Embargo oder Nicht-Embargo? Oder Besonnenheit gegen Eifertum

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Der Streit zwischen Ökonomen eskaliert. Während die einen den anderen einen Berufswechsel ins Martial-Militärische unterstellen, werfen die anderen den einen moralischen Verrat an der Ukraine vor. Worum geht es?

Eine Gruppe von Ökonomen um Rudi Bachmann, Professor in Notre Dame (USA), hatte mit Hilfe eines Simulationsmodells, das globale Handelsbeziehungen abbildet, errechnet (Bachmann et al. ), dass ein sofortiger Totalboykott russischer Energielieferungen im schlimmsten Fall einen Wachstumseinbruch von 3 Prozentpunkten für Deutschland bedeuten würde. Dies wäre weniger als während der Finanzmarktkrise und der Covid Pandemie. Insofern sei ein solcher Schritt ökonomisch verkraftbar. Er sei sogar zu empfehlen, da Russland auf diese Weise erhebliche Einbussen an Exporterlösen zu fürchten habe. Dieser Verlust an Deviseneinnahmen würde den russischen Präsidenten in seinen militärischen Möglichkeiten begrenzen und damit den Kriegsverlauf  zu Gunsten der Ukraine wenden.

Schon zuvor hatte die Leopoldina (Leopoldina ) ohne Anwendung eines Modells errechnet, dass ein totaler Ausfall der russischen Lieferungen technisch und ökonomisch „handhabbar“ sei. Zuletzt kam das DIW zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Insbesondere sei ein Totalaustieg bis zum Jahresende machbar.

Bevor man zur berechtigten Kritik an dieser Arbeit und vor allem an der Empfehlung kommt, sollte man festhalten, dass die Arbeit von Bachmann et al. sehr verdienstvoll ist. Nicht nur leistet sie eine erste quantitative Abschätzung der Folgen eines Totalembargos, sondern durch die präzise Modellierung ermöglicht sie auch eine präzise Debatte über die  Voraussetzungen dieser Ergebnisse und die Wirkungskanäle eines Embargos. Selbst wenn man am Ende zu einem negativen Urteil über die Arbeit und die daraus abgeleiteten Empfehlungen kommt, hat sie dennoch zu wichtigen Erkenntnisgewinnen beigetragen.

Die Einwände gegen die Arbeit lassen sich mit den Antworten zu drei Fragen zusammenfassen. Die erste Frage ist: Ist das Modell zur Analyse der Fragestellung überhaupt geeignet? Die zweite lautet: Basiert das Modell auf realistischen Prämissen? Und die dritte: Läßt sich aus den Modellergebnissen die Forderungen nach einem sofortigen Embargo begründen?

Alle drei Fragen müssen meiner Meinung nach mit Nein beantwortet werden. Das Modell ist nicht geeignet, da es sich um ein Langfrist-Modell handelt, das die Handelsströme auf lange Sicht, also ohne konjunkturelle Schwankungen oder kurzfristige Anpassungshemmnisse abbildet. Tom Krebs hat die Zweifel an der Eignung des Modells ausgeführt. Das zentrale Argument von Tom Krebs lautet, dass das Modell keine spezifische Modellierung für die Chemische Industrie beinhaltet. Der Produktion in dieser Schlüsselindustrie kommt aber entscheidende Bedeutung für die Entwicklung in anderen Bereichen der Wirtschaft zu. Fällt sie aufgrund von Energiemangel aus, strahlt der Ausfall unmittelbar auf andere Bereiche aus, die dann ebenfalls nicht produzieren können. Diese Kaskadeneffekte werden laut Krebs im verwendeten Modell unzureichend berücksichtigt. Ben Moll, einer der Autoren, erkennt den Punkt prinzipiell an, behauptet aber, dass der Effekt nicht durchschlagend sei und die Ergebnisse sich nicht prinzipiell ändern würden.

Wahrscheinlich ist der Einwand aber noch viel gewichtiger als Krebs ihn macht. Denn das Modell basiert auf ökonometrischen Schätzungen langfristiger Verhaltensgleichungen. Es geht aber gerade bei einem kurzfristigen Totalembargo um einen kurzfristigen Schock, der ganz andere Reaktionen hervorrufen kann, die sich zwar langfristig verflüchtigen mögen, aber kurzfristig sehr relevant sind. Das hätte zumindest überprüft werden müssen, um das Modell als geeignet erscheinen zu lassen. Mit dieser Version startet man aber in ein ökonomischen Blindflug, da der Schock vom Modell gar nicht verstanden wird.

