„Wir wollten die Öffentlichkeit darüber informieren, wie groß der Schaden ist, wenn man nichts tut“

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Wir wissen nicht, wie sich die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland in den nächsten Wochen entwickeln werden. Es gibt Forderungen, Deutschland möge den Handel mit russischem Öl und Gas boykottieren – und was Russland tun könnte, weiß niemand. Herr Bayer, Sie haben an einer Studie mitgewirkt, die die möglichen volkswirtschaftlichen Folgen eines Energieembargos von oder gegen Russland modelliert hat. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse dieser Studie?

Christian Bayer: Wir haben mit einer Gruppe von Makro- und Energieökonomen von verschiedenen Universitäten und Forschungseinrichtungen untersucht welche gesamtwirtschaftlichen Folgen ein Energieembargo gegen Russland haben könnte und wie man sich gegebenenfalls darauf vorbereiten kann. Wenn man sich dem Thema nähert, kriegt man zunächst Angst, weil etwas mehr als die Hälfte unseres Erdgasbedarfs und etwa 30 % des gesamten Energiebedarfs aus Russland importiert wird.

Wir haben mehrere Szenarien modelliert, die auf einigen gemeinsamen Annahmen fußen. Zum einen ist wichtig zu bedenken, dass der Stromsektor relativ große Reservekapazitäten hat. Wir können daher davon ausgehen, dass man theoretisch den Wegfall russischer Energierohstoffe auffangen könnte, ohne dass bei uns die Lichter ausgehen, weil diese Reservekraftwerke beispielsweise mit Steinkohle aus Australien und heimischer Braunkohle laufen können. Auch bietet der Weltmarkt für Öl Substitutionsmöglichkeiten. Gas bleibt allerdings der limitierende Faktor und da werden wir mit Einbußen rechnen müssen, die sich nicht ersetzen lassen. Das freundlichste Szenario unserer Modellierung hat einen mittelfristigen Zeithorizont von fünf bis zehn Jahren. Durch Anpassungen in der Gesamtwirtschaft müssten wir gemäß dem positiven Szenario nur mit jährlichen Einbußen von 0,3% des BIP rechnen. Das sind circa 400€ für eine vierköpfige Familie pro Jahr. Das ist stattlich, aber weit weg von katastrophal. Allerdings passieren die notwendigen Anpassungen dafür nicht von heute auf morgen.

Wie sähe das Negativszenario aus? Und Negativszenario meint: Ein Embargo kommt und es kommt zeitnah? Damit wird in dem Szenario gerechnet?

Das ist das kurzfristige Szenario, in dem wir gemäß unseren Schätzungen, die bereits an etlichen Stellen Sicherheitsmargen einbauen um lieber zu große als zu kleine Kosten zu benennen, auf jährliche Einbußen von etwa 3% des BIP kommen, wobei wir aber unterstellen, dass die Konjunkturpolitik eine zusätzliche konjunkturelle Verstärkung des induzierten Abschwungs verhindert. Letzteres ist wichtig, weil ein Importstopp für Gas bedeuten würde, dass gegebenenfalls Teile der Chemieindustrie ihre Produktion einstellen müssten. Da wäre dann zwar nur ein kleiner Teil der Gesamtwirtschaft direkt betroffen, doch durch konjunkturelle Spillover-Effekte könnten das, wenn man diese nicht unterbricht, weitreichende Folgen haben. Konkret: Angenommen in Leverkusen, wo durch Bayer viele Jobs in einer Region an einer Industrie hängen, würde ein Gas-Lieferstopp ganze Produktionen lahmlegen, dann könnte das einen Einfluss auf die Hauspreise in der Umgebung haben, was wiederum Banken in Mitleidenschaft ziehen könnte. Solche Spillover-Effekte konnten wir in der Studie nicht einrechnen, daher muss man mit den Szenarien vorsichtig sein. Aber bei dem anzunehmenden Minus von jährlich 3% des BIP wären das bei einer vierköpfigen Familie etwa 4000 Euro im Jahr.

Welche konkreten Handlungsempfehlungen ergeben sich daraus?

Ein Prozentpunkt des BIP entsprechen grob gerundet 40 Mrd. Euro. Minus 3 Prozent BIP sind also 120 Milliarden Euro. Was uns bei einem Embargo fehlt, sind etwa 300 Terawattstunden Gas. Ein LNG-Terminal hat die Kapazität von etwa 100 Terawattstunden. Das heißt mit 3 Terminals könnte man theoretisch den Wegfall des russischen Gases auffangen und damit den von uns berechneten kurzfristigen Schaden ebenfalls. Wir würden dann recht schnell in unserem Langfristszenario von -0,3% ankommen. Vereinfacht könnte man auch sagen, dass ein LNG-Terminal 30-40 Mrd. Euro wert ist. Mein Eindruck ist grundsätzlich, dass die Politik durchaus gewillt ist, diesen Weg zu gehen. Sie scheint dabei aber vorwiegend auf die Abkürzung von Verwaltungsakten zu setzen.

