigentlichen Zulassung gegangen wäre, es dann funktioniert hätte. Jedoch wäre die Wahrscheinlichkeit höher gewesen und darum geht es. Insofern war es immer eine falsche Entscheidung, nicht „whatever it takes“ reinzugehen, da man die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr Vakzine vorhanden sind.
Nils Heisterhagen: Manche Leute sagen, dass es vergossene Milch sei, sich jetzt mit „was hätte im Juli 2020 besser laufen müssen“ zu beschäftigen. Tun wir doch mal einen kleinen Moment so, dass diese Leute Recht haben. Dann stellt sich die konstruktive Frage: Was kann man jetzt noch tun? Moritz Schularick plädiert für die Notwirtschaft. Der Spiegel-Leitartikel von heute überschreibt sogar „Baut Fabriken“. Was muss die Politik tun, damit das passiert?
Rüdiger Bachmann: Ich halte das für hanebüchen. Ich sehe nicht, warum man das mit Zwangsmaßnahmen machen muss. Man muss in Erfahrung bringen, wie viel das kostet. So würde ich in die Verhandlungen reingehen, und nicht Leute und Hersteller, die man braucht (für diese sowie folgende Pandemien) durch eine Kriegswirtschaft antagonisieren. Diese haben andere Möglichkeiten, ihren Impfstoff abzusetzen und brauchen Europa nicht unbedingt.
Und eine Anmerkung zu den Leuten mit dem Talk über vergossene Milch. Die Debatte um vergangene politische (Fehl)Entscheidungen ist keine „vergossene Milch“. Demokratie ist unter anderem anderen Regierungsformen überlegen, wenn sie in der Lage ist, über politische Verantwortung Fehler zu korrigieren. Laschet und Spahn können aufgrund von „career concerns“ keine Fehler zugeben, da sie sich dann vermutlich erstmal von ihren Ambitionen auf mehr Macht (welche beide haben) verabschieden müssten. Insofern ist es schwierig umzusteuern, wenn man keine Fehler zugeben kann. Zwar versucht man, umzusteuern, doch es dauert zu lange. Inzwischen gibt sogar Ursula von der Leyen zu, dass es Fehler gab. Wenn aufgrund von „career concerns“ keine Fehler, oder zu spät Fehler zugegeben werden können, haben vergangene Fehler Auswirkungen auf die Zukunft. Für das Funktionieren der Demokratie ist Selbstkorrektur wichtig. Das macht eine Demokratie eigentlich funktionsfähiger als andere Regierungsformen.
Nils Heisterhagen: Wo stehen wir im Herbst 2021?
Rüdiger Bachmann: Ich hoffe, dass wir im Herbst mit dem Impfen weiter sind – nicht nur, dass jeder ein Impfangebot bekommen hat, sondern jeder möglichst schon geimpft wurde, da die Impfstoff-Situation mit der wirtschaftlichen Erholung verknüpft ist.
Philipp Mischon: Die Frage nach dem konkreten „Wie weiter jetzt“ stellt sich ja: Wie stehen Sie zu der unter anderem von Clemens Fuest unterstützten No-Covid-Strategie?
Rüdiger Bachmann: Meine Traumstrategie ist, von Neuseeland zu lernen – das Virus auszumerzen, nahe null zu bekommen und dann die Grenzen nicht dicht, aber „dickflüssig“ zu machen. Die Frage ist, wie schafft man eine Insel? Logistisch und geopolitisch idealerweise würde man das über die EU machen, aber ob das geht und ob wir die Staatskapazität und jetzt die Nerven der Bevölkerung dafür haben, das in Europa durchzusetzen, das weiß ich nicht.
Nils Heisterhagen: Das bedeutet aber kein LKW-Verkehr in ganz Europa mehr. Die No-Covid-Strategie in Deutschland geht faktisch nur mit Grenzkontrollen. Der polnische LKW-Fahrer kann uns jederzeit das Virus wiederzurückbringen. Deutschland ist eben keine Insel.
Rüdiger Bachmann: Doch natürlich geht das mit Grenzkontrollen. Waren können ja geliefert werden. Beispielsweise übernimmt ein bayerischer LKW-Fahrer (subcontracted) an der Grenze den LKW von einem tschechischen Fahrer, nachdem der LKW desinfiziert wurde. Das dauert länger, aber könnte man machen. Das größte Problem wären die Berufspendler, die über die Grenzen gehen. Die müsste man aber tatsächlich einem rigorosen Test-Regime aussetzen, das wäre auch eine Möglichkeit für die LKW-Fahrer. Man hätte das schon im Frühjahr/Sommer 2020 versuchen können und vielleicht könnte man es immer noch. Ich weiß, Neuseeland hat es einfacher. Australien hat es als großer Kontinent aber auch geschafft, die haben auch Binnengrenzen aufgebaut, sodass man nicht so einfach zwischen den Bundestaaten hin- und herfahren konnte. Aber so recht glaube ich nicht daran, dass sich das in Europa durchsetzen lässt. USA und Kanada könnten das leichter machen.