Das ist auch der tiefere Grund für die unrealistischen Annahmen, auf denen die Analyse basiert. Dies betrifft vor allem die Analyse eines Gasboykotts. Es sind vor allem technische Gegebenheiten, die übersehen werden. Anders als bei Öl und Kohle sind beim Gas die Transportwege durch die Pipelines fest gefügt und können auf kurze Sicht nicht geändert werden. Zwar ist dies beim Flüssiggas anders, aber Deutschland verfügt bekanntlich bislang nicht über die entsprechenden Landungskapazitäten. Insofern ist rein technisch ein schneller Wechsel überhaupt nicht möglich. Das Modell kennt diese Rigiditäten nicht, die langfristig möglicherweise nicht gravierend sind. Ebenfalls übersehen wird, dass das kurzfristige Abschalten gas-betriebener Öfen langfristige Konsequenzen hat. Weil sie dadurch schlicht zerstört werden, können sie selbst wenn die Gaslieferungen durch andere Anbieter erfolgreich ersetzt werden, nicht wieder hochgefahren werden. Es geht also nicht nur Produktion verloren, die nach dem Abklingen des Mangels wieder hochgefahren werden kann, sondern es wird langfristiges Produktionspotenzial zerstört. Die Volkswirtschaft wird ärmer.

Das unterscheidet im übrigen das Totalembargo von den Produktionsschliessungen während der Corona Pandemie. So konnten z.B. Restaurants, die zweitweise schließen mussten, mit Hilfe von Überbrückungsgeldern nach dem Aufheben des Lockdowns wieder öffnen. Bei Keramiköfen geht dies nicht.

Aber selbst in jenen Bereichen, in denen die Produktion prinzipiell wiederbelebt werden kann, ist die im Modell unterstellte Annahme, dass keinerlei negative Nachfragewirkungen zu verzeichnen seien, in hohem Maße unrealistisch. Angesichts der bei einem Totalembargo unvermeidlichen massiven Energiepreissteigerungen geraten die Realeinkommen der privaten Haushalte spürbar unter Druck. Sie müssen ihre Nachfrage einschränken. Da die Erlöse aus dem Energiekonsum ins Ausland fließen, kommt es zu einem spürbaren gesamtwirtschaftlichen Nachfrageentzug. Dies gilt wegen der globalen Verflechtungen nicht nur für Deutschland, sondern für alle Energie importierenden Volkswirtschaften, was den Effekt deutlich verstärkt. Es dauert erfahrungsgemäss einige Zeit, bis die Energieexporteure ihre erhöhten Erlöse wieder als Importnachfrage auf dem Weltmarkt recyclen. Zudem ist ungewiß inwieweit die deutsche Volkswirtschaft hiervon profitieren würde. Es ist extrem unwahrscheinlich, dass die Nachfragelücke, die sich unter diesen Umständen öffnet, sofort und ohne Verwerfungen durch staatliche Maßnahmen auf globaler Ebene überbrückt werden könnte.

Das haben mittlerweile auch die Autoren zugestanden. In einer Folgeuntersuchung, die mit einem Modell des DIW durchgeführt wurde, das die Nachfragewirkungen berücksichtigt, kommen die Autoren denn auch zu deutlich negativeren Ergebnissen als in der Ausgangsstudie. Der errechnete Einbruch ist mit knapp 3 Prozentpunkten etwa so hoch wie in dem pessimistischsten Szenario der Voranalyse. Noch deutlich negativer fällt das Resultat beim IMK aus, das sogar bei einer vorsichtigen Modellierung des Embargoschocks mit seinem Konjunkturmodell zu einem Einbruch von 6 Prozentpunkten kommt. Damit ist nunmehr anders als zu Beginn der Debatte offenkundig, dass ein sofortiges Totalembargo zu einer dramatischen Rezession führen würde, die denen während Finanzmarktkrise und der Covid Pandemie wahrscheinlich in nichts nachstehen würde. Hinzu kämen die negativen langfristigen Effekte durch das zerstörte Produktionspotenzial.

All diese Überlegungen unterscheiden sich bis hierhin nicht wesentlich von einer der üblichen Debatten unter Ökonominnen und Ökonomen über die Effekte ökonomischer Phänomene und der Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen. Doch der Krieg in der Ukraine läßt dem Üblichen keinen Raum. Denn die Autoren um Bachmann leiten aus ihren Ergebnissen unmittelbar die auch moralisch begründete Forderung nach einem sofortigen Totalembargo aller Energielieferungen aus Russland ab. Die Behauptung ist, dass der sofortige Stopp Russland seiner Deviseneinnahmen berauben würde und ihm damit die Fortsetzung des Krieges binnen Kurzem unmöglich machen würde. Insbesondere wird Russland wirtschaftlicher Schaden zugefügt, was den Anreiz zur Fortsetzung seiner kriegerischen Strategie erschweren würde. Gleichzeitig  sei der Stopp für Deutschland verkraftbar, da sich die unvermeidliche Rezession im Rahmen des bereits Erlebten halten würde. Daher sei es im Interesse der Ukraine und des gesamten „Westens“ moralisch geboten, so zu verfahren.

Diese Argumentation traf auf viel Zustimmung und ebenso viel Ablehnung. Insbesondere die Bundesregierung lehnte die Forderung nach einem sofortigen Totalembargo wegen dessen wirtschaftlicher Risiken ab. Auf den nachfolgenden teilweise unflätigen Streit unter Ökonomen soll hier nicht eingegangen werden.

Es geht aber um das Argument, ein sofortiges Totalembargo würde einen maßgeblichen Einfluss auf den Kriegsverlauf schon auf kurze Sicht ausüben. Zunächst muss festgehalten werden, dass dieses Argument nicht nur ökonomisch ist, sondern auch Kenntnisse über die militärische Ausrüstung Russland im Vergleich zur Ukraine und die jeweiligen Militärstrategien erfordert. Dies ist weit jenseits jeder Kernkompetenz von Ökonomen. Insofern sollte ihr Rat entsprechend gewichtet werden.

Das Argument überzeugt aber auch in seinen ökonomischen Teilen nicht. Dabei besteht Einigkeit über das langfristige Ziel, Russlands Handel mit Energieträgern weitgehend zu unterbinden und ihm damit seine finanziellen Devisenressourcen zu entziehen, die ihm den Aufbau seiner Militärmacht ermöglichten. Der Streit geht vielmehr um die Geschwindigkeit der Implementation. Auf der einen Seite wird von den Ökonomen ein sofortiges Totalembargo gefordert, auf der anderen Seite von der Bundesregierung mit  Unterstützung anderer Ökonomen ein allmähliches praktiziert. Die Geschwindigkeit von letzterem wird durch die realisierte Substitution durch andere Anbieter, höhere Lagerbestände und das Sparverhalten der Energiekonsumente aufgrund der hohen Preise bestimmt. Ziel ist es, eine Rationierung vor allem im kommenden Winter zu vermeiden.

Dieses Vorgehen ist schon deshalb sinnvoll, weil der Vorteil eines sofortigen Totalembargos nicht erkennbar ist, während die Nachteile wie oben geschildert auf der Hand liegen. Die Produktion russischer Waffen wurde aus den Überschüssen der Vergangenheit finanziert. Sie sind schon da und einsatzbereit. Treibstoff ist genügend vorhanden, und die Soldaten werden in Rubel bezahlt. Mit anderen Worten, Russland kann kurzfristigaus ökonomischer Sicht den Krieg auch bei einem sofortigen Totalembargos Deutschlands und der EU ungehindert fortsetzen. Zudem sind die Deviseneinnahmen angesichts der Sanktionen nur  von begrenztem Nutzen, da Käufe von Hochtechnologie im Ausland für  Russland massiv erschwert sind.

Damit ist offenkundig, dass die Strategie der Bundesregierung eines gezielten energiepolitischen Abkoppelns von Russland der nachhaltigere Weg zum Erfolg ist. Er unterminiert auf der einen Seite absehbar die finanzielle Basis für Russland. Dies ist auch dort erkennbar, und die Staatsführung gerät zunehmend unter Druck. Auf der anderen Seite ist die Versorgungssicherheit in Deutschland gesichert, wenn auch zu deutlich höheren Preisen. Gerade die Sicherheit ist aber in der gegenwärtigen, sehr labilen Lage wichtig, um die notwendige längerfristige Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung für den harten Kurs gegenüber Russland zu sichern. Man darf sich nicht täuschen, die zwangsläufigen Wohlstandsverluste, die durch das Kappen des Handels mit Russland und durch den erhöhten militärische Finanzbedarf entstehen, werden unsere Gesellschaft noch genug belasten. Das könnte die Zustimmung auf Dauer erodieren lassen. Was wäre es  ein Triumph für Putin, wenn die Geschlossenheit des Westens auf längere Sicht durch rechtspopulistische Wahlerfolge unterminiert würde? Kühle Besonnenheit schlägt moralischen Übereifer.

Prof. Dr. Gustav Horn