Wenn wir davon ausgehen, dass drei LNG-Terminals einen dreistelligen Milliarden-Schaden abwenden könnten, in welchem Verhältnis stünde das zu etwaigen Baukosten?

Diese Terminals sind nicht billig. Die Kosten inklusive Anschlussmaßnahmen liegen, nach konservativen Schätzungen von Umweltverbänden, normalerweise bei fast einer Milliarde pro Terminal – also bei normaler Planung und längerer Bauzeit. Das sind große Investitionsprojekte. Aber selbst, wenn man diese Summe verfünffachen würde, wäre das für die Bundesrepublik noch ein gutes Geschäft, weil man einen immensen Schaden verhindert. Das muss man sich vorstellen wie eine Versicherung. Bei einem Hochhaus verzichtet man auch nicht auf die Sprinkleranlage, in der Hoffnung es würde nie brennen. Das Risiko wäre einfach zu hoch. Die Energieversorgung ist sicherheitspolitisch relevant und sollte somit aus den üblichen Prüfverfahren herausgenommen werden. Normalerweise dauert das Prüfverfahren anderthalb Jahre und der Bau dauert weitere zwei Jahre. Schneller zu bauen ist möglich, aber kostspieliger. Man kann aber entsprechende Verträge erstellen, die einen vorzeitigen Bauabschluss begünstigen.

Wie würde das aussehen?

Da müssen wir zunächst aus dem Verwaltungsdenken herauskommen und nicht fragen, ob das geht, sondern was das kostet. Es muss nichts Neues erfunden werden, die Technik ist da. Aber man muss Ingenieure und Arbeiter anheuern und ermöglichen, dass Überstunden finanziert werden und Ähnliches. Wenn man entsprechende Gehälter zahlt und die Unternehmen hinreichende Gewinne erwarten können, werden Dinge möglich. Es gibt physische Restriktionen, so ein LNG-Terminal kann man bei aller Mühe nicht in einer Woche aufstellen, aber innerhalb der neun Monate bis zur nächsten Heizperiode sollte das theoretisch machbar sein.

In der Pandemie haben wir immer wieder gesehen, dass der deutsche Diskurs vorausschauendes Handeln selten honoriert. Da wird im Zweifel geschimpft, dass zu viel Impfstoff bestellt wurde, den man am Ende nicht brauchte. Wäre also die jetzige Situation mit vorausschauendem Handeln größeren Schaden abzuwenden?

Ja, deswegen haben wir das das Papier geschrieben. Wir wollten die Öffentlichkeit darüber informieren, wie groß der Schaden ist, wenn man nichts tut und wie klein der Schaden werden kann, wenn man schnell handelt. Wenn Russland maximalen Schaden anrichten will, dann würde es zu Beginn der Heizperiode überraschend die Gaslieferungen einstellen. Gegen so etwas müssen wir uns absichern. Die Szenarien in unserem Papier zeigen ja, dass es einen großen Unterschied macht, ob und wie man sich anpasst. Zwischen langfristigem Anpassungsszenario und kurzfristigem Gasschock liegt ein Unterschied von 100 Mrd. Euro jährlich. Und um diese aus dem Feuer zu holen, ist eine Investition von zehn oder fünfzehn Milliarden eine lohnende Versicherung.

Wie sehen Sie Russlands wirtschaftliche Zukunft? Jetzt steht das Land vor dem Scherbenhaufen seiner Wirtschaftspolitik der letzten zwanzig Jahre. Die Elite hat in Luxuskonsum investiert, nicht aber in die Zukunftsfähigkeit des eigenen Landes. Das Anhäufen von Währungsreserven hat sich als weitgehend nutzlos herausgestellt und mit den fossilen Rohstoffen des Landes lässt sich nur noch die nächsten zwanzig Jahre Geschäft machen. Wie wird es wirtschaftlich weitergehen mit Russland?

Das ist ein komplexes Thema, das über das rein ökonomische hinausgeht. Russland hängt zu etwa 30% von seinen Energieexporten aus Kohle, Gas und Öl ab. Das ist unglaublich viel und dieses Geschäftsmodell lässt sich in der Tat nicht viel länger aufrechterhalten. Russland ist auch nicht sonderlich sonnenreich, sodass es in Zukunft auch kaum als Exporteur von Wasserstoff in Frage kommt. Die Energieproduzenten dieser Welt werden in wenigen Jahrzehnten grundlegend andere und zum großen Teil im globalen Süden zu finden sein. Die Industrieländer der Nordhalbkugel können nicht im sinnvollen Maße erneuerbare Energie für die Welt produzieren. Wir können eine Menge machen, aber Photovoltaik, zum Beispiel, hat in Subsahara und Afrika ganz andere Kosten als bei uns.

Aber aktuell ist Russland ja nicht nur in Energiefragen für uns und die Welt unentbehrlich. Es wird oft unterschätzt, dass Russland und die Ukraine große Nahrungsmittelproduzenten sind. Könnte uns analog zum Energieembargo auch drohen, dass wir keine Lebensmittel mehr aus der Ukraine und Russland beziehen?

