„Freunde, euer zweiter Arbeitsplatz muss Brüssel und Luxemburg sein.“

In der neuen Ausgabe unseres Video-Podcasts „Dialogforum Wirtschaft“ geht es um Europapolitik. Matthias Machnig diskutiert mit:

Günther H. Oettinger, Präsident der EBS Universität für Wirtschaft und Recht und ehemaliger EU-Kommissar

und Martin Schulz, Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung und Präsident des Europäischen Parlaments a.D.

In dem Gespräch geht es u.a. um folgende Fragen:

Erleben wir eine Re-Nationalisierung in Europa und was heißt das für die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union?

Was muss Europa tun, damit wir in zentralen Technologiefeldern in der Triade USA, China, Europa wieder eine Rolle spielen?

Brauchen wir eine koordinierte Industriepolitik in Schlüsselbereichen wie der Digitalisierung und der Dekarbonisierung? Und müssen wir dabei das Instrumentarium überprüfen, damit wir aus Kleinstprojekten wirklich hoch skalierbare Investitionen in den nächsten Jahren machen können?

Das ganze Gespräch sehen Sie hier:

Günther H. Oettinger zur Frage der Stärkung technologischer Souveränität in Europa: „Wir müssen das europäische Forschungsnetzwerk weiter ausbauen. Horizon Europe ist ein tolles Programm. Trotzdem: In den Haushaltsberatungen für den siebenjährigen Haushaltsrahmen wurde die Landwirtschaft gar nicht gekürzt und wurde der Ansatz der Juncker-Kommission für Forschung und Innovation doch nicht unwesentlich gekürzt. Nur die besten Köpfe aus Delft, aus Grenoble, aus Karlsruhe, aus München, aus Aachen, aus Budapest gemeinsam haben in Qualität und Kapazität eine Chance, mit den USA und mit China mitzuhalten.

Zum Zweiten müssen wir die Standards europäisch setzen, vom Datenschutz angefangen: Die Europäische Datenschutzgrundverordnung mag in einigen Paragraphen vielleicht zu bürokratisch sein aber sie ist ein großer Wurf. Wir haben gemeinsame Regeln für den Schutz von privaten Daten in ganz Europa. Und deswegen, auch für Cybersicherheit oder für die Infrastruktur, für das Roll-Out von 5G, für die Entwicklung von 6G: es geht nur europäisch. Wir brauchen eine Europäisierung digitaler Strategien.“

Martin Schulz spricht sich für die Verstetigung des Wiederaufbaufonds aus: „Wir werden auf Dauer die Wachstumsschübe, die wir brauchen, um Europa weltweit wettbewerbsfähig zu halten, nicht sich erschöpfen lassen können in einer einmaligen Investitionskampagne. Das wird verstetigt werden müssen. Dazu gehört eine Grunderkenntnis: Dass der EU-Haushalt vergrößert werden muss.“

Oettinger zu Next Generation EU: „Faktisch haben wir derzeit eine Verdopplung der Haushaltsmittel auf europäischer Ebene. Also zwei Prozent des Bruttosozialprodukts, nicht mehr nur ein Prozent. Und ich glaube wir sollten daraus die Lehre ziehen, dass der Haushalt vielleicht auf 1,4 Prozent oder 1,5 Prozent angehoben werden sollte. Und dann kann man europäisch auch im Bereich Forschung, im Bereich Infrastruktur, im Bereich Weiterbildung, im Bereich Erasmus+, im Bereich Jugendaustausch mehr investieren. Leider hat Deutschland meinen Haushaltsentwurf mit dem Stärksten in Frage gestellt. 1,0 war das Maß aller Dinge. Und dies kann so nicht bleiben. Ein weiterer Punkt: neue Einnahmen/„EU Own Resources“. Seit Jahr und Tag spricht man davon. Die Finanztransaktionssteuer, die Digitalsteuer, die Plastiksteuer – es gibt eine Reihe von Vorschlägen auf dem Tisch. Die Staats- und Regierungschefs haben vor einem Jahr gesagt: „Jawoll, wir wollen die Schulden, die wir jetzt machen, um zu investieren, zurückführen durch neue Einnahmen.“ Aber es tut sich nichts. Wenn wir nur auf die Zahlungen der Mitgliedstaaten angewiesen bleiben und wenn die Zolleinnahmen gewollt weiter zurückgehen (…), dann wird das Ganze nicht gut gehen. Wenn nur der deutsche Bundestag und die nationalen Parlamente für unsere Einnahmen entscheidend sind: Nein, wir brauchen eigene Einnahmen. Die Debatte muss jetzt endlich beginnen.“ 

Oettinger weiter: „Und dann muss auch das Parlament gestärkt werden. Leider ist das Parlament beim Thema Haushaltspolitik nicht auf Augenhöhe zum Rat. Dann müssen wir aus dem Parlament die echte erste Kammer machen. Der Bundestag lässt sich vom Bundesrat nichts vorschreiben in Sachen Bundeshaushalt. So müsste es eigentlich auch werden beim europäischen Etat.“

Um das Europäische Parlament zu stärken, bringt Schulz den Ansatz „transnationaler Listen“ ins Spiel, bei dem Abgeordnete nicht mehr zwingend von den Vorgaben der nationalen Regierungen abhängig sind.

Wird sich nach dem Abgang von Angela Merkel die Machtarchitektur in Europa verändern?

Oettinger: „Ich traue Olaf Scholz zu, dass er innerhalb eines Jahres (…) eine prägende Person im Europäischen Rat werden kann. Und ich finde es gut, dass mit Herrn Draghi Italien zurück ist. Wir müssen aber aufpassen, dass nicht Paris-Rom die neue Beziehungspartnerschaft wird und Berlin außen vor bleibt. Das heißt: Die neue Regierung muss sehr rasch sich europäisch einbringen.“ 

An die Ampelkoalitionäre hat Günther H. Oettinger folgende Aufforderung: „Freunde, euer zweiter Arbeitsplatz muss Brüssel und Luxemburg sein – neben Berlin. Und Ratssitzungen sind wichtiger als Parteipräsidiumssitzungen.“

Schulz: „Olaf Scholz hat (…) gemeinsam mit Bruno LeMaire diesen Wiederaufbaufonds konzipiert. Es war ein starkes deutsch-französisches Zusammenwirken. Deshalb glaube ich, dass es gute Anknüpfungspunkte für Olaf Scholz zu Emmanuel Macron gibt. Und ich teile Eins zu Eins die Auffassung von Herrn Oettinger, dass mit Mario Draghi in Rom ein Dritter im Bunde an der Macht ist. Das sind die drei verbliebenen G7-Staaten in der EU. Italien, Deutschland, Frankreich. Das könnte die neue Machtarchitektur von drei überzeugten pro-europäischen Regierungschefs sein. Darauf, glaube ich, wird es hinauslaufen.“