Nils Heisterhagen: Die No-Covid-Gruppe um Melanie Brinkmann fordert die Ausmerzung des Virus immer noch. Zuweilen mit sehr rigoroser Haltung.
Rüdiger Bachmann: Ich weiß nicht, ob die so ein hartes Grenzregime wollen. Ich glaube aber auch nicht, dass die Deutschen dafür die Nerven haben werden. Man müsste mit einem knallharten Lockdown beginnen. Es wird immer gesagt, das geht nicht, aber natürlich geht das! In der Theorie, wenn man drei Wochen lang alle menschlichen Kontakte unterbinden könnte, wäre das Virus tot. Es ist klar, dass man das nicht 100 Prozent machen kann, aber je näher man an diese Situation kommt, desto mehr kann man das Virus dezimieren. Andere Länder haben gezeigt, dass sie das können. Die haben geographische Vorteile, das will ich nicht abstreiten. Und ob das jetzt noch geht, ich bin unsicher. Vielleicht sollte man einen Plan entwickeln für die nächste Pandemie. Die nächste Pandemie kann schlimmer werden. Wir sollten zumindest in der Lage sein, sowas wie ein Grenzregime zu machen, wenn wir es brauchen. Idealerweise in Europa (auch wenn es eine riesige Aufgabe wäre), notfalls in Deutschland. Denn die Freiheitsgewinne im Inneren wären enorm gewesen. Man möge sich vorstellen, wir hätten seit Sommer, so wie in China, einigermaßen normal leben können. Gerade die jungen Leute.
Philipp Mischon: Das heißt, Sie stimmen der No-Covid-Warnung zu, nicht vorschnell zu schnell zu lockern, sondern den Lockdown weiterhin bis zu einer sehr niedrigen Inzidenz beizubehalten?
Rüdiger Bachmann: Ja, dem stimme ich schon zu, aber ich will ja mehr. Ich möchte durch entsprechende Regelungen an den Außengrenzen die weitere Ausbreitung des Virus verhindern. Aber ich glaube, das machen die Deutschen nicht mit.
Nils Heisterhagen: Die Amerikaner würden das aber auch nicht mitmachen.
Rüdiger Bachmann: Doch, die Amerikaner haben das de facto gemacht. Die Amerikaner haben die Außengrenzen zugemacht. Aber sie haben nie einen landesweiten drei- bis vierwöchigen Lockdown gemacht, was ein riesiger Fehler war. In Amerika wäre das gegangen, da unsere Grenzen nicht so durchlässig sind. Die kanadisch-amerikanische Grenze liegt oft in dünnbesiedelten Gebieten. Die mexikanische Grenze ist hoch bewacht. Insofern wäre Amerika prädestiniert dafür gewesen, einen vierwöchigen harten Lockdown durchzuführen und das Virus auszumerzen. Einreise hätte noch möglich sein können, aber nur mit einer zweiwöchigen Quarantäne. Im Zweifel hätte man das mit Kanada zusammen machen können. Es war ein großes politisches Versagen der Trump-Administration, das nicht zu tun.
Nils Heisterhagen: Puh, das mit den Außengrenzen ist hardcore. Ich bin erstaunt. Aber gut, diese zuweilen leidenschaftliche Debatte werden wir heute nicht entscheiden. Daher zum Abschluss noch die Frage: Nennen Sie uns drei Punkte in Bezug auf Learnings aus der Pandemie und neue politische Initiativen, die in den nächsten Jahren angegangen werden müssen.
Rüdiger Bachmann: Es muss geschaut werden, was die Vernarbungen aus der Pandemie sind. Ist es tatsächlich so, dass sich die Ökonomie nach Erreichen der Herdenimmunität schnell erholen kann, sodass es keine Vernarbungen gibt? Einiges spricht dafür, dass das nicht der Fall sein wird (Bildungsbereich, Ungleichheit). Sofern es der Fall ist, muss das schnell untersucht und gegengesteuert werden. Wir brauchen Verbesserungen im Gesundheitssektor (nicht bezüglich der Intensivbetten, sondern bezüglich der Bürokratie). Es darf nie wieder so sein, dass wir keine Respiratoren haben, dass Masken und Tests fehlen, etc. Es muss vertraglich klar abgeschlossen werden, wie dies ausgestaltet wird (staatlich oder über Private-Public-Partnerschaften und Verträge). Die dezentrale Verwaltung (Gesundheitsämter) muss modernisiert werden. Es sollte Industriepolitik im Bereich mRNA-Impfstoffe betrieben werden. Diese werden zur Zeit von Experten als technologische Revolution des Impfwesens diskutiert (nicht nur bezüglich Corona). Es braucht enge Zusammenarbeit mit den entsprechenden Virologen, Medizin-Technikern und Experten, um potenzielle Grundlagenforschung/Industriepolitik zu besprechen.
Wir danken für das Interview Rüdiger Bachmann