Das haben wir uns in der Studie nicht angeschaut, aber das wurde natürlich in den Besprechungen angerissen, denn ein Teil des Gasverbrauchs entfällt auf die Produktion von Dünger. Ohne Gas ist die industrielle Produktion von Dünger aktuell nicht denkbar. Langfristig lassen sich diese Prozesse ohne große Einkommens- und Arbeitsplatzverluste in der Welt verschieben. Man kann auch das nötige Ammoniak synthetisch anders herstellen, direkt in Hydrolyse eingebunden, aber noch ist das nicht in industriellen Maßstäben machbar.

Angesichts der aktuellen Preise an den Zapfsäulen, ist eine Diskussion um eine Spritpreisbremse entfacht. In Ihrem Papier kam allerdings deutlich heraus, dass die Lenkungswirkung der hohen Energiepreise sehr wichtige und nötige Entwicklungen anschieben wird. Doch die Inflation ist ohnehin schon hoch und viele müssen jeden Cent dreimal umdrehen. Wie sähe denn ein realistischer Weg aus, bei dem wir notwendige Entwicklungen machen, aber die soziale Balance nicht aus den Fugen gerät? Denn die Debatte um die Spritpreise hat ja einen sozialen Kern und kommt aus ökonomischem Druck zu Stande.

Zunächst muss man grundsätzlich sagen, dass es kein Grund zur Freude ist, wenn die Energiepreise hochgehen. Hohe Preise heißen immer, dass Dinge knapper geworden sind. Aber wenn wir jetzt anfangen die Spritpreie zu manipulieren, entsteht nicht mehr Energie. Irgendwer muss auf den Konsum von Öl und Gas verzichten. Man kann diskutieren wer das machen soll, das verteilt dann den Schaden, aber im Nachhinein nachzusteuern macht den Gesamtschaden in der Regel noch größer. Um die Lenkungswirkung der Energiepreise zu erhalten, müssen wir über andere Mechanismen umverteilen. Das sollten Zuschüsse bei Heizkosten sein oder auch steuerliche Grundfreibeträge. Nicht alle sind von steigenden Spritpreisen gleichmäßig betroffen und nicht alle haben die gleichen Substitutionsmöglichkeiten. Wenn ich meine Kinder zu ihren Großeltern fahre, dann kann ich das entweder sehr bequem im Auto machen oder eben mit Bus und Bahn was leider langwieriger und aufwändiger ist. Ich habe aber eine Wahlmöglichkeit und ob ich sie nutze, entscheidet sich auch am Preis. Bei Pendlern ist das nicht immer der Fall, diese nehmen meist das Auto, weil es anders nicht geht. Dem kann aber eine Pendlerpauschale oder ein Direktabzug der Pendelkosten von der Steuer gerecht werden.

Beim Heizen ist es so, auch das zeigt unsere Studie, dass die Menschen unabhängig vom Einkommen einen ähnlich hohen Anteil ihrer Konsumausgaben für das Heizen einsetzen. Da sie aber weniger sparen, beansprucht das Heizen dann doch bei ärmeren Menschen einen deutlich größeren Teil des verfügbaren Einkommens. Auch hier könnte man mit Ausgleichszahlungen helfen. Aber wenn man für alle die Gaspreise oder Ölpreise senkt, dann führt das dazu, dass notwendige Anpassungen nicht vorgenommen werden. Und wenn Privathaushalte von Anpassungen ausgenommen werden, wird der Anpassungsdruck gesamtwirtschaftlich noch mehr bei der Industrie liegen. Das wiederum macht dann Produkte nochmals teurer und wird sich in einem relativ zu unserem -3% Szenario noch schwächeren BIP äußern. Die Decke ist zu kurz, aber wir müssen zusehen, dass allen halbwegs warm ist.

Was muss politisch nun passieren?

Das Wichtigste ist, mehr Gasimporte möglich zu machen. Bei Öl wird sich vermutlich die Situation bald etwas beruhigen und außenpolitisch kann man sicher mit der OPEC das ein oder andere abmachen. Bei den Spritpreisen muss man auch ein Stück weit die Kirche im Dorf lassen. Wir haben jetzt einen drastischen Anstieg der Preise gesehen, aber auch 2008 hat der Liter Diesel rund 1,50 € gekostet. Das ist zwölf Jahre her. Seitdem sind die Nominallöhne auch um 30% gestiegen. Wir haben uns einfach an sehr an günstige Spritpreise gewöhnt. Das ist jetzt bitter und damit muss man umgehen, aber die Knappheit ist nicht damit aus der Welt geschafft, wenn wir hier die Spritpreise manipulieren. Wir können die Autofahrer, die keine Ausweichmöglichkeit haben, gezielt entlasten und alle anderen, die wie ich das Auto aus Bequemlichkeit nutzen, kann man durchaus belasten.

 

Das Interview hat Dr. Nils Heisterhagen geführt

Link zur Studie: