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Es ist eigentlich schon lange spürbar. Ein Weiter-So kann es in vielen Bereichen der Wirtschaftspolitik nicht geben. Die immer raschere Ausbreitung digitaler Produktion und Konsumtion sowie der unvermeidliche Umstieg auf Produktions- und Konsumtionsweisen, die ökologisch nachhaltig sind, erfordern einen grundsätzlichen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft. Die in konservativ liberalen Kreisen vorherrschende Sichtweise, der Markt werde dies schon alles richten, ist im besten Fall naiv und im wahrscheinlichsten Fall gefährlich.

Industriepolitik notwendig

Keine dieser epochalen Herausforderungen kann vom Markt alleine ohne gravierende Friktionen bewältigt werden. Das liegt zum einen am öffentlichen Gut-Charakter der erforderlichen Veränderungen und zum zweiten an Wettbewerbsproblemen, die mit ihnen vielfach verbunden sind. Schließlich ist es für ein einzelnes Unternehmen kaum lohnend, ökologisch nachhaltig zu produzieren oder entsprechende Güter anzubieten, da diese in der Regel teurer sind, und man sich zumindest nicht in großem Stil darauf verlassen kann, dass die Kunden bereit sind, diesen höheren Preis zu zahlen. Die Digitalisierung wiederum bremst häufig den Wettbewerb aus, da Größenvorteile in starkem Ausmaß zum Tragen kommen. Dies führt zu einer „The winner takes it all“-Ökonomie.

Vor diesem Hintergrund ist eine Industriepolitik, in der die Wirtschaftspolitik den Veränderungsprozess treibt und gestaltet, unverzichtbar, will man auf Dauer die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Standorts erhalten. Die ordnungspolitische Zurückhaltung, die in Deutschland zumindest im politischen Diskurs gerne gepflegt wird, ist unter diesen Umständen ökonomisch schädlich. Dies hat man in den USA und China seit längeren erkannt und agiert entsprechend. Deutschland und die EU drohen daher bei der Entwicklung moderner tragfähiger Industrien zurückzufallen.

Bei alldem darf Industriepolitik nicht zu wörtlich verstanden werden. Es sollte keine Politik für eine industrielle Branche im herkömmlichen Sinn sein. Vielmehr sollte es eine fördernde und treibende Politik sein, die der Entwicklung und dem Aufbau industrieller Fertigungsweisen einschließlich der zugehörigen Dienstleistungen in strategisch ausgewählten Feldern dient.

Diese Politik dient nicht dazu, alte Strukturen um ihrer selbst willen zu bewahren. Sie erledigt auch keine Aufräumarbeiten, nachdem alte Strukturen sich nicht mehr am Markt behaupten konnten. Vielmehr verbindet moderne Industriepolitik zukunftsfähige Innovation mit zukunftssicherer Qualifikation der Beschäftigten.

Infrastruktur als Voraussetzung von Industriepolitik

Hierzu bedarf es einer leistungsfähigen Infrastruktur, die eine erfolgreiche Industriepolitik erst möglich macht. Weitere wesentliche Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Politik ist, dass sie strategisch angelegt ist, und dass sie Kräfte bündelt. Strategisch heißt, dass vorab definiert wird, in welchen Bereichen man in Zukunft stark sein will, also spürbare Wohlstandsgewinne erzeugt werden sollen. Auf diese Bereiche sollte dann die Förderung fokussiert werden, um auch einen nennenswerten Schub erzeugen zu können. Idealerweise vermag man dies in einen europäischen Kontext einzubetten. Das würde die Vorteile einer europäischen Arbeitsteilung und vor allem die Vorteile eines großen europäischen Binnenmarktes zum Tragen bringen. Dies erzeugt unmittelbare Augenhöhe mit US-amerikanischen und chinesischen Anstrengungen gleicher Art.

Drei Ziele sollte ein industriepolitischer Aufbruch anstreben:

Erstens: Es sollen zukunftsträchtige neue industrielle arbeitende Kerne entstehen, die die Basis für hochwertige Beschäftigungsverhältnisse, eine konsequent nachhaltige Produktion und eine dynamische Wohlstandsmehrung bilden.

Zweitens: Es gilt, die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft gegenüber globalen Krisen zu stärken.

Drittens: Es gilt, breite Bevölkerungsschichten am wirtschaftlichen Erfolg dieser Strategie zu beteiligen.

Das erste Ziel erfordert die strategische Ausrichtung einer modernen Industriepolitik. Zugleich sollte sie aber die Arbeitsmarktverhältnisse im Blick behalten. Es kann schließlich nicht darum gehen, mit Billigproduktion und Billigjobs Erfolg zu erzielen. Dieser würde ohnehin nur flüchtig sein, da in solchen Feldern die Konkurrenz aus Schwellenländern im Zweifel überlegen ist. Zudem dürfte es berechtigte Widerstände gegen die Verwendung von Steuergeldern zum Aufbau von prekären Beschäftigungsverhältnissen geben.

Das zweite Ziel ist eine Reaktion auf die umwälzenden Ereignisse der vergangenen Jahre. Es geht nicht nur um die aktuell bedeutsame wirtschaftliche Widerstandskraft gegenüber Pandemien. Schließlich hatte das Aufkeimen von wirtschaftlichem Nationalismus vor allem in den USA durch einen Präsidenten Trump gezeigt, dass das Zeitalter ungebremster Globalisierung vorbei ist. Außenwirtschaftliche Beziehungen werden als Machtspiele verstanden. Das muss Rückwirkungen auf die Konstruktion von Lieferketten haben. Ein besonderes Augenmerk sollte eine industriepolitische Förderung in dieser Hinsicht auf die Gesundheitsbranche legen.

Das dritte Ziel, die Beteiligung, ist eigentlich die ultima Ratio dieser Politik. Denn es kann nicht darum gehen den Wohlstand weniger Menschen zu steigern, sondern es geht um den Wohlstand vieler.

Die Industriepolitik in Deutschland sollte an den spezifischen Stärken der Wirtschaft in unserem Land anknüpfen. Diese liegen im Bereich Mobilität, Investitionsgüter, erneuerbare Energieerzeugung und industrielle Gesundheitswirtschaft einschließlich der Biotechnologie. In diesen Bereichen sollten die Fördermittel fokussiert werden. Ein industriepolitischer Aufbruch sollte dazu dienen, diese Stärken in eine digitale Zukunft mit nachhaltigen Technologien und Produktionsweisen zu übertragen. Hierfür sollten zum einen finanzielle Mittel zur Innovationsförderung zur Verfügung gestellt werden. Zum zweiten sollte der Staat als Pioniernachfrager auftreten, um aufkeimende neue Produktionen über anfängliche Rentabilitätsschwellen zu heben.

Eine aktive Industriepolitik bedarf des Wettbewerbs. Dies erfordert, dass sich eine Förderung in der Regel nicht auf ein Unternehmen, sondern auf einen Pool von Unternehmen erstrecken sollte. Der Wettbewerb zwischen ihnen erzeugt Innovationen, das Scheitern auf im Nachhinein falschen Wegen eingeschlossen. Um diesen Wettbewerbsdruck hoch zu halten, muss die Förderung zeitlich begrenzt sein, so dass die Unternehmen von vorne herein einkalkulieren, am Ende aus eigener Kraft im Wettbewerb bestehen zu müssen.

Industriepolitische Erfolge werden sich vor allem in der Breite nur einstellen, wenn die öffentliche Infrastruktur leistungsfähig ist und zur industriepolitischen Strategie passt. Voraussetzung dafür ist, dass eine hochmoderne digitale Infrastruktur auch in der Fläche besteht (z.B. 5G). Dort, wo strategisch sinnvolle Schwerpunkte neuer Industrien entstehen sollen, sollte man die lokale Ebene stärken, damit im Rahmen der festgelegten Strategie unter lokaler Beteiligung neue Unternehmen und neue Produktionen aufblühen können. Das ist Aufgabe einer industriepolitischen Regionalpolitik und Regionalförderung und nicht zuletzt ein Beitrag zur regionalen Integration. Nur so bestehen im ländlichen Raum Chancen insbesondere für kleinere und mittlere Unternehmen, am technologischen Aufbruch in eine nachhaltige Wirtschaft teilzuhaben. Es wäre zudem ein Beitrag zur Entlastung von Ballungszentren.

Teilhabe am Sagen und am Haben ist entscheidend

Sollen die Früchte dieser Politik nicht nur wenigen zu Gute kommen und vom Rest der Bevölkerung der Wandel nicht möglicherweise als soziale Bedrohung empfunden werden, bedarf es einer Arbeitsmarktverfassung, die den Beschäftigten erlaubt, die Veränderungen mitzugestalten, und durch an der Produktivität orientierten Löhnen einen fairen Anteil an den Erfolgen zu sichern.

Ohne ein solches Umfeld wäre der Erfolg industrieller Förderung langfristig auf tönernen Füßen gebaut. Nur wenn diese und weitere gesellschaftliche Bedingungen stimmen, kann ein neuer industrieller Aufbruch mittel- und langfristig erfolgreich sein und den Wohlstand der gesamten Gesellschaft mehren.

 

Gustav